von Lars Niemann
Angela Merkel ist zum dritten Mal Bundeskanzlerin. Unzweifelhaft demokratisch legitimiert, denn niemand hat solche Zustimmungsraten und so viele Wählerstimmen erhalten. Es ist spekulativ, welchen Anteil sie persönlich am Wahlerfolg der Union im September hatte, aber er wird nicht gering gewesen sein. Die Begeisterung für das kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem war wohl eher nicht ausschlaggebend, denn die eigentlich marktradikale Partei hat ja eine klare Niederlage kassiert. Es muss also Gründe geben für das Vertrauen, das eine (zumindest relative, fast absolute) Mehrheit derjenigen, die zur Wahl gegangen sind, der bisherigen und zukünftigen Regierungschefin schenkte. Auch dafür, dass zum Beispiel der Autor dieses Textes, der sie nicht gewählt hat, damit ganz gut leben kann. Und diese Gründe haben vermutlich etwas mit einem „Zeitgeist“ zu tun, den man vielleicht ablehnen mag, der aber nichtsdestotrotz aus seiner bloßen Existenz heraus berechtigt ist und ernst genommen sein will.
Meine Tochter liest sehr viel, darunter häufig Bücher, in denen es um nichts Geringeres als die Rettung der Welt geht. Rettung ist auch bitter nötig, denn die Zukunft, in der viele der Geschichten spielen, ist voller Bedrohungen. Manchmal ist der Plot dieser sogenannten „Dystopien“ auch erst nach einem ganz natürlich erscheinenden Zusammenbruch unserer jetzigen Zivilisation angesiedelt. Der Autor ist jetzt Anfang 50; die meisten Leserinnen und Leser des Genres dürften jünger sein. Für sie ist es offenbar ganz selbstverständlich, dass von der Zukunft nichts Gutes zu erwarten ist.
Womit sie wohl leider Recht haben. Der Klimawandel und die daraus resultierenden, gegenwärtigen und künftigen Katastrophen, die demographische Entwicklung (wobei ich nicht so sehr die Überalterung der westlichen Gesellschaften, sondern eher die weiter wachsende Weltbevölkerung im Blick habe), die sich aus beiden Faktoren speisenden Armutswanderungen und eine zunehmende politische Instabilität lassen die Zukunft düster erscheinen. Es gibt zwar einen unbestreitbaren wissenschaftlichen und technischen Fortschritt, aber die Erfahrung der letzten Jahrzehnte hat gezeigt, dass sich dieser zwar in einem statistisch gesehen längeren, aber nach der Alltagserfahrung nicht unbedingt besseren Leben niederschlägt. Die enorme Entwicklung gerade der Informationstechnologien hat eher zur Arbeitsverdichtung und, aufgrund der ständigen Erreichbarkeit, zu einer ungesunden Verquickung von Arbeit und Privatleben geführt als dazu, die notwendige Arbeitszeit zu reduzieren und die Arbeit sinnvoller zu verteilen – was ja auch durchaus ein sinnvolles Ziel sein könnte. Neue Entwicklungen werden zumindest als janusköpfig, nämlich einerseits als neue Chance und andererseits als beängstigend, wahrgenommen. Nichts spricht dafür, dass das Leben der im überschaubaren Rahmen kommenden Generationen, also unserer Kinder und Enkel, stressfreier verlaufen wird als das unsere.
Da bleibt ja nur noch zu hoffen, dass wenigstens die materielle Sicherheit, in der die meisten Bürgerinnen und Bürger der westlichen Demokratien leben, über die eigene Lebenszeit und vielleicht, kühnster der denkbaren Wünsche, auch noch während des Lebens der eigenen Kinder erhalten bleibt. Den Niedergang und Zusammenbruch nicht selber erleben zu müssen, ist ein sehr menschlicher Wunsch. Ihn als egoistisch zu diffamieren oder auch nur in den Kontext der schon gegenwärtigen Lebenswirklichkeit von Menschen in anderen Weltteilen oder eines (kleinen) besonders armen Teils der hiesigen Bevölkerung zu setzen, wäre eine Anmaßung. Die scheinbar größte Chance für die Bewahrung des Status quo liegt in der Erhaltung der Systemstabilität. Und dafür hat Angela Merkel in den beiden zurückliegenden Legislaturperioden mit Erfolg einiges getan. Gerade auch im Vergleich zu vielen anderen Ländern der EU. Es ist ja verständlich, dass die Menschen in Deutschland die Krise nicht so erleiden wollen wie etwa die Südeuropäer. Ich glaube nicht, dass sie mehrheitlich nicht wissen, dass die deutsche Politik zur Entstehung und Verschärfung der Krise in den besonders betroffenen Ländern beigetragen hat. Sie wissen oder ahnen es, aber es ist ihnen entweder egal oder sie halten das eben für die naturgemäße Durchsetzung nationaler Interessen.
Schon aus den oben beschriebenen „Erwartungen“ oder eher Befürchtungen heraus misstraut eine Mehrheit der Menschen vermutlich nicht nur in Deutschland allen Versprechungen, dass „es“ irgendwie besser werden könne. (Darum hat auch die politische Linke derzeit ganz schlechte Karten.) Geglaubt wird eher der Absicht, die Probleme abzumildern, aufzuschieben, fernzuhalten. Dieses Bestreben vermittelt Angela Merkel nun recht gut und glaubhaft. Sie unterscheidet sich darin ziemlich klar von ihren Vorgängern. Über Jahrzehnte haben die Herrschenden oder diejenigen, die an die Spitze wollten, immer irgendwelche Verbesserungen versprochen. Adenauer und Ehrhardt das Wirtschaftswunder und die Demokratie. Brandt die Verständigung mit Osteuropa und den „Wandel durch Annäherung“. Ulbricht den Sozialismus (der ja per se eine Verbesserung „in allem“ bringen sollte), Honecker die Lösung der Wohnungsfrage und, zumindest in den 70er Jahren, die Hebung des Konsum-Niveaus. Außerdem haben zumindest Brandt und Honecker den Frieden ganz oben auf der Agenda gehabt. Der Letzte mit einer „großen Vision“ war Helmut Kohl, eigentlich sogar mit zweien: „Europa“ und den „blühenden Landschaften“. Kanzler Schröder wollte schon nicht mehr „alles anders“, sondern nur noch „vieles“ (oder hieß es „manches“?) besser machen. Angela Merkel verspricht eigentlich gar nichts, nur dass es eben irgendwie weiter geht und Probleme für den Augenblick gelöst werden. Am nächsten scheint ihr darin Helmut Schmidt zu sein: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“
Und Visionen, zumindest solche von irgendeinem Fortschritt, sind in der Gesellschaft gegenwärtig gar nicht angesagt. Dies scheint eine grundsätzliche Veränderung zu sein, genährt von kollektiven Erfahrungen. Dafür Pragmatismus, heutzutage eine Kardinaltugend, im Arbeitsleben wie im Privaten. Und auch hier entspricht Angela Merkels Politik dem Zeitgeist. Das pragmatische „Durchwursteln“ ist ja etwas, was nahezu alle Menschen in ihrem Privatleben und auf der Arbeit praktizieren (müssen), und daher ist es menschlich und nahe.
Wer hat nochmal gesagt, dass jedes Volk die Regierung hätte, die es verdient?
Der Autor ist Toxikologe und lebt in Berlin.
Schlagwörter: Angela Merkel, Demokratie, Lars Niemann, Visionen