von Günter Hayn
Tolerieren sei langweilig, erklärte Gregor Gysi mitten im Sommerloch den Interviewern des ZDF: „Ich will es richtig.“ Damit reklamierte er eine Regierungsbeteiligung der Linken im Herbst. Sofort fühlten sich führende Genossen des Bundesvorstandes der Partei bemüßigt mitzuteilen, man werde baldigst einen Vorstandsbeschluss herbeiführen, der eine Tolerierung von Rot-Grün verunmöglichen solle. Bernd Riexinger, neben Katja Kipping Parteivorsitzender, stellte dann auch flugs gegenüber dpa fest, dass Grüne und SPD die Frage beantworten müssten, „wie sie ein linkes Wahlprogramm ohne die Linke umsetzen wollen. Das ist schlichtweg unmöglich.“ Dies rief nun wieder die graue Eminenz der Berliner Linken, Ex-Senator Harald Wolf – offiziell ist er derzeit lediglich schlichtes Mitglied des Abgeordnetenhauses – auf den Plan und auf die Seiten von CiceroOnline. Wolf interpretierte Riexingers Aussage messerscharf als „Forderung, die prinzipiell einem Koalitionsangebot gleichkommt“. Logisch. Erstaunlich ist nur, dass ausgerechnet Harald Wolf, immerhin neun Jahre Senator und Bürgermeister von Berlin, gegen solche Positionen zu Felde zieht.
Harald Wolf zählt inhaltliche Gründe auf, die eine Regierungsbeteiligung im Bund unter den aktuellen politischen Positionen der potenziellen Partner unmöglich machten: die Euro-Frage und der neoliberale Kurs der Troika, die gegenüber CDU und FDP bellizistischeren Positionen von SPD und Grünen sowie das grundsätzliche Festhalten an den Hartz IV-Regelungen. Er hat Recht. Weiteres ließe sich mühelos finden. Und die logische Folge einer dermaßen widerspruchsvollen Veranstaltung wäre, so Wolf, entweder die „Aufgabe wesentlicher Positionen der Linken oder [ein] Scheitern des Regierungswechsels.“ Man muss ihm da zustimmen. Er spricht aus Erfahrung. Das seinerzeitige Scheitern des Walter-Momper-Senates, Wolf gehörte zu den Architekten der Koalition von SPD und Alternativer Liste Westberlins, war solchen Unverträglichkeiten geschuldet: Den letzten Anstoß zum Bruch gab die brachiale Räumung der besetzten Häuser in der Mainzer Straße im Friedrichshain am 14. November 1990. Die Aufgabe von zumindest von ihrer Wählerschaft als wesentlich empfundenen Positionen hat die Linke in Berlin über die Hälfte der Wählerinnen und Wähler des Jahres 2001 gekostet. Bis heute ist es ihr nicht gelungen, diesen Erosionsprozess zu stoppen oder gar umzukehren.
In der Tolerierungsfrage ist sich der Cicero-Autor mit seinen Parteikollegen offenbar nicht einig. Er schlägt genau dieses vor, allerdings eine „Tolerierung light“, ohne Risiko für die Linke. Mit Tolerierungen nämlich hat die Partei recht unschöne Erfahrungen sammeln müssen. In Sachsen-Anhalt tolerierte die PDS von 1994 bis 2002 ein sozialdemokratisches Minderheitskabinett. In der Mitgliederzeitschrift Disput bewertete die damalige Landesvorsitzende Rosemarie Hein dies im Januar 2002 als Erfolg: „Sie [also die PDS – G.H.] konnte ihr Profil schärfen und realistischere Alternativkonzepte entwickeln, die mehr gesellschaftliche Beachtung erlangten.“ Die Partei sorgte dafür, dass die SPD mit Reinhard Höppner ab 1994 zweimal in Folge den Ministerpräsidenten stellen konnte. 2002 entschieden sich die Sozialdemokraten dafür, lieber das Bündnis mit der CDU einzugehen, als weiterhin die Dunkelroten in Permanenz im Nebenzimmer des Kabinettssaales sitzen zu haben. Deren Koalitionsträumen erteilte man 2011 eine endgültige Absage.
Ein anderes Modell wurde von Hannelore Kraft (SPD) 2010 in Nordrhein-Westfalen gewählt. Auch Krafts Bündnis mit den Grünen hatte keine eigene Mehrheit. Ein formelles Tolerierungsabkommen mit der Linken kam auf Druck der SPD-Zentrale nicht zustande. Kraft versuchte es mit „wechselnden Mehrheiten“. Die Abschaffung der Studiengebühren konnte so mit Hilfe der Linken im Februar 2011 durchgesetzt werden. Deren Fraktion verbog sich so weit, dass sie sich 2011 bei der Haushaltsabstimmung der Stimme enthielt – und so ein Weiterbestehen des Kabinetts Kraft ermöglichte. Das scheiterte allerdings im Folgejahr an der Weigerung der FDP, eine solche Enthaltung zu wiederholen. Bei den nachfolgenden Wahlen am 13. Mai 2012 verlor die Linke 3,1 Prozent ihrer Stimmen und flog in hohem Bogen aus dem Landtag. Man wählte lieber das Original, wie Gregor Gysi in den neunziger Jahren gerne in Richtung SPD ätzte. Die Auguren im Linken-Bundesvorstand schoben die Schuld für das Debakel im einwohnermäßig größten Bundesland den verbalradikalen Maulhelden des NRW-Landesverbandes in die Schuhe. Die gab und gibt es dort zweifellos – dennoch praktizierte die Fraktion eine Form von „Realpolitik“, die man eher in einem ostdeutschen Landesverband vermutet hätte.
Und dieses Modell schlägt nun Harald Wolf für die kommende Wahlperiode im Bundestag vor: die Duldung einer rot-grünen Minderheit mittels einer „Politik der wechselnden Mehrheiten“. Allerdings sieht er selbst das Problem der eben schon zitierten Haushaltsfrage. Natürlich müsse die Opposition einen Regierungs-Etat ablehnen: „Der Haushalt ist das in Zahlen gegossene Regierungsprogramm“, so Harald Wolf. Er spricht eine Binsenweisheit aus und versucht sich aus der Schlinge zu ziehen, indem er das Ganze als „eine taktische Frage, die jeweils anhand der konkreten Situation entschieden werden muss“, bezeichnet – das klingt sehr nach Lenin. Ganz so schlimm meint er es nun doch nicht. Wolf will die potenzielle Minderheitsregierung immer wieder mit den „Erwartungen und Hoffnungen von großen Teilen der rot-grünen Wählerschaft“ konfrontieren, um so als „Garant und entschiedenster und konsequentester Vertreter eines wirklichen Politikwechsels“ dazustehen. Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!
Das ist schlau. Aber warum sollte sich die SPD darauf einlassen? Zumal der Senator a.D. vollkommen ignoriert, dass er in seinen Eingangsthesen SPD und Grünen in Grundsatzfragen einen Unwillen zum „Politikwechsel“ attestierte und sich beinahe zu einem Lob der CDU hinreißen ließ.
Sein Cicero-Artikel zeigte dennoch Wirkung: Am 8. August ruderten die Parteistrategen im Karl-Liebknecht-Haus zurück. „Parteikreise bestätigten der dpa“, so das Neue Deutschland tags darauf, dass man eine Tolerierung „doch nicht per Vorstandsbeschluss ausschließen“ wolle. Vereinbart wurde dies auf einer Telefonkonferenz von Parteiführung und Landesvorständen. Eine Kungelrunde also. Mit demokratischer Meinungsbildung hat das alles nichts zu tun. Mit Respekt vor demokratisch gewählten Gremien auch nicht. Hier hatten einige Haupthähne einander die Werkzeuge gezeigt und stellten Waffengleichheit und einen ungünstigen Zeitpunkt fest. Mehr nicht. Dass diese Artus-Runde langsam aber sicher zum Anachronismus verkommt, fiel ihr selbst noch nicht auf. Christoph Hein hat über so etwas ein vortreffliches Stück geschrieben: „Ritter der Tafelrunde“.
Die Linken-Führung wäre gut beraten, sich ab sofort auf den Wahlkampf und nur auf den Wahlkampf zu konzentrieren und dem zunehmend an ihr zweifelnden Wahlvolk plausibel zu erklären, dass sie trotz absolut nichts sagender Plakate á la „Revolution – nein danke! Wir wollen 2,50 Euro Mindestlohn mehr als die anderen…“ einen sehr grundsätzlichen Politikwechsel will.
„Politische Entscheidungen müssen wieder aus den Hinterzimmern der Koalitionsausschüsse und Kungelrunden ins Parlament verlagert werden“, sagt Harald Wolf. Dem ist zuzustimmen. Nur sein Vorschlag taugt dazu nicht. Auch eine Politik „wechselnder Mehrheiten“ bedarf ständiger Abstimmungen. Das geschieht in Hinterzimmern. Wolf sollte sich darüber mit seinem Magdeburger Parteikollegen Wulf Gallert unterhalten. Der „organisierte“ von 1994 bis 2002 das „Magdeburger Modell“ mit seinem Parlamentskollegen Jens Bullerjahn (SPD) – natürlich nicht im Magdeburger „Rathaus-Cafe“… Der Unterschied zwischen beiden: Bullerjahn ist inzwischen Stellvertreter eines CDU-Ministerpräsidenten, und Gallert sitzt in der Ecke und grollt.
Ansonsten sollten sich gerade linke Politiker hüten, das Fell des Bären zu zerlegen, solange der noch durch den Wald stapft. Infratest dimap stellte am 9. August erstmals wieder eine eigene schwarz-gelbe Mehrheit fest. Die Tendenz, dass die FDP die 5-Prozent-Hürde nicht reißen wird, verstärkt sich. Und die PDS flog schon einmal (fast) aus dem Bundestag, als sie sich zu sicher in der Rolle einer Königsmacherin wähnte. 2002 blieb sie bundespolitisch nur dank zweier Direktmandate überhaupt noch sichtbar. Mit sieben Prozent Umfragewerten sollte man für die eigene Unverwechselbarkeit und nicht die mögliche Inthronisierung eines Dritten kämpfen.
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