16. Jahrgang | Nummer 16 | 5. August 2013

„Erst mit den Niederlagen stimmt die Biografie“

von Ulrich Kaufmann

Unter dem Titel „Nicht ohne Utopie“ ist aus Anlass des 87.Geburtstages von Herrmann Kant, am 14. Juni 2013, im Bonner Bouvier-Verlag eine analytische Biografie erschienen. Geschrieben hat sie die ehemalige Dozentin Linde Salber, die durch Lebensdarstellungen über Frida Kahlo, Salvador Dali und Marlene Dietrich hervortrat. Wie ihr „Held“ hat auch die Biografin einen Teil ihrer Jugend in Mecklenburg verbracht. Mit ihrer Familie zog sie 1951 in Kants Geburtsstadt Hamburg. Wichtiger als diese lokalen Affinitäten und Zufälligkeiten dürfte die Frage sein, was eine Kölner Psychologin veranlasst haben könnte, jahrelang über einen ostdeutschen Erzähler nachzudenken. Über Kant wusste sie bis 2008 faktisch nichts, sieht man von Verdikten des Spiegels aus dem Jahre 1992 ab, nach denen Kant ein „Kettenhund der Stasi“ und „stalinistischer Büttel des Schriftstellerverbandes“ gewesen sei.
Wiederum spielte der Zufall eine Rolle: In einem Sanatorium im östlichen Teil Deutschlands stieß Salber auf Kants Roman „Der Aufenthalt“ (1977), seinen mit Abstand besten. „Die Sprache dieses Romans erreichte sie (die Biografin – U.K.) im richtigen Augenblick. Festigkeit und sprühendes Umspielen von Hartem, manchmal über Felsbrocken springendes, stürzendes Wildwasser. Gerade das konnte sie brauchen in einer Situation, da sie selbst dem Versteinern nahe war.“ Die Diskrepanz zwischen dem glänzenden Erzähler und den vielfältigen Verstrickungen Kants in die Kultur und Politik der DDR hat Linde Salber nicht mehr losgelassen. Sie las den ganzen Kant, folgte reisend seinen Lebensspuren, auch denen im Nachbarland Polen, durchstöberte viele Archive und studierte den Vorlass, der bereits im großen Marbacher Archiv liegt. Und sie interviewte Familienangehörige wie den Schriftstellerbruder Uwe sowie Marion Kant, die dritte Ehefrau des Autors. Als aufschlussreich erwiesen sich Gespräche mit Kants Freund, dem Erzähler Wolfgang Kohlhaase sowie den indessen verstorbenen Literaturwissenschaftlern Silvia und Dieter Schlenstedt, die den Autor seit den frühen fünfziger Jahren genauestens kannten.
Entstanden ist ein 632 Seiten umfassendes, farblich an einen Ziegelstein erinnerndes Werk, das Herrmann Kant ästhetisch, psychologisch und politisch gerecht wird. Stilistisch ist das Buch jedoch sehr disparat. Neben Partien von fast erzählerischer Qualität stehen psychologisch aufschlussreiche Passagen, aber auch quälende Zitatmontagen.
Verdienstvoll ist es, dass Salber etwa auch die späten Romane „Kormoran“, „Okarina“ und „Kino“ betrachtet, die im deutschen Feuilleton meist einseitig oder gar nicht wahrgenommen wurden. Im Politischen zeigt die Biografin keinerlei Scheu, sie packt alle heißen Eisen an: So studierte sie die Stasiakten, stieß auf Verwicklungen und Unterstellungen, konnte auf Grund der Quellenlage indessen zu keinem abschließenden Urteil gelangen. Auch Kants Verhalten nach der Biermann-Ausbürgerung wird thematisiert. Hier teilte Kant die Protesthaltung seines Urfreundes Stephan Hermlin nicht, der 1976 die berühmte Petition veranlasste, welche die größte kulturpolitische Krise der DDR zur Folge hatte. Salber erinnert aber auch daran, dass Kants Bemerkung, ihn hätte „man nicht vor Biermann schützen müssen“, bei der Obrigkeit seinerzeit für beträchtlichen Ärger gesorgt hatte.
Für Kant, der seit 1974 Mitglied der Berliner SED-Bezirksleitung und vier Jahr später Präsident des Schriftstellerverbandes wurde, waren die Ausschlüsse von neun politisch unliebsam gewordenen Dichterkollegen aus dem Verband ein Ereignis, das seinem Image fortan erheblich geschadet hat. In der Rückschau räumt er seine gravierenden Fehler aus dem Jahre 1979 bei den Debatten im Berliner Roten Rathaus ein. „Ich mach meinen Anteil nicht klein. Wenn ich gesagt hätte, bei diesem Ausschluß mache ich nicht mit, wäre er nicht passiert. Da gibt es keine Beschönigung.“ Dieses politische Fehlverhalten geschah in einer für Kant persönlich fatalen Situation. Konrad Naumann, SED-Chef in Berlin, hatte sowohl in der Biermann- Krise als auch bei den erwähnten Ereignissen von 1979 im Hintergrund die Strippen gezogen. Zugleich hat Naumann Kants Ehe mit der Schauspielerin Vera Oelschlegel zerstört.
In den kräftigen Lobgesang auf Salbers Buch, welchen Irmtraud Gutschke im „Neuen Deutschland“ vom 25. Juni 2013 anstimmte, kann der Rezensent, wenn überhaupt, nur leise einstimmen. Eine materialreiche Darstellung garantiert noch kein gutes Buch. Von zwei Fotos (am Anfang und Ende der Biografie) sowie einer freilich köstlichen Selbstkarikatur Kants abgesehen, gibt es keinerlei Abbildungen. So ist eine Bleiwüste entstanden, die mitunter aus ellenlangen Zitaten besteht. Beispielsweise ist Kants einzige Rede im Zentralkomitee der SED vom Herbst 1989 nachzulesen. Hätte man im Interesse der Lesbarkeit nicht längere Texte in einem Materialhang präsentieren können?
Für die meisten Kant-Romane und Erzählungen bietet die Verfasserin keine Lesart an, stattdessen serviert sie wiederum lange Zitate aus Rezensionen. Wenn man einen Autor wie seine Hosentasche kennt, ist man noch kein Spezialist für DDR-Literatur. Salber sieht vieles zu sehr durch die Kant’sche Brille und kommt so mitunter zu fragwürdigen Positionen, wenn es beispielsweise um andere Autoren geht, etwa um Christa und Gerhard Wolf.
Über allem steht die Frage nach dem potentiellen Adressaten für dieses dringend notwendige Buch. Eine Kölnerin „erklärt“ den Lesern in den alten (?) Bundesländern mit großem Einfühlungsvermögen und ohne Vorurteile einen wichtigen, in West und Ost umstrittenen Autor und zugleich das Land, das Kant bis zum Debakel verteidigt hat. Schafft man mit so einem opulenten Werk tatsächlich Zugänge zum Früh- und Spätwerk Herrmann Kants? Muss man, um ein Beispiel zu geben, einen mündigen Leser heute über die Rolle Polens im Zweiten Weltkrieg belehren, um Kant’sche Texte zu verstehen?
Trotz aller Bedenken und Fragen ist Linde Salber jedoch ein Buch gelungen, dessen Lektüre sich unbedingt lohnt: Wem ist schon bekannt, dass Anna Seghers dem Kriegsgefangenen Herrmann Kant, ihrem späteren Nachfolger an der Spitze des Schriftstellerverbandes, bereits im Warschauer Antifa-Lager begegnet ist, dass der Germanistikstudent Kant seine Diplomarbeit über Plieviers Stalingrad-Roman schrieb, dass Herrmann Kant auch Autor wunderbarer Liebesbriefe ist? Dies und vieles mehr erfahren wir in Linde Salbers gerechtem Kant-Buch, einem Wagnis, zu dem noch kein Wissenschaftler aus dem Osten den Mut aufbrachte!
Ein Vorzug der neuen Kant-Biografie ist, dass Linda Salber die Phantasie ihrer Leser anregt, indem sie gelegentlich zu einem Gedankenspaziergang einlädt. Was wäre, fragt sie, aus Hermann Kant ohne den Zweiten Weltkrieg geworden? Möglicherweise hätte er als begabter Elektromeister das Ingenieurbüro seines Parchimer Mentors Eugen Günther übernommen. Vielleicht hätte er auf der „Hochzeitsglitsche“ im Mecklenburgischen seine Wahl getroffen und wäre, ergänzt der Rezensent, nach der „Wende“ als anerkannter Parchimer Handwerker in den Ruhestand getreten.
Übergeben wir Wolfgang Kohlhaase, der das Drehbuch zur Verfilmung von Kants „Aufenthalt“ schrieb, das letzte Wort. Es dient als Motto am Beginn der Biografie über seinen Schriftstellerkollegen. „Und könnte die Dialektik auf unsere Arbeit bezogen neben aller Denkmethode nicht auch ein Gefühl sein für das Recht jedes Menschen auf seine eigene widerspruchsvolle Wahrheit?“

Linde Salber: Herrmann Kant. Nicht ohne Utopie. Biographie, Bouvier Verlag, Bonn 2013, 632 Seiten, 29,99 Euro.