16. Jahrgang | Nummer 13 | 24. Juni 2013

Madame Luzifers Wagnis der Freiheit

von Wolfgang Brauer

„Die Schillern lässt Dir sagen, sowie die Schlegeln zum Haus heraus ist, sollst Du alle Türen und Fenster öffnen und dann zwei Pfund Räucherpulver verschießen, damit die Luft von der früheren Bewohnerin bis zu deren letzten Hauch gereinigt werde.“ Diesen Ratschlag gab eine junge Frau namens Rosina Eleanore Döderlein an ihren Verlobten, den Theologen Friedrich Immanuel Niethammer (1766 – 1848) weiter, der als Schulpolitiker in Bayern zu einer gewissen Berühmtheit gelangte. „Die Schillern“ ist Charlotte von Schiller, sicherlich die bekannteste und einflussreichste der Weimarer Giftspritzen, die allen, die sich nicht ihrem biederen Maße unterordneten, das Leben zur Hölle machten. Vor allem aber allen, die es sich unterstanden, Schiller nicht gebührend anzuhimmeln, ihm gar zu widersprechen – oder schlimmstenfalls der Schillern irgendwie in die Quere zu kommen. Die „öffentliche Meinung“ der besseren Gesellschaft (oder was sich dafür hielt) jener thüringischen Residenz, muss von diesen Megären unangefochten beherrscht gewesen sein. Selbst ein Johann Wolfgang von Goethe wagte es erst in den Wirren der Besetzung der Stadt durch die Truppen Napoleons im Oktober 1806 seine Christiane zu heiraten. Die gesellschaftliche Ächtung Christianes war damit nicht zu Ende.
Über „die Schlegeln“ erschien jetzt bei C.H.Beck eine Biographie von Sabine Appel, die den wunderbaren Untertitel „Das Wagnis der Freiheit“ trägt. Es geht um Caroline Schelling, die am 2. September 1763 in Göttingen – im selben Jahr wie Jean Paul – als Tochter des Orientalisten Johann David Michaelis geboren wurde. Sie war vier Jahre bis zu dessen Tod 1788 mit dem Clausthaler Amts- und Bergarzt Johann Franz Wilhelm Böhmer verheiratet. 1796 heiratete sie August Wilhelm Schlegel, die Ehe wurde mit Hilfe Goethes 1803 geschieden – Caroline heiratete vier Wochen später den Philosophen Friedrich Wilhelm Schelling. Das alles hätte schon ausgereicht, um ihr in einer hehrste Ideale beschwörenden, im Alltagsleben aber in tiefster Bigotterie verhaftet gebliebenen Gesellschaft den Ruf eines liederlichen Frauenzimmers zu verpassen. Ein gewisser Heinrich Eberhard Paulus (1761 – 1851) sprach von den „bösen Einflüssen“, die von der „Dame Luzifer“, also Caroline, ausgingen.
Paulus war Theologe, wurde so etwas wie das Haupt des deutschen Rationalismus und lehrte in Jena. In Jena lehrte ab 1794 auch der erwähnte Niethammer. 1794 bis 1799 hatte Fichte hier eine Professur inne. 1796 kamen die Schlegels in die Stadt: Das sind neben Caroline und August Wilhelm auch Friedrich Schlegel und dessen Gefährtin Dorothea Veit. Letztere, die Tochter Moses Mendelssohns – die sicher zahlreiche Gaben des Vaters in sich trug, nur nicht dessen Toleranz – war ihrem Ehemann, dem Berliner Bankier Veit, durchgebrannt. Sie sollte im Laufe der Zeit zur erbitterten Feindin Carolines werden, trieb Friedrich Schlegel 1808 in die Arme des Katholizismus und hatte mit ihrer Proselytenmacherei einen gehörigen Anteil daran, dass Heinrich Heines publizistische Faust mit erheblichen Langzeitwirkungen auf die Schädel der „Romantischen Schule“ nieder krachte. 1797 stieß Friedrich von Hardenberg („Novalis“) in diesen Kreis. 1798 taucht der 23jährige Friedrich Wilhelm Schelling in Jena auf, um eine mit Goethes Unterstützung erhaltene außerordentliche Professur anzutreten. Mit Friedrich Schleiermacher, Ludwig Tieck und Clemens Brentano war der Kreis komplett, der als „Jenaer Frühromantik“ in die deutsche Kulturgeschichte eingehen sollte.
Während die Herrschaften ihre ästhetischen und philosophischen Systeme entwickelten, wurden sie von Caroline Schlegel bekocht. Sie sorgte überhaupt dafür, dass die eine Zeitlang in der Leutragasse 5 als Wohngemeinschaft etablierte Gruppierung in ihrer durchaus auf erheblichen Gegensätzlichkeiten basierenden Einheit überhaupt funktionieren konnte. Sabine Appel schildert dies auf sachkundige, auch dem nicht eingeweihten Leser uneingeschränkten Lektüregenuss bereitende Weise.
In den Jenenser Entwicklungen liegen wohl auch die Ursachen für den Bruch mit Schiller. Man lebte gleichsam Wand an Wand – Schillers zogen erst im Dezember 1799 nach Weimar –, da musste es sich herumsprechen, wie man sich im Hause Schlegel mit Schillerscher Poesie befasste: „Aber über ein Gedicht von Schiller, das Lied von der Glocke, sind wir gestern Mittag fast von den Stühlen gefallen vor Lachen.“ Das schrieb Caroline im Oktober 1799 an die Tochter Auguste. Und wenn das Gelächter aus dem Schlegelschen Romantiker-Salon nicht bis zu den Schillers durchdrang, der Umgang der Schlegels mit Friedrich Schillers „wirklich unsäglicher Produktion“ (Appel) „Würde der Frauen“ dürfte dem empfindlichen Autoren zu Ohren gekommen sein: „ Ehret die Frauen! Sie stricken die Strümpfe/Wohlig und warm, zu durchwaten die Sümpfe…“ machte August Wilhelm aus „Ehret die Frauen! Sie flechten und weben/Himmlische Rosen ins irdische Leben“. Carolines Anteil an dieser Parodie ist ebenso unbekannt wie an den Schlegelschen Shakespeare-Übertragungen. Letzteres ist mit ziemlicher Gewissheit anzunehmen. Und die Schiller-Parodie des Gatten entsprach zumindest ihrem Denken.
Und da sind wir beim Dreh- und Angelpunkt dieser Biographie. Sabine Appel beschreibt die Lebensgeschichte einer Frau, die in dem schmalen Zeitfenster freiheitlichen Denkens im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts beherzt den Fuß über die von Männern postulierte Schwelle gesellschaftlicher Werte setzte. Wenn schon die Jungfer Michaelis sich fürchterlich darüber aufregte, dass die sich so aufklärerisch gebende Göttinger Gelehrtenwelt „ein Frauenzimmer nur nach dem, was sie als Frauenzimmer ist“, schätze – so wird dieses Ringen um selbstbestimmtes Leben und Denken der rote Faden, der sich durch diese Biographie zieht. Selbstverständlich und ungefährlich war das auch in revolutionären Zeiten nicht. Das Leben Olympe des Gouges’, der Autorin der „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“ (1791), endete 1793 auf der Guillotine. Das hatte nicht nur mit der erklärten politischen Gegnerschaft Gouges zu den Jakobinern zu tun – die Männer um Maximilien de Robespierre duldeten mitnichten, dass ihnen ausgerechnet eine Frau politisch in die Quere kam und auch noch verkündete, dass Menschen- und Bürgerrechte in gleichem Maße für Frauen wie Männer gelten würden. Das entsprach auch dem Denken der deutschen Dunkelmänner, die Caroline ihr Lebtag lang versuchten eben dieses Leben zur Hölle zu machen. Den bösen Anteil der duckmäuserischen Gattinnen – Charlotte Schiller war nur die Spitze des Eisberges – arbeitet Appel anhand der Quellen, vorzüglich der Briefe Carolines heraus. Diese wunderbaren Briefe machte Sigrid Damm schon zur Grundlage eines „Lebensbildes in Briefen“.
Dass die Witwe Caroline Böhmer 1792 nach Mainz und dort in den Umkreis der Mainzer Jakobiner geriet, war sicher biographischen Zufällen geschuldet, scheint aber in diesen Zusammenhängen von innerer Konsequenz. In Mainz trifft sie die Jugendfreundin Therese Heyne, jetzt mit Georg Forster verheiratet; sie nimmt die aus Göttingen geflüchtete Meta Forkel bei sich auf. Damit sind drei der fünf Göttingischen „Universitätsmamsellen“, wie diese aufmüpfigen jungen Frauen seinerzeit genannt wurden, beisammen und erleben den Versuch einer ersten deutschen Republik unter dem Freiheitsbaum. Caroline und Meta landen nach der Kapitulation von Mainz auf einer preußischen Festung. Therese hatte Forster (und Mainz) schon vorher verlassen. Und egal ob Caroline fortan Böhmer, Schlegel oder Schelling hieß – den Ruf, eine Jakobinerin zu sein, wurde sie nicht los („Auch ist ihre Lebensgeschichte ziemlich im Umlaufe“, zitiert die Autorin einen Brief der Henriette von Hoven aus dem Jahre 1803). Ganz falsch ist das sicherlich nicht, „denn wahrlich um keinen von den Regenten ist es Schade, die jetzt zu Grund gehen, dergleichen bekommt jedes Land leicht wieder“, schrieb sie nach Jena und Auerstedt an die Schwester Luise in Braunschweig. Das klinge fast wie Goethe, meint Sabine Appel. Goethe hielt Zeit ihres Lebens zu Caroline. Im Kurfürstentum Hannover hatte die übrigens wegen des Mainzer Abenteuers bis zu dessen Auflösung durch Napoleon Aufenthaltsverbot.
Sabine Appel hat ein Buch auch über die Freiheit geschrieben: „Vielleicht sehen wir am Beispiel von Caroline aber die Freiheit als Kunst, sich selbst treu zu bleiben. Freiheit in Harmonie mit der Notwendigkeit. Freiheit ist kein Absolutum, so wenig wie in Schellings Philosophie.“ Caroline Böhmer-Schlegel-Schelling wurde vor 250 Jahren geboren. Sie ist sehr heutig.

Sabine Appel: Caroline Schlegel-Schelling. Das Wagnis der Freiheit, C.H.Beck, München 2013, 287 Seiten, 19,95 Euro.