von Sem Pflaumenfeld, Tokyo
Reiseführer beginnen gern mit blumigen Erklärungen, dass ein Ort voller Gegensätze wäre. Japan drängt sich geradezu für solche Vergleiche auf, da Tradition und Moderne scheinbar unbeeindruckt nebeneinander existieren. Dass die so genannte Moderne ebenso Traditionen hat und selbst eine ist, wird dabei der Einfachheit halber ignoriert. Es geht in Reisebeschreibungen nun allerdings selten um wissenschaftliche Analysen in ihren historischen Kontexten.
Im japanischen Fall bietet sich die Gegenüberstellung Tokyo-Kyoto an, da die beiden Hauptstädte das Neue und das Alte geradezu symbolisieren. Dabei müssten wir gar nicht so weit fahren.
Tokyo selbst ist zwar nicht so alt, aber von dem Fischerdorf von vor dreihundert Jahren ist mehr übrig geblieben, als gern angenommen wird. Auch die Edo-Periode (1603 bis 1868, benannt nach dem Herrscher-Sitz der Tokugawa-Shogune; Edo wurde, nach dem Umzug des Kaisers dorthin, in Tokyo umbenannt – Anm. d. Red.) ist in der Hauptstadt sehr wohl noch enthalten. Doch selbst wenn wir annähmen, dass Tokyo der Inbegriff der japanischen Moderne ist, müssten wir die Kantôregion nicht verlassen, um so genannte japanische Traditionen zu finden. Zum einen haben wir im Südosten die Stadt Kamakura, die bereits vor achthundert Jahren ein Shogunatssitz war. Doch wir können uns auch etwa zwei Stunden nach Südwesten begeben und nach „Klein-Edo“ fahren. Kawagoe in der Präfektur Saitama lässt sich auch noch heute so nennen, da sich schon um 1700 hier die Speicher auf dem Weg zum Sitz der Tokugawa-Shogune befanden. Wegen der Bereitstellung von Nahrung wurde Kawagoe zu jener Zeit auch „Mutter von Edo“ genannt. Es ist am Wochenende ein beliebtes Ausflugsziel für hauptstädtische Familien und Paare.
Die Stadt ist heute von ihren Bahnhöfen aus, die zu größten Teil die Enden von Strecken aus Tokyo markieren, von keiner anderen Großstadt auf den Inseln zu unterscheiden. Restaurants und Hochhäuser wechseln sich im japanischen Alltag ab. Doch etwa ein Kilometer in die Stadt hinein liegen die „Speicherstadt“ und die Einkaufsstraßen der Taishô-Zeit. Auf nicht mehr als vielleicht einem Quadratkilometer reihen sich die großen Häuser aus getünchtem Lehm und schwarzen Schindeln (im kurazukuri-„Speicherbau“- Stil) und bieten den Gästen aus der Hauptstadt alles, was das touristische Herz begehrt.
Auf dem Weg zur „Glocke der Zeit“ in einem Holzturm, der zur Überwachung gegen Feuer im 17. Jahrhundert am Eingang eines Schreines errichtet wurde, schlendert die Reisende an den Auslagen, Cafés und Läden aus vergangener Zeit vorbei. Dass dies nur gefühlt so ist, liegt an mehreren historischen Begebenheiten: So brannte im Jahre 1893 die Innenstadt bei einem Großfeuer aus. Kawagoe, das sich rühmt das 17. mit dem 20. Jahrhundert zu verbinden, ist in seiner Substanz kaum mehr als hundert Jahre alt.
Eine weitere Attraktion sind die zweistöckigen Läden aus der Taishô-Zeit (1912-1925). Und in diesen verbindet die Stadt die japanische Moderne mit Traditionen, denn die Zeit um das Große Kantôerdbeben von 1923 gilt auch heute noch als der Aufbruch in Japans erste Demokratie. Dass dieser auf Expansionismus auf dem asiatischen Kontinent ursächlich basierte und in die zunehmende Militarisierung des Alltags führte, ist eine bittere Lektion der Geschichte, gesellschaftliche Errungenschaften nicht isoliert zu betrachten. Dass auch nicht alle Menschen gleichermaßen an ihnen teilhatten, ist dabei ebenso wahr. In der Verfassungsgeschichte gilt 1925 als ein Meilenstein, als das allgemeine Wahlrecht für Männer über 25 Jahre eingeführt wurde.
Territoriale Zugeständnisse nach dem ersten Weltkrieg durch den Versailler Vertrag führten in Japan zur Entwicklung eines wohlhabenden Mittelstandes. Und wer einmal ganze Straßenzüge aus jener Zeit erhalten gesehen hat, die das Erdbeben und die Bombardierungen im zweiten Weltkrieg überlebt haben, kann sich des Zaubers von Lichtspielhäusern, Kaufhäusern, elektrischem Licht, Bussen, kurz der Moderne der 1920er Jahre, auch in Japan nicht entziehen.
Doch berühmter ist Kawagoe jedoch für seine Bezüge zum Feudalstaat der Edo-Zeit. Seitdem ist die Stadt auch bekannt für ihre Süßwaren, die heute noch in kleinen Gassen hinter den großen Speichern genossen werden können. Besonders zu empfehlen sind alle Arten der lokalen Süßkartoffel. Überhaupt wird Essen als etwas Zeitloses angesehen: Wer einmal glauben möchte, wie im 17. Jahrhundert essen zu können, ist in dieser Stadt genau richtig. Ungeachtet, dass kaum Rezeptbücher erhalten sind und die Zutaten sich womöglich über die Jahrhunderte nicht nur im Geschmack geändert haben dürften, werden mit dem Gaumen Zeit und Raum überschritten. Eine gewisse Ahistorizität ist jedoch im Tourismus charmant, denn auf diese Weise werden ohne große Mühen Traditionen in das 21. Jahrhundert geholt und für ewig wahr erklärt.
Eine von diesen ewigen Wahrheiten ist auch das öffentliche Bad. Als ich bei einem Essen erzählte, dass ich nach zwei Monaten endlich ein öffentliches Bad gesucht und gefunden hatte, wurde ich gefragt, ob ich keine Problem mit Nacktheit vor fremden Personen hätte. Das Entkleiden geschieht meist nur vor dem eigenen Geschlecht, so dass das für eine, die gern in die Sauna geht, überhaupt kein Problem darstellt. Die Verwunderung ist nicht selten groß, dass es auch in anderen Kulturen Traditionen der öffentlichen Nacktheit gibt. Denn selbst das Bad ist keine rein japanische Erfindung. Jedoch ist es eine wunderbare, wenn im Winter Temperaturunterschiede in der Gegend um die Hauptstadt von über 10 Grad am Tag und um die Null in der Nacht herrschen. Mein Körper macht dies nur bedingt mit. Also begab ich mich an einem Freitag nicht nur in ein öffentliches, sondern sogar ein kommunales Bad. Die Klientel ist – wegen seiner Lage in einem Kulturzentrum für ältere Menschen – zu einem großen Teil über sechzig Jahre alt. Während aus dem Männerbad das Lärmen der Kinder mit ihren Vätern drang, waren wir Damen eher mit uns selbst beschäftigt. Mein anfängliches Unwohlgefühl liegt an solchen Orten nicht an meiner Kleiderlosigkeit, sondern an meinem gesamten Körper, der mich in Farbe, Größe und Weite als Fremde erkennen lässt. Doch nach einem kurzen, kritischen Blick der Anwesenden, ob ich denn Hilfe bei der Benutzung eines öffentlichen Bades brauchen könnte, schwiegen wir höflich. Und ich musste zugeben, dass die Fremdheitsgefühle bei mir lagen. Die älteren Damen waren freundlich und, als ich mit dem Duschkopf nicht zurechtkam, sofort zu meiner Stelle. Das Wasser verströmte einen sanften Chlorgeruch, das schummrige Licht überzog die Spuren von jahrelanger Abnutzung mit einem weichen Schimmer. Selbst die arme Kakerlake, die am Beckenrand in den letzten Atemzügen nur noch schwach die Beine in die Luft streckte, konnte mich nicht aus der inneren Ruhe bringen.
Dass ich nur im bekleideten Zustand angesprochen werde, liegt auch an meiner Größe. In Deutschland eher klein, überrage ich hier die Frauen eine oder zwei Generationen über mir um mindestens einen Kopf. Bei Gesprächen muss ich mich vorbeugen, was nackt zu wahrlich unangenehmen Begegnungen führt. In unserer Körperlichkeit ist uns das bewusst. Am Ende umging eine der Damen für mich auch noch die Bezahlung des Föns, indem sie den Stecker kichernd nicht in die Zahlbox, sondern direkt in die Steckdose steckte. Sie zwinkerte mir dann verschwörerisch zu. In solchen Momenten, an solchen Orten kommen sich die Menschen hier sehr nah. Und wer sich einmal nackt gegenübergestanden hat, ist auf der Straße auch gleich freundlicher zueinander.