von Bernhard Mankwald
Wie vorsichtig Antonio Gramsci bei seinen Aufzeichnungen im Gefängnis sein musste – davon war schon im Blättchen 23/2012 die Rede. Ein besonders heikles Thema waren die Angelegenheiten seiner Partei; sie gaben schließlich Anlass für die Haft.
Gramsci erwähnt Lenin stets unter dessen Vatersnamen Iljitsch. Dies diente offenbar der Tarnung, zeugt aber auch von einem recht vertrauten Verhältnis. Gramsci respektiert Lenin und dessen historische Leistung; die zentrale Frage der Hefte ist aber, warum dessen Rezepte in Italien gescheitert sind und sich in weiter entwickelten Ländern kaum anwenden lassen. Gramscis Antwort wurde schon im Beitrag von Razmig Keucheyan im Blättchen 21/2012 dargestellt: Da die Zivilgesellschaft in Russland nicht sehr stark entwickelt war, genügte es zur Eroberung der Macht, die Staatsgewalt zu übernehmen. Die eigentlichen Probleme begannen damit aber erst.
Das Wort „Zivilgesellschaft“ klingt recht abstrakt und wenig beunruhigend. Statt mit diesem halben Fremdwort kann man Gramscis Aussage aber auch mit dem entsprechenden deutschen Ausdruck übersetzen, wie etwa Karl Marx und Friedrich Engels ihn bevorzugten. So gelangt man zur klareren Formulierung, dass die bürgerliche Gesellschaft in Russland kein entscheidender Machtfaktor war.
Der Gegensatz zu Lenin wird in dieser Form deutlicher: War der doch von der Kernthese ausgegangen, die Verhältnisse in Russland seien nicht grundsätzlich verschieden von denen im Westen und auch die Entwicklung müsse daher in ähnlichen Bahnen verlaufen. Noch 1917 hielt Lenin die wenigen Monate vom Februar bis zum Aufstand für die gesamte bürgerliche Ära in Russland. Stattdessen zeigte sich, dass umgekehrt die gesamte Ära Lenins und seiner Nachfolger nur ein Vorspiel zur heutigen, immer noch nicht sehr starken russischen bürgerlichen Gesellschaft war.
Gramsci musste bei seinen Aufzeichnungen also auch noch andere Rücksichten nehmen. „Joseph Wissarion“, den Gramsci nur an einer Stelle als „Interpreten der Mehrheitsbewegung“ erwähnt, wäre von einer solchen Auslegung sicher nicht erbaut gewesen. Und auch die Passagen über „Bronstein“ (Gramsci bezeichnet Trotzki als „Kosmopolit“) und über Bucharins „gemeinverständliches Lehrbuch“ der marxistischen Soziologie hätte Stalin wohl mit Misstrauen betrachtet – oder aber auf ihren Wert als Beweismittel für die Prozesse geprüft, in denen beiden zahlreiche Verbrechen vorgeworfen wurden. Eine Textstelle, in der Gramsci über die Gefahr schreibt, in der Not zum Kannibalen zu werden, hängt also wohl nicht nur mit den Belastungen seiner Haft zusammen.
Die Notizen sind aber auch wegen ihres skizzenhaften Charakters nicht leicht zu interpretieren. Einem der Hefte gab Gramsci den Titel „Aufzeichnungen und verstreute Notizen für eine Gruppe von Aufsätzen…“ (in diesem Fall über die Intellektuellen). Er hatte demnach die Absicht, das Thema später weiter auszuarbeiten; was daraus geworden wäre, lässt sich nur ahnen. Seine Genossen, die die Hefte in einer Zeit herausgaben, in der sie es immer noch mit Stalin zu tun hatten, hatten also Spielraum, sie in einem möglichst „orthodoxen“ Sinne auszulegen. In der heutigen Zeit dagegen sollten wir Gramscis Aufzeichnungen als Einladung verstehen, seine Gedanken zu Ende zu denken.
So etwa die Frage der Hegemonie in Russland: Wenn sie nicht den Bürgern gehörte – wem dann? Wir wissen, dass der Staatsapparat in Form eines Dienstadels organisiert war, der die Beamten der höheren Ränge umfasste. Hier herrschte also eine ziemlich rückständige Klasse der Gesellschaft, die mit dem Adel Westeuropas nur bedingt zu vergleichen war. Trotzdem war diese Bürokratie so effizient, dass Lenin es für nötig hielt, seine eigene Organisation ähnlich aufzubauen. Im Besitz der Macht dämmerte es ihm dann allmählich, dass auch sein neuer Staat in vieler Hinsicht dem alten verdächtig ähnlich sah.
In meinem Buch über die „Diktatur der Sekretäre“ habe ich versucht, Lenin als Gründer einer bürokratisch organisierten Klasse zu verstehen, die sich in einem entscheidenden Punkt aber von der herrschenden Klasse unter den Zaren unterschied: Sie war frei von nationalen, konfessionellen und Standesvorurteilen. Auch die Frauen hatten mehr Rechte, blieben aber faktisch weiterhin von den höchsten Führungspositionen ausgeschlossen. Diese Unterschiede reichten, um eine enorme Entwicklung des Landes zu gewährleisten – mit Mitteln, die denen der entsprechenden Entwicklungsphase im Westen an Brutalität nicht nachstanden. Die Hegemonie der neuen Führungsschicht aber bestand so lange, bis ein Teil derselben sie nutzte, um sich aus Treuhändern in Eigentümer zu verwandeln.
Gramscis Partei – als internationale Organisation betrachtet – hat also tatsächlich einmal in einem Teil der Welt die Hegemonie besessen. Die Sehnsucht nach einer Erneuerung dieser Hegemonie, wie wir sie eher unterschwellig in vielen Publikationen finden, ist daher verständlich. Es ist aber im Grunde die Sehnsucht nach Gleichmacherei und Asketismus, die schon das „Kommunistische Manifest“ beschreibt – und als reaktionär qualifiziert.
Das erklärt auch Unterschiede in der Entwicklung verschiedener Länder: In Russland war die Hegemonie „der Partei“ in den gesellschaftlichen Verhältnissen verankert und besteht in stark veränderter Form fort. In der DDR dagegen stand sie im Grunde nur auf dem Papier – und zwar auf dem der Verfassung. Die „bürgerliche Gesellschaft“ nämlich saß als starke Minderheit in der Volkskammer und nutzte die erste Gelegenheit, um die Streichung dieser Bestimmung durchzusetzen.
Die Linke in Deutschland schielt mit einem Auge noch immer in diese Vergangenheit – da kann sie mit dem anderen schlecht in die Zukunft blicken. Eine intensivere Auseinandersetzung mit der alten Hegemonie könnte das ändern – und wenn sie nur zeigt, wie eine neue eigene Hegemonie nicht aussehen kann. Gramscis Konzepte aber haben auch hier ihre Aktualität bewiesen.
Schlagwörter: Antonio Gramsci, Bernhard Mankwald, Hegemonie, Partei