15. Jahrgang | Nummer 24 | 26. November 2012

Problematische Trends in der amerikanischen politischen Kultur

von Karsten D. Voigt

Die politische Kultur der USA hat sich in den letzten Jahren negativ verändert. Heute fremdeln Deutsche zunehmend, wenn sie Berichte über die politischen Diskussionen in den USA lesen. Galten die politischen Debatten und Parteien in Deutschland früher als ideologisch und die in den USA als pragmatisch, so ist es heute geradezu umgekehrt: Die politische Kultur der USA wird seit einigen Jahren von einer zunehmenden Polarisierung und Ideologisierung geprägt.
Manche Analytiker der USA sprechen davon, dass ein Kulturkampf zwischen Konservativen und Liberalen/Linken stattfindet. Andere sagen, dass dies einer der üblichen Ausschläge eines Pendels sei. Der aktuellen Entwicklung der Debatte würde automatisch ein neuer Konsens in der Mitte der Gesellschaft folgen. Ich würde mir eine solche Entwicklung für die USA und für Europa wünschen. Es gibt zahlreiche Amerikaner, die die negativen Entwicklungen der letzten Jahre verabscheuen, dennoch verstärken langfristige Entwicklungen den Trend zur Polarisierung in der politischen Kultur der USA.
In der überwiegenden Zahl der Wahlkreise für Senatoren und für Abgeordnete des Repräsentantenhauses bestehen eindeutige Mehrheiten entweder für demokratische oder republikanische Kandidaten. Hier fällt die Wahlentscheidung faktisch in den Vorwahlen, bei denen die Wahlbeteiligung wesentlich geringer und die ideologische Orientierung der Wähler eindeutiger ist als bei den allgemeinen Wahlen. Nur in der Minderheit der Wahlkreise und Staaten, in denen die Entscheidung über den Sieg eines Kandidaten bei den allgemeinen Wahlen fällt, kommt den Stimmen der nicht parteilich gebundenen Wähler eine faktische Bedeutung zu. Auch bei den letzten Präsidentschaftswahlen hat sich die Auseinandersetzung zwischen Obama und Romney auf wenige Staaten konzentriert. Im Endergebnis waren die Mehrheiten bis auf zwei Staaten identisch mit denen vor vier Jahren: Indiana und North Carolina wählten dieses Mal mit Mehrheit den republikanischen und nicht den demokratischen Kandidaten.
In den Medien zeigt sich ein ähnlicher Trend zur Polarisierung: Der für amerikanische Verhältnisse linke Fernsehsender MSNBC und sein rechtes Gegenstück Fox News gewinnen an Zuschauern, während der relativ ausgewogene Sender CNN an Boden verliert. Wissenschaftliche Untersuchungen deuten darauf hin, dass in den letzten zehn Jahren die parteipolitische Zuordnung auch auf der Ebene der amerikanischen Landkreise zugenommen hat. Das würde bedeuten, dass auch auf lokaler Ebene Republikaner und Demokraten zunehmend getrennt voneinander wohnen und weniger als in der Vergangenheit miteinander kommunizieren.
Die Mitgliedschaft in religiösen Gemeinschaften mit unterschiedlichen politischen Orientierungen – christliche Rechte einerseits und eher fortschrittliche christliche und jüdische Gruppierungen und säkulare Amerikaner andererseits – verstärken diesen Trend. So haben von den weißen Protestanten 76 Prozent Romney und nur 17 Prozent Obama gewählt. Je häufiger ein Wähler den Gottesdienst besuchte, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass er Romney wählte. Andererseits wählten 69 Prozent aller amerikanischen Juden Obama, während die Mehrheit der Israelis für Romney gestimmt hätte.
Der Prozentsatz der weißen Männer, die Romney wählten, war höher als vor vier Jahren bei der Entscheidung zwischen McCain und Obama. 59 Prozent aller Weißen wählte ihn. Eine mehrheitliche Unterstützung durch die weiße Bevölkerung wird in Zukunft aber immer weniger ausreichen, um gewählt zu werden. Betrug ihr Anteil 1980 bei der Wahl Reagans noch 80 Prozent, so waren es bei diesen Wahlen nur noch 72 Prozent. 93 Prozent aller Afroamerikaner, 71 Prozent aller Latinos und 73 Prozent aller Asiaten wählten Obama.
Wenn die Republikaner wieder mehrheitsfähig werden wollen, müssen sie insbesondere ihr Verhältnis zu der schnell wachsenden Gruppe der Latinos verbessern. Es wäre deshalb für die Republikaner rational, beim Streit um die Einwanderungsgesetzgebung einen Kompromiss mit den Demokraten zu suchen, um dieses Thema, das bei der Wahlentscheidung der Latinos eine wichtige Rolle spielte, vom Tisch zu bekommen.
Der weiße Mittelstand fühlt sich ökonomisch bedroht und dies zu recht: Im Gegensatz zu den oberen und obersten Einkommensgruppen hat das Einkommen der weißen Mittelschicht in den letzten Jahren nicht zugenommen. Bei den unteren Schichten verringerten sich die Einkommen zum Teil erheblich, während die Bedrohung durch die Arbeitslosigkeit zunahm. Die wachsenden Kosten für den Besuch von Colleges und Universitäten erschweren der weißen Mittelschicht die Verwirklichung des amerikanischen Traums vom sozialen Aufstieg ihrer Kinder durch Bildung und Ausbildung. Große Teile der Anhänger Romneys orientieren sich in dieser Lage an konservativen Leitbildern und Ideologien. Sie solidarisieren sich eher mit den Reichen als mit den Armen. Die „tea party“ ist im Kern eine populistische Bewegung der Mittelschicht, die sich ökonomisch und in ihren Wertvorstellungen bedroht fühlt und die sich ideologisch an einer angeblich besseren amerikanischen Vergangenheit orientiert.
Immer seltener kommt es zu einer parteiübergreifenden Zusammenarbeit. Halten diese Grabenkriege an, wird die Handlungsfähigkeit des demokratischen Systems der USA massiv beeinträchtigt werden – denn das Prinzip der „checks and balances“, das auf ein Optimum der Kontrolle politischer Macht zielt, setzt ein hohes Maß an Bereitschaft zum Kompromiss voraus. Wenn es nicht mehr funktioniert, wird das gesamte bisherige politische Modell in Frage gestellt.
In den nächsten Monaten wird sich zeigen, ob Republikaner und Demokraten in der Lage sind, einen parteiübergreifenden Kompromiss in Finanz- und Steuerfragen zu vereinbaren. Hier geht es um die Frage, wie milliardenschwere Ausgabenkürzungen vernünftig organisiert werden können. Sollte dieser dringend erforderliche Kompromiss scheitern, weil die Neigung zur Polarisierung stärker als die von Europäern früher so bewunderte Fähigkeit zum pragmatischen Kompromiss ist, blieben die Konsequenzen nicht nur auf die USA beschränkt. Europa und die Weltwirtschaft würden den politischen Stillstand direkt spüren. Doch die so zerbrechliche Weltwirtschaft kann sich weitere Belastungen in keinem Fall leisten.
Ich halte es für wahrscheinlich, dass Senat, Repräsentantenhaus und der Präsident sich in schwierigen Verhandlungen schließlich doch auf einen Kompromiss einigen werden, der eine ansonsten krisenhafte Zuspitzung der wirtschaftlichen Lage vermeidet. Damit wäre allerdings noch keineswegs garantiert, dass alle wirtschaftlichen, sozialen und finanzpolitischen Entscheidungen, die für eine dauerhafte Erholung und Modernisierung der USA erforderlich sind, getroffen werden. Die enormen Herausforderungen, vor denen die USA stehen, sind nur zu bewältigen, wenn alle Ressourcen und die potentielle wirtschaftliche und geistige Dynamik des Landes im Rahmen einer großen reformerischen Kraftanstrengung mobilisiert werden. Das erfordert nicht zuletzt den Willen und die Fähigkeit zur parteiübergreifenden Zusammenarbeit und zum Kompromiss. Ansonsten werden notwendige Entscheidungen nicht nur verzögert, sondern vielfach auch dauerhaft blockiert.
Zeichen des Kompromisswillens wären insbesondere bei den Wechselwählern und den nicht an eine Partei gebundenen Wählern populär. Eine gewisse Kompromissbereitschaft könnte also durchaus im Gesamtinteresse der Republikanischen Partei liegen. Dem steht aber entgegen, dass die einzelnen Abgeordneten aus den republikanischen Hochburgen vor allem auf die zum Teil sehr radikalen konservativen Auffassungen ihrer Stammwähler Rücksicht nehmen müssen, um sich in den Vorwahlen durchsetzen zu können. Das Gesamtinteresse der Republikanischen Partei befindet sich also durchaus im Widerspruch zu den spezifischen Überzeugungen und Interessen zahlreicher republikanischer Abgeordneter.
Eine große Skepsis, ob es in den nächsten vier Jahren wirklich gelingt, die Polarisierung und Ideologisierung der politischen Kultur in den USA zu überwinden, ist also durchaus angebracht. Aus dem gleichen Grunde ist es eher unwahrscheinlich, dass es Obama in den nächsten Jahren wirklich gelingen kann, grundlegende Reformen in der Finanz- und Steuerpolitik und der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik gegen den Widerstand der Republikaner und der sie stützenden gesellschaftlichen Gruppen und Ideologien durchzusetzen.