von Helmut Donat
In den 1950er Jahren, inzwischen geschieden und in Stockholm beheimatet, fand sich Sonja Sonnenfeld wieder in Berlin, „ihrer Stadt“, ein. Seither war sie jedes Jahr mindestens einmal in Berlin und sprach an Schulen über ihre Erlebnisse und Beobachtungen vor und während der Nazizeit. Aber auch Themen wie Hunger, soziale Ungerechtigkeit, Verfolgung von Minderheiten, Rechtsextremismus und Antisemitismus sowie die alltäglichen Nöte der Schülerinnen und Schüler behandelte sie in ihren Vorträgen und Gesprächen.
Aus ihrer Wohnung in Stockholm machte sie ab 1962 ein „Offenes Haus“, mit dem sie sich für ein friedliches und respektvolles Miteinander der Kulturen engagierte. Zunächst jeden Sonntag, dann jeden ersten Sonntag im Monat, konnte – ohne Einladung – kommen, wer wollte, egal welcher Religion oder Nation er oder sie angehörten oder welche Hautfarbe sie hatten. Das Motto: „People meet People!“ In den über 40 Jahren seines Bestehens sind nahezu 10.000 Menschen aus über achtzig Nationen in dem „Offenen Haus“ gewesen, haben miteinander diskutiert, gespielt und gesungen, sich etwas vorgelesen, geholfen oder dem anderen einfach nur zugehört – eine Art „Völkerbund en miniature“, so auch der Untertitel des von Sonja Sonnenfeld 2005 veröffentlichten Buches „Das ‚Offene Haus‘“. Während des Vietnam-Krieges nach Schweden desertierte US-Soldaten waren ebenso dabei wie Araber, Israelis, Palästinenser, Asiaten, Russen, Afrikaner, Schweden, Deutsche etcetera. Auch bekannte Persönlichkeiten, mit denen Sonja sich freundschaftlich eng verbunden wusste, stellten sich ein: Astrid Lindgren, Rosalinde von Ossietzky-Palm oder Simon Wiesenthal. 1969, mit 67 Jahren, kündigte sie ihre Stelle bei einer Rechtsanwaltskanzlei. Ihr Chef wollte sie nicht gehen lassen, bot ihr mehr Gehalt an. Sie lehnte dankend ab, aber nicht, um in den Ruhestand zu treten, sondern um die Geschäftsführung des gerade gegründeten Raoul-Wallenberg-Komitees zu übernehmen – unentgeltlich, versteht sich. Fortan setzte sie sich für den „Engel von Budapest“ ein, der in Ungarn 1944/45 an die 100.00 Juden gerettet hatte, wenig später vom sowjetischen Geheimdienst gekidnappt und verschleppt wurde und jahrzehntelang als verschollen galt. Sonja wähnte ihn in einem russischen Schweigelager, plante Befreiungsaktionen, die aber scheiterten, worüber sie in ihrem 2001 erschienenen Erinnerungen „Es begann in Berlin – Ein Leben für Gerechtigkeit und Frieden“ eindrucksvoll berichtet. Unermüdlich war sie für Wallenberg unterwegs, schrieb Briefe, Artikel, suchte bedeutende Politiker in Ost und West auf, hielt Vorträge, machte ihn in Schulen bekannt und anderes mehr. Wenn Wallenberg inzwischen viele Ehrungen erfahren hat und eine Weltberühmtheit geworden ist, so ist das nicht zuletzt auch das Verdienst von Sonja Sonnenfeld. – Zwar wird heute davon ausgegangen, dass Wallenberg in der Sowjetunion zu Tode kam, aber definitiv geklärt ist sein Schicksal bisher nicht.
Schon in den Jahrzehnten davor, aber verstärkt seit 2001 trat Sonja Sonnenfeld in Schulen umsonst oder für wenig Geld auf – in Deutschland dürften es allein über 1.000 gewesen sein. Ob sie vor 30 Kindern und Jugendlichen oder vor 300 oder in Abendveranstaltungen vor Erwachsenen sprach, stets lautete ihre Botschaft: „Denkt selber – und lauft nicht einem Leithammel wie eine Herde hinterher!“ Und: „Nicht gleichgültig sein und wegsehen, sondern sich lieber einmal mehr, als zu wenig einmischen!“ Ihre Zuhörer waren stets von ihr beeindruckt und angetan. Ein Junge, der zu Hause überaus begeistert vom Schulbesuch Sonjas erzählte, wurde schließlich von seinem Vater unterbrochen und gefragt: „Nun sag doch mal, wie alt ist denn die Dame eigentlich?“ Die Antwort des Jungen: „Wenn Du Dir den Kopf wegdenkst, dann ist sie zwölf!“
Ulrike Plappert, Lehrerin in Bremen, ist mit Sonja an ihrer Schule des Öfteren zusammengetroffen und erinnert sich: „Ihre Stimme war so beeindruckend, sonor und voluminös, dass man spürte, wie jung und wach diese Frau im Innern war. Sie konnte ohne Mikrophon eine Aula damit füllen, und es war neunzig Minuten lang mucksmäuschenstill. Das war natürlich nicht allein auf ihre Stimme zurückzuführen. Sonja war zierlich, klein, ‚geschrumpft‘, wie sie humorvoll anmerkte, aber innerlich groß. Wohl immer schon. Selbst als sie dann im Rollstuhl saß […] Sie liebte wohl die Bühne, besaß Koketterie, Eitelkeit, Charme und vor allem Witz. All dies gehörte zu ihr und so auch zu ihrer Botschaft. Sie trat nicht als ‚Figur Zeitzeugin’ auf, sondern als Frau und Betroffene, die so geworden war, wie sie uns im Moment gerade begegnete und der eines am Herzen lag: weiterzugeben und zu mahnen, was nicht wieder geschehen darf. Auch ihre äußere Erscheinung gehörte dazu, und ihr schenkte sie viel Aufmerksamkeit, was Jugendliche in der Regel sehr genau bemerken und anerkennen. Auch hierin war sie Vorbild, denke ich: Achtet auf euch – und damit achtet ihr auch den andern! So hat es sich mir vermittelt. Sorgfältig wählte sie die für sie passenden, meist leuchtenden Farben aus, Ohrklipse blinkten, geschmackvolle Schals oder Kragen gehörten dazu wie angemessen geschminkte Lippen und ihr kesser Kurzhaarschnitt. All das erschien niemals als verzweifelter Versuch des Aufhübschens, ‚Liftens‘ oder gar des Leugnens ihres Alters, sondern teilte sich mit als SONJA, das Gesamtbild einer alten Frau, die gekommen war und wusste, wie, worüber, zu wem sie sprach und vor allem: Warum sie dies tat …
Sie hatte viel zu sagen. Und sie sprach jedes Alter an … Sonja konnte sich spontan auf alles und alle einstellen. Das lag wohl unter anderem daran, dass sie eine Menge Erfahrungen mit Menschen hatte, und vor allem lebte Sonja in jeder Sekunde und erlebte, was sie sagte, anscheinend beinahe erneut mit. Immer sprach sie frei, ‚las‘ aus ihrem fantastischen Gedächtnis und aus ihrem Innern … Sie forderte ihre Zuhörer auf: Schweigt nicht! Seht hin! Redet! Sprecht über das, was sich gegen das Menschliche richtet! Wendet euch gegen und an diejenigen, die wegsehen, sich ducken, Angst verbreiten, sich über andere erheben! Seid keine ‚Helden‘ im Großen, sondern im Kleinen.
Dies war es auch jedes Mal, worüber viele Schülerinnen und Schüler nach einem Besuch von Sonja sprachen: Diese Frau hat so viel erlebt und gesehen, so viel Schlimmes! Und darum denkt sie so. Das ist gut. Sie hat recht damit. Es stimmt: Wir sind oft ängstlich, zu ängstlich. Sie macht uns Mut.“
Am 22. März 2010 sprach Sonja Sonnenfeld im Roten Rathaus am Alexanderplatz. Der Louise-Schröder-Saal war gut besetzt, die Stimmung prächtig. Noch einmal verdeutlichte sie, dass sie die Unterscheidung zwischen Deutschen und Nazis für eine bestimmte Generation nicht gelten lasse. Bei allem Respekt vor den Deutschen, die wirklich keine Nazis waren: Die meisten seien doch einverstanden mit der barbarischen Regierung gewesen. Wer das nicht wahr haben wolle, sehe noch immer weg, verharmlose das Ausmaß der Zustimmung zu den Verbrechen und führe damit dem Rechtsextremismus neue Nahrung zu. Es war ihre erste öffentliche Veranstaltung in Berlin – und zugleich ihre letzte. Am 23. September 2010 ist Sonja Sonnenfeld im Beisein ihrer engsten Angehörigen und ihres Verlegers in Stockholm an den Folgen einer Operation gestorben. Sie hat über viele Jahrzehnte hinweg getan, was sie ihren Zuhörern und Mitmenschen riet: Im Kleinen daran mitgewirkt, die Welt friedfertiger zu machen.
* – Teil I dieses Beitrages erschien in Ausgabe 20/2012.
Sonja Sonnenfeld: Es begann in Berlin – Ein Leben für Gerechtigkeit und Frieden, Donat Verlag, Bremen 2001, 142 Seiten, 12.80 Euro
Sonja Sonnenfeld: Das „Offene Haus“ – Völkerbund en miniature, Donat Verlag, Bremen 2005, 96 Seiten, 10,- Euro
Schlagwörter: Berlin, Deutschland, Drittes Reich, Helmnut Donat, Sonja Sonnenfeld