von Fedor Abakov
Chawa Wolowitsch (1916-2000) geboren in der ukrainischen Stadt Mena, nordostwärts von Kiew gelegen, war glücklich, als sie nach dem Grundschulbesuch, der damals sieben Jahre dauerte, 1931 eine Lehre als Setzerin in der Bezirksstadt Tschernihiw (russisch: Tschernigow) aufnehmen konnte. In ihren Erinnerungen berichtet sie davon wie die Lebensverhältnisse immer schwieriger wurden. Durch die Straßen streunten Pferdeskelette mit grindigem Fell. Weil die Bauern nichts zum Füttern hatten, jagten sie die Pferde in die Nachbardörfer und nahegelegenen Städte. Den Bauern, die nicht in die Kolchosen (die Abkürzung bedeutet Kollektivwirtschaften) eintreten wollten, nahmen bewaffnete Requirierungsgruppen nicht nur das letzte Getreidekorn und die letzte Kartoffel weg, sondern auch die letzte Bohne. Da die Bauernfamilien ihr letztes Getreide nicht selten im großen Kachelofen versteckten, wurden diese Öfen oftmals abgerissen, wodurch die Familien ihre weißgetünchten Lehmwandhäuser nicht mehr heizen und auch nicht kochen konnten. Die Kommandos plünderten auch die Kornkästen mit dem Saatkorn der entstehenden Kolchosen, und wenn ihnen gesagt wurde: „Nema“, (d. h. ukr.) Nichts ist da“, antworteten sie: „Nichts da gibt es nicht! Du selbst frisst doch was, willst bloß nicht mit dem Staat teilen!“
Und so zog das Unglück durchs Land. Und der Hunger mähte die Menschen nieder. In der siebenköpfigen Familie Chawas stand einzig ihr eine Lebensmittelzuteilung zu, 15 Kilogramm Mehl pro Monat. Damit hungerte sich die Familie durch, kochte Mehlbrei mit Sauerampfer und Melde. „Aber selbst diese armselige Plempe blieb uns oft wie ein Kloß im Halse stecken, wenn sich vor unserem Fenster die Hungernden aus dem Süden drängten und mit herzzereißendem Stöhnen jammerten: „Gib uns was, Tante“.
„Das waren Horden von Hungernden, die auf der Suche nach Nahrung von einem Ort zum anderen zogen. Das waren Hunderte verlassene Dörfer, Leichen auf den Straßen, ausgesetzte Kinder. Das waren Krankenfuhrwerke, voll beladen mit nackten Skeletten. Niemand machte sich die Mühe und deckte sie zu. Sie wurden zum Friedhof gebracht…“
Erstmals befand Anfang diesen Jahres, Mitte Januar 2010, ein ukrainisches Gericht in Kiew, die damalige politische Führung der Sowjetunion sowie der ukrainischen Sowjetrepublik, namentlich Josif Stalin, Wjatscheslaw Molotow und vier weitere Funktionäre für schuldig an der Hungersnot der Jahre 1932 und 1933 in der Ukraine, schuldig „am Genozid an der ukrainischen Bevölkerung“. Die ukrainische Regierung hat offiziell bereits 2006 diesen Genozid festgestellt. Da die Schuldigen längst tot sind, wurde das Gerichtsverfahren eingestellt.
Längst tot waren auch die knapp vier Millionen Opfer des „Glodomor“, der Hungersnot. Ein Gutachten des Instituts für Demographie und Soziologie der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften in Kiew, das dem Gericht vorgelegt wurde bezifferte die Zahl der Opfer auf 3,941Millionen Menschen. (Nina Kamm, die Herausgeberin, zugleich Übersetzerin und Verfasserin einer Zeittafel sowie eines Glossars, nennt im Sammelband erschütternder Frauenschicksale im Gulag, der unter dem Titel „Weggesperrt“. Ende 2009 im Karl Dietz Verlag Berlin erschien und auch die Erinnerungen Chawa Wolowitschs enthält, ohne Quellenangabe die Zahl von „mindestens sechs Millionen“ Opfer.)
Von Seiten Russlands wurde die Bewertung des Glodomor als Genozid scharf kritisiert und zurückgewiesen.
Ebenfalls erstmals seit der Erklärung der ukrainischen Unabhängigkeit im Jahre 1991, wurde unlängst unter den Klängen der sowjetischen Hymne im ukrainischen Saporoshje ein Denkmal für Stalin, den politisch Hauptschuldigen am Glodomor, eingeweiht, derzeit das einzige im Land. An der Zeremonie nahmen in diesem Frühjahr, wenige Tage vor den Feierlichkeiten zum 65. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland, etwa 1000 Menschen teil. Die drei Meter hohe Statue wurde auf einem Gelände aufgestellt, das der Kommunistischen Partei gehört. Eine Protestveranstaltung von Gegnern dieser Ehrung hatten die Behörden verboten.
In St. Petersburg, meiner Heimatstadt, fuhr seit 5. Mai ein Linienbus mit Stalins Bildnis über den Newski Prospekt. Diesem und weiteren optischen Signalen dieser Art, ging Ende April ein weitaus wichtigeres militärpolitisches Signal voraus. Ein Vertrag mit der Ukraine sichert seitdem Russland den Stützpunkt seiner Schwarzmeerflotte auf der Halbinsel Krim bis Mitte des Jahrhunderts, maximal bis 2047.
Russlands Regierungschef Wladimir Putin schlug in etwa zur gleichen Zeit der ukrainischen Regierung unter Mykola Asarow vor, die Gaskonzerne beider Länder zu vereinen. Damit würde Russland die Erdgastransitleitungen zwischen Ukraine und EU kontrollieren. Viktor Janukowytsch, jüngst gewählter Präsident der Ukraine, versucht für sein Land bei allem Gleichklang mit Russland mehr herauszuholen und betreibt eine Pendelpolitik zwischen Kiew-Moskau und Kiew-Brüssel.
Von all diesen Geschehnissen der „großen“ Wirtschafts- und Militärpolitik hat Chawa Wolowitsch nichts mehr mitgekriegt. Weil sie offenherzig über die Politik der „großen Führer“ und der Folgen ihrer „großen Politik“ für die „kleinen Leute“ gesprochen hatte, war sie 1937 zu 15 Jahren Lagerhaft verurteilt worden. Das letzte Jahr verbrachte sie in einem Lager mit verschärftem Lagerregime. Nach weiteren drei Jahren Verbannung durfte sie 1956 nach Mena zurückkehren. Ihr Brot verdiente sie dort als Pförtnerin, Heizerin und mit Arbeiten im Schweinestall.
Schlagwörter: Chawa Wolowitsch, Fedor Abakov, Hunger, Russland, Ukraine