von Renate Hoffmann
Im Kanton Tessin, in Lugano, im Stadtviertel Paradiso steige ich verkehrswidrig (doch unbehelligt) den Goldenen Hügel – Collina d’Oro – hinauf. Durch Gärten, die in Überfülle blühen. An Mauern entlang, über die Eidechsen huschen, hinter denen Rosmarin duftet und Kamelienbüsche ihre blutroten Blüten auf den schmalen Pfad werfen. Wo er mündet, ist Montagnola, ist das Museo Hermann Hesse im Torre Camuzzi.
»Buon giorno« – und die Treppe nach oben, zu den Ausstellungsräumen. Zu Hesses Schreibtisch. Darauf die Smith Premier Nr. 4, des Dichters alte Schreibmaschinerie. Ihr Tastatur-Gestänge steht aufrecht wie ein zierlicher Säulengang. Die Mechanik liegt offen zutage, ist durchschaubar, etwas ungetümlich, doch verläßlich. Dahinter der Blick hinaus ins Platanengrün der Bäume.
Unter der Smith Premier Nr. 4, sorgfältig durch eine Glasplatte geschützt, befindet sich eine Vielzahl von Briefen (Kopien). Allesamt an H.H. gerichtet. Da schrieben ihm: Walter Benjamin, Romain Rolland, Thomas Mann, Martin Buber: »Jerusalem, 2. 12. 46 … zu den wenigen Nachrichten aus Europa, die uns eine ungemeine Freude bereitet haben, gehörte jetzt die, von dem Ihnen zugefallenen Preis (Verleihung des Nobelpreises für Literatur an Hesse, 1946 – d. A.). Wem gebührte er so rechtmäßig wie Ihnen, der dem Geist und der Gestalt die schönste Treue gehalten hat! …«
Es schrieben auch: Else Lasker-Schüler, Theodor W. Adorno, Sigmund Freud: »23. 8. 18 Einer Ihrer Leser, der Ihrem Schaffen seit dem ›Peter Camenzind‹ mit Genuß gefolgt ist, möchte Ihnen gerne zum Dank für Ihren Aufsatz in der Frankf. Zeitg.: ›Künstler und Psychoanalyse‹ die Hand drücken.«
Ein Briefbogen mit besonderem Aufdruck fällt mir in den Blick: »DIE WELTBÜHNE, begründet von Siegfried Jacobsohn – unter Mitarbeit von Kurt Tucholsky geleitet von Carl von Ossietzky.« – Und am unteren Rand des Schriftstückes: »Berlin = Charlottenburg 2, Kantstraße 152 * Telegramme: WELTBÜHNE * Fernsprecher: Steinplatz C1, 7757 * Postscheck = Konto: Berlin 11958«
An den Lyriker, Erzähler, Maler und Zeichner Hermann Hesse schreibt auf diesem Briefblatt der zeitweilige »Oberschriftleitungsherausgeber« der WELTBÜHNE, Kritiker, Feuilletonist und mit trefflichem Humor ausgestattete Erzähler Kurt Tucholsky – vertraulich »Tucho« genannt (24. Oktober 1932): »Lieber und verehrter Herr Hesse, Ihr Brief ist mir eine freudige Ueberraschung gewesen. In den letzten Jahren war ich einige Male in Lugano – ich habe niemals gewagt, Sie zu stören, weil ich solche Ueberfälle kenne: man ist sehr angenehm berührt von der Aufmerksamkeit, aber dann ist es doch schön, wenn die fremde Heeresmacht wieder abgezogen ist.
Was Sie über die Schluderei in der deutschen Sprache schreiben, ist mir aus dem Herzen geschrieben. Bei jedem Franzosen, bei jedem Engländer ist es leicht möglich, zu sagen, er spräche ein gutes Französisch oder ein gutes Englisch. Wer spricht gutes Deutsch – ? Man mag gar nicht mehr hinhören, alles ist wie aus dem Warenhaus, und alle sagen daßelbe. Und wie sie nun erst schreiben –! …
Dank für alle Ihre freundlichen Worte. Ich habe Rowohlt gebeten, Ihnen einiges andere zu schicken, und ich darf ausdrücklich hinzusetzen: nicht zu Recensionszwecken. Und ich antworte auch gern und gleich, weil ich nicht so ein städtischer Mann bin, wie Sie denken. Ich lebe seit langen Jahren in Schweden auf dem Lande, bin dem Betrieb fast ganz …«
Hier endet die Mitteilung auf der Vorderseite. Das Blatt müßte gewendet werden. Dazu wäre eine Demontage vorzunehmen: Die Smith Premier Nr. 4 herunterheben, den Glasschutz ankippen, den »Tucho-Brief« hervorziehen.
Ich befinde mich zwischen zwei Überlegungen des verehrten Literaten Hesse: »Eigensinn macht Spaß« – und – »Die Praxis sollte das Ergebnis des Nachdenkens sein, nicht umgekehrt.«
Nach längerem Zögern wähle ich das Letztere, denke nach und lasse ab vom Zugriff. Meine Neugier wird jedoch weiterhin um die Ungewißheit kreisen, was denn Kurt Tucholsky dem Hermann Hesse noch sagen wollte.
Schlagwörter: Hermann Hesse, Kurt Tucholsky, Renate Hoffmann