von Wolfgang Brauer
Wer in vergangenen Zeiten Schulden aufhäufte und sie nicht begleichen konnte, wanderte in die Kellerverliese des Schuldturmes und faulte dort vor sich hin. Falls sich nicht jemand fand, der diese für ihn beglich. Die Zeiten haben sich geändert. Jedenfalls für Leute, die mit anderer Menschen Geld, sagen wir mit Steuergeldern, Misswirtschaft betreiben. In den Zeiten der seligen Kaufmannshanse konnte man in solch casus criminalis auch schon mal unter der Axt des Henkers enden. Heutzutage steht einem eine Ministerkarriere oder zumindest ein gut dotiertes Abgeordnetenmandat allemal offen – wenn nicht im eigenen so doch in einem anderen Bundesland. Vorausgesetzt natürlich, man verfügt über entsprechende Netzwerke in der eigenen Partei. Wie das funktioniert beschreibt Matthew D. Rose, ausgewiesener Kenner des Berliner Politik-Filzes, in einem Aufsatz mit dem schönen Titel „Die Schatzinsel“. Die Schatzinsel liegt inmitten des Sandmeeres der Mark Brandenburg und heißt Berlin. Roses Text findet sich im Lesebuch „Schulden in Berlin“, das vor wenigen Wochen im Verlag M des Stadtmuseums Berlin erschien. Dieses Lesebuch behandelt eine zutiefst ärgerliche Materie, aber ich habe es mit großem Vergnügen gelesen.
Schulden in Berlin sind zuvörderst natürlich die Schulden Berlins. Die beliefen sich zum Sommeranfang 2012 auf 62,1 Milliarden Euro. Tendenz steigend und perspektivisch nur schwer prognostizierbar. Die Stadt nennt sich nicht zufällig „Spree-Athen“… Allein der von Vielen als „Problem-BER“ bespöttelte neue Großflughafen wird nach vorsichtigen Schätzungen über eine Milliarde Euro teurer werden als geplant. Die Flughafengesellschaft kann das aus eigener Kraft nicht mehr stemmen, also werden die Anteilseigner ran müssen. Das sind der Bund, das Land Brandenburg und – wie kann es anders sein – das größte Berlin von allen. Die Steuerzahler also sind es wieder, mit deren Geld hier herumgeaast wird. Das ist nichts Neues. Beim Lektüre-Gang durch die Geschichte werden Sie mit Erstaunen feststellen, dass die Spree-Metropole von Beginn ihrer Existenz an sowohl auf Sand als auch auf Schulden erbaut worden ist. Lange, lange Zeit mussten immer andere die Zeche zahlen. Unser toller König Friedrich II. („der Große“) ließ ungestraft Münzen verschlechtern, plünderte Sachsen aus und provozierte eine der großen Banken-Krisen des 18. Jahrhunderts. Jost Lehne beschreibt das auf gut verständliche Weise. Friedrichs Modell machte Schule. „Wie wir heute arbeiten, so werden die Berliner morgen leben“, ätzte man in den Südbezirken der DDR. Im Westen nannte sich das „Berlin-Hilfen“. „Wenn irgendwo das Geld fehlte, na dann hab ich in Bonn angerufen und am nächsten Montag war die Überweisung da“, erzählte mir einmal ein mit dieser Dingen befasst gewesener Ministerialdirektor des seinerzeitigen Ministeriums für Gesamtdeutsche Fragen. Nur: Auf den Mehlsack Sachsen „draufhauen, bis er stäubt“, wie es König Friedrich praktizierte geht nicht mehr und das Räsonnieren des „Restes“ der Bundesrepublik führte, zugegeben nicht nur wegen der Ausgabenpolitik des Senates von Berlin, zur berühmt-berüchtigten „Schuldenbremse“. Wahrscheinlich erklärt auch Friedrichs kreative Finanzpolitik auf Kosten anderer den wehmütig-bewundernden Blick der heute in Berlin und Brandenburg Regierenden auf ihren monarchischen Vorgänger.
Von der „Schuldenbremse“ ist im Lesebuch noch nicht die Rede, aber von ganz geheimen Vertragszuständen, die diese jetzt schon zu einem löchrigen Käse machen: Cross-Border-Leasing-Verträge der BVG zum Beispiel (Jost Lehne und Andreas Resch), ein spielerisch wie kaufmännisch immer glückloser agierender Fußball-Verein mit einem teuren Weltklasse-Stadion (Andreas Resch), das großzügigerweise die Stadt für diesen finanziert. Dafür ist Berlin inzwischen die einzige europäische Hauptstadt ohne Erstligafußballverein. Die Liste ließe sich fortsetzen. Und ein Schelm, wem beim Lesen des Aufsatzes von Lothar Vossmeyer „Das Ende des dreifachen Wehs“ – gemeint sind die die preußische Staatskasse unter König Friedrich I. (er trug die Krone von 1701 bis 1713) ausgeplündert habenden Grafen Wartenberg, Wittgenstein und Wartensleben – die Gedanken in Richtung Berliner Bankenkrise 2000/2001 entgleiten… Reichsgräfin Katharina von Wartenberg, Mätresse des ersten Preußen-Königs, verjubelte die ergaunerten Taler im Exil in Frankfurt am Main. Dorthin muss heute niemand mehr flüchten. Ablösesummen und diverse Entschädigungsleistungen darf man getrost in der heimatlichen Villa im Grunewald verzehren. Man sollte nur nicht Thomas F. heißen (ein sehr anrührendes Porträt von Susanne Linzer), auf irgendeine Weise zur großen Heerschar der aktuell „abhängig Beschäftigten“ gehören oder gar „Transferleistungsempfänger“ (früher hieß das in Berlin kurz und knapp „Stütze“) sein. Jede Schwarzfahrt, weil gerade das Kleingeld alle geworden ist, kann Ihnen als „Erschleichung von Beförderungsleistungen“ ausgelegt werden. Berlin hat zwar keinen Schuldturm mehr, aber schlimmstenfalls sitzen Sie diesen Straftatbestand in Moabit ab. Für die großen Fische ist die Staatsanwaltschaft aber offenbar keine richtige Gefahr mehr. Selbst die gescheiterten Manager der Berliner Bankgesellschaft können sich inzwischen auf das richterliche Gütesiegel geurteilter Unschuld berufen. „Un is der Ruf erst ruiniert, denn lebt det sich janz unscheniert“, spottet der Volksmund.
Den Volksmund nimmt sich am Ende des Bandes Lavinia Meier-Ewert vor. Aus der leicht distanzierten Verwunderung einer im Süddeutschen geborenen Autorin über die groben sprachlichen Sitten der Stadt wird so etwas wie stille Bewunderung des Volksstammes der Berlinerinnen und Berliner, „der sich halt nicht unterkriegen lässt“. Das lesen wir doch gerne! Denn auf die Frage, wer denn den Mann mit dem Koks bestellt habe, antworten wir in der Regel unisono: „Du hast keen Jeld, ick hab keen Jeld – ja wer hat denn den Mann mit’m Koks bestellt?“ Wir jedenfalls nicht. Det steht schon mal fest!
Zwei kleine Ärgernisse müssen aber angemerkt werden. Da ist zum einen die Aufnahme eines Textes von Bert Hoppe aus der Berliner Zeitung „Wie bankrott war die DDR wirklich?“. Dieses oberflächliche Produkt hätte man sich ersparen sollen, kundige Leser werden das überblättern. Richtig ärgerlich ist der Umgang ausgerechnet mit einem Text von Kurt Tucholsky. Eigentlich heißt das Ärgernis Hans Ostwald. Berliner Sozialgeschichtler kommen um den nicht herum. Aber Historiker sollten von Ostwalds mitunter großzügigem Umgang mit Quellentexten wissen. Unter seinem Namen findet sich im besprochenen Buch ein Textchen über „ein Liedchen aus der Inflationszeit“ mit dem Titel „Wir versaufen unser Oma ihr klein Häuschen“. Robert Steidl schrieb das 1922 für den Kölner Karneval. Gut, Steidl war wenigstens Berliner. Ostwalds Text aber besteht zu zwei Dritteln aus einem Feuilleton Kurt Tucholskys. Das erschien am 14. Dezember 1922 unter dem Titel „Ein deutsches Volkslied“ in der Weltbühne. Es ist bedauerlich, dass die Herausgeber statt des Originals einen Zweitaufguss liefern – noch dazu aus der Feder eines Autors, der gegen Ende seines Lebens um die Gunst der Nazis buhlte. In der nächsten Auflage lässt sich das sicher leicht korrigieren.
Ansonsten handelt es sich um eine liebenswerte Publikation, die Ihnen nachdrücklich ans Herz gelegt sei. So ganz nebenbei befördert sie auf vergnügliche Art das Nachdenken über einen der unangenehmsten Begleitumstände des modernen Lebens, das Geld. Denn: „Jeld allene macht nich glücklich, man muss och wat haben.“ So das letzte Wort der Herausgeber. Aber die gewöhnlichen Berliner haben wenigstens Likör… Denn: „Wer Schulden hat, hat och Likör!“ Prost auf ein gelungenes Museums-Buch!
Christine Friedrich/Lavinia Meier-Ewert/Andreas Resch: Schulden in Berlin. Ein Lesebuch, Verlag M – Stadtmuseum Berlin GmbH, Berlin 2012, 240 S., 19,90 Euro
Schlagwörter: Berlin, Hans Ostwald, Matthew D. Rose, Schulden, Stadtmuseum, Wolfgang Brauer