15. Jahrgang | Nummer 8 | 16. April 2012

Schönes schreckliches Worpswede

von Wolfgang Brauer

Worpswede ist schön und Fischerhude ist noch schöner, und besonders schön sind beide, wenn der Frühling die Birken streichelt und die Veilchen zwischen den Bäumen blühen, die stillen dunklen Wasser im Sonnenlicht glitzern und der Himmel so wunderschön blau ist wie auf vielen Bildern Otto Modersohns (1865 – 1943) und Fritz Mackensens (1866 – 1953). Bewundern kann man die in der „Großen Kunstschau“ und im „Museum am Modersohn-Haus“ und in Fischerhude im „Otto-Modersohn-Museum“. Und wem dann noch Zeit bleibt, der pilgert sicherlich auch zum Worpsweder „Haus am Schluh“ und findet dort ein bemerkenswertes Erinnerungssammelsurium an Heinrich Vogeler (der berühmte „Barkenhoff“ präsentiert sich vorbildlich restauriert) und seine zum Zeitpunkt der Errichtung des Schluh-Ensembles von ihm bereits getrennte Frau Martha (1879 – 1961). Eine Idylle sondergleichen, in der man – falls man dies mag – „Heimatkunst satt“ in durchaus hervorragender artifizieller Qualität förmlich aufsaugen kann.
Doch Vorsicht, der Honig ist vergiftet. Über Mackensen erfährt man in Worpswede zum Beispiel, dass er „von 1933 bis 1935 … mit dem Aufbau und der Leitung der Nordischen Kunsthochschule in Bremen betraut“ wurde. Allerdings war der Maler führendes Mitglied des Worpsweder „Stahlhelm – Bund der Frontsoldaten“, 1933 wurde er SA-Mitglied, Vorsitzender des Worpsweder „Kampfbundes für deutsche Kultur“ (einer der unsäglichsten der unsäglichen NS-Kulturvereinigungen), am 1. Mai 1937 trat er in die NSDAP ein. 1952 erhielt Fritz Mackensen das Bundesverdienstkreuz und ist noch immer Ehrenbürger Worpswedes. 1937 trat übrigens auch Martha Vogeler in die NSDAP ein. Ihr „Haus am Schluh“ wurde zu einem der beliebtesten nationalsozialistischen Wallfahrtsorte des „Weltdorfes“, wie es Mackensen gerne bezeichnete. Martha Vogelers Tochter Bettina Müller zeigte 1942 im Berliner Schloss Schönhausen einen im „Haus am Schluh“ gefertigten „Schriftteppich mit den Worten des Führers“. Nach Widerstand sieht das weiß Gott nicht aus.
Mitgeteilt wird all dies von Ferdinand Krogmann in seinem Buch „Worpswede im Dritten Reich“, das kürzlich im Bremer Donat Verlag erschien. Krogmann befasst sich seit längerem mit dem Phänomen der 1945 urplötzlich erscheinenden Faschismusresistenz der norddeutschen Heimatkunst. In seinem jüngsten Buch weist er dezidiert nach, dass deren Protagonisten mitnichten am 30. Januar 1933 überraschend mit dem braunen Regime konfrontiert waren, sondern dessen Machtantritt entweder in völkisch-nationalistischen Vereinigungen oder in Gliederungen der Nazi-Partei sehr zielgerichtet mit vorbereiteten. Und sie stießen auf fruchtbaren Boden: Seit Ende der neunzehnhundertzwanziger Jahre lagen die NSDAP-Ergebnisse in Worpswede über dem Reichsdurchschnitt. „Die Zahlen offenbaren“, schreibt Krogmann, „Worpswede war eine Hochburg des Nationalsozialismus und der mit ihm verbündeten deutschnationalen Kräfte.“ Breiten Raum widmet der Autor der Darstellung des braunen Mycels, das auch in Worpswede alle Lebensbereiche durchzog. Seine Hauptquelle ist dabei die „Wümme-Zeitung“ jener Jahre. Das sichert große Authentizität, schmälert aber die Lesbarkeit einiger Absätze durch schier endlose Wiederholungen der immer gleichen Phrasen. Hier wäre weniger mitunter mehr gewesen. Worpswede mag in jenen Jahren im Vergleich zu anderen deutschen Gemeinden nicht unbedingt eine Solistenrolle im braunen Totentanz innegehabt zu haben. Aber es tanzte diesen Tanz mit und es tanzte ihn offenbar voller Überzeugung und mit Leidenschaft. Krogmanns Befunde sind eindeutig.
Ach ja, die Künstler – eine gewisse Distanz der „Geistigen“ zum NS-Regime hätte man sich denn doch im Stillen gewünscht. Sie praktizierten das genaue Gegenteil. Ferdinand Krogmann zitiert Mackensens Vorwort zur Studienordnung „der einzige(n) wahrhaft nationalsozialistische(n) Kunsthochschule in Deutschland“: Die Hochschule wolle „schöpfend aus dem Urgrunde deutsch-nordischen Volkstums“ mitarbeiten „am Aufbau arteigener Kultur im Sinne Adolf Hitlers“. Die Ankündigung wurde von der Nordischen Kunsthochschule eingelöst.
Auch Otto Modersohns Moorbilder waren ab 1933 wieder „in“. Allein 1934 verkaufte er, wie Ferdinand Krogmann mitteilt, über 60 Bilder und Zeichnungen. Seine Arbeiten verkörperten wohl nicht nur aus Sicht der neuen Machthaber auf geradezu vorbildhafte Weise die Blut-und-Boden-Ästhetik. Die Verkaufserfolge waren also programmiert. 1937 war Modersohn auf der Eröffnungsschau des „Hauses der Deutschen Kunst“ in München mit einem Bild vertreten. Auf der website des Fischerhuderschen Modersohn-Museums wird Christian Modersohn (1916 – 2009), der Sohn des Malers, zitiert, der meinte, „dass sein Vater sehr enttäuscht von der Qualität der in München gezeigten neueren Bilder und Skulpturen war.“ Das soll wohl zumindest eine Art ästhetischen Widerwillens gegen das „Dritte Reich“ suggerieren. Modersohn hinderte dies nicht, die von Hitler am 30. Januar 1940 vorgenommene Ernennung zum Professor – eine in Kriegszeiten für ihn vom „Führer“ höchstderoselbst eingeräumte Ausnahme – anzunehmen und die Huldigungen des Gauleiters Otto Telschow (1876 – 1945) zu genießen. Krogmann verweist auf zeitgenössische Quellen, die Modersohn als „überzeugten Nationalsozialisten“ einstufen. Christian Modersohn trat am 9. November 1937 in die SA ein.
Die Schriftsteller bildeten keine Ausnahme. Ferdinand Krogmann beleuchtet zum Beispiel die Rolle, die Manfred Hausmann (1898 – 1986) in jenen Jahren spielte. Das war mehr die eines Knechtes des Führers denn die eines „Knechtes Gottes“, als den er sich nach 1945 gern darstellte. Hausmanns spätere Ausfälle gegen Thomas Mann und Günter Grass entsprechen seiner Rolle in der Zeit vor dem 8. Mai 1945. Dasselbe gilt für Waldemar Augustiny (1897 – 1979), dessen Roman „Die große Flut“ aus dem Jahre 1943 voll im Trend der faschistischen Literatur liegt. Die Fremden seien „wie ein Gift zu erachten, das in unsere Häuser schleicht und um sich frißt“, heißt es in diesem rassistischen Machwerk. Das war keine zwangsweise bedingte Anpassung an den braunen Zeitgeist. Der Autor zitiert an anderer Stelle einen Privatbrief Augustinys vom November 1945: „Die niedersächsische Rasse ist durch den Zustrom von Flüchtlingen dem Untergang preisgegeben.“ Der Mann schrieb, wie er dachte. Das war kein Opportunist. Da zieht sich ein kaum sichtbarer, aber offenbar sehr reißfester Draht zur heutigen „Sarrazin-Debatte“!
Und eben darum geht es. Wo „der Frage nach den Lehren aus dem Dritten Reich beharrlich“ ausgewichen wird (Krogmann), ist es nicht verwunderlich, wenn 2007 ein Platz am Rathaus nach einem SA-Obertruppführer, der „viel für den Ort getan habe“, benannt wird. Der Schoß scheint fruchtbar noch…
Worpswede ist schön und Fischerhude ist noch schöner. Lassen Sie sich nicht von einem Besuch abhalten. Aber gehen Sie wachen Auges durch die „Weltdörfer“ und betrachten Sie mit kritischem Blick deren unkritische historische Selbstinszenierungen. Erkenntnisgewinn dürfte Ihnen sicher sein. Und Ferdinand Krogmanns Buch ist dafür ein guter Wegbegleiter.

Ferdinand Krogmann: Worpswede im Dritten Reich 1933 – 1945, Donat Verlag, Bremen 2011, 304 Seiten, 19,80 Euro