15. Jahrgang | Nummer 6 | 19. März 2012

Realismus und Illusion (Egon Bahr zum 90. Geburtstag)

von Fritz Klein

Nicht, dass uns keine eigene Laudatio zum 90. Geburtstag von Egon Bahr am 18. März eingefallen wäre. Meine persönliche Bekanntschaft mit ihm reicht zum Beispiel bis Mitte der 80er Jahre zurück, als er – nach seinem Ausscheiden als aktiver Politiker – Direktor des Hamburger Institutes für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) war. Diese Bekanntschaft ergab sich im Rahmen des regelmäßigen wissenschaftlichen Austausches zwischen dem Institut für Internationale Politik und Wirtschaft der DDR (IPW) und dem IFSH, der bereits unter Bahrs Vorgänger, Wolf Graf von Baudissin, seinen Anfang genommen hatte. Und auch nach der deutschen Vereinigung ist meine Bekanntschaft mit Egon Bahr über die Jahre immer mal wieder erneuert worden – anlässlich manches Interviews, das mit ihm zu führen ich Gelegenheit hatte. Stoff genug also für eine Laudatio.
Was allerdings der langjährige
Weltbühne– und Blättchen-Autor Fritz Klein, der im vergangenen Jahr verstorben ist, schon zu Egon Bahrs 80. Geburtstag zu Papier gebracht hat, erscheint auch heute noch so lebendig, aktuell und zeitlos gültig, dass mir Besseres schwerlich eingefallen wäre.
So gratuliert die Redaktion Herrn Professor Egon Bahr aufs Herzlichste zu seinem Ehrentage, wünscht Gesundheit und Wohlergehen sowie eine nie versiegende Lust, sich ins gesellschaftliche Leben der Berliner Republik einzumischen – und schließt sich im Übrigen den Worten Fritz Kleins „vollinhaltlich“ an.

Wolfgang Schwarz
Redaktion

„Niemand macht sich Illusionen darüber, dass die Wiedervereinigung nur im Laufe eines allmählichen Prozesses vor sich gehen kann. Die erste Voraussetzung dafür aber ist die Einsicht, dass dieser Prozess unmöglich gemacht wird, wenn die eine Seite der anderen ihre völkerrechtliche Subjektivität bestreitet und sie dadurch von vornherein diffamiert. Was not tut, ist ein Höchstmaß an Objektivität. Sie gebietet, die Existenz der beiden bestehenden Staaten anzuerkennen. Sie verlangt ferner, dass sich beide deutsche Staaten national und international um eine Politik der Entspannung, des Ausgleichs und des Friedens bemühen, denn nur in einem solchen Klima ist an eine allmähliche Annäherung überhaupt zu denken.“
Was ich da im Oktober 1964 in der „Weltbühne“ schrieb, hört sich an wie ein Echo auf Äußerungen des Westberliner Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt und seines Pressechefs Egon Bahr auf einer Tagung der Evangelischen Akademie in Tutzing im Juli 1963. „Keine andere Aussicht auf die friedliche Wiedervereinigung unseres Volkes“ gebe es, hatte Brandt dort gesagt, „als den nicht erlahmenden Versuch, die Erstarrung der Fronten zwischen Ost und West aufzubrechen“. Bahr, der an der Vorbereitung der auf die internationalen Zusammenhänge konzentrierten großen Rede seines Chefs und Freundes Brandt maßgeblich mitgewirkt hatte, ging in seinem Diskussionsbeitrag vor allem auf die deutsch-deutschen Beziehungen ein. Man müsse von der Lage ausgehen, wie sie ist, forderte er, was bedeute, dass „jede Politik zum direkten Sturz des Regimes drüben aussichtslos ist“. Erleichterungen würden nur mit diesem Regime erreicht werden. In diesem Zusammenhang prägte er die berühmt gewordene Formel vom „Wandel durch Annäherung“. Vom „Regime drüben“ sprach Bahr, der bei der Schilderung dieser Vorgänge in seinen Erinnerungen, denen ich hier folge, bemerkt, dass im Sommer 1963 die Bezeichnung DDR für westdeutsche Politiker noch tabu war. Als wichtige Zäsur erwähnt er den Abschluss des Freundschaftsvertrages zwischen der Sowjetunion und der DDR im Juni 1964, der die Existenz der DDR für die nächsten zwanzig Jahre garantierte, mit automatischer Verlängerung um jeweils zehn Jahre, wenn nicht vorher gekündigt werde. Man musste beginnen, so schlussfolgerte Bahr, „sich für lange Zeit auf den Gedanken von zwei Staaten in Deutschland einzustellen und Wandel durch Annäherung in dieser Dimension zu denken“.
In eben dieser Dimension dachten in der DDR Verfasser von Sätzen wie den eingangs zitierten aus meinem Weltbühnenartikel von 1964. Leicht aber sollte man es sich nicht machen mit der Konstatierung von Ähnlichkeiten in Formulierungen. Mit ähnlichen, fast gleichlautenden Worten verbanden sich höchst unterschiedliche inhaltliche Vorstellungen. Was unter Wandel durch Annäherung eigentlich zu verstehen sei, war sogleich umstritten. Ba(h)rer Unsinn, fauchte Herbert Wehner. Wie nicht wenige in Bahrs Partei, der SPD, sowie der großen Mehrheit in den Unionsparteien und der FDP, witterte er hinter der Perspektive auf Annäherung die Stärkung des DDR-Regimes. Aggression auf Filzlatschen, knurrte DDR-Außenminister Otto Winzer, der die Perspektive auf Wandel als Drohung auffasste, das DDR-Regime auf dem Wege freundlicher Umarmung abzuschaffen. Eine kluge Beobachtung sei das gewesen, lobt Bahr heute, der sich von Winzer richtig verstanden sah.
Andere Stimmen in der DDR sahen das anders. Winzers Zurückweisung erschien ihnen wie der Stoßseufzer eines Mannes, der nicht fähig und nicht willens war, sich von den doch überholten Freund-Feind-Schemas zu lösen. Wer, wie Winzer, die DDR erhalten wollte, aber anders als dieser und die übrige Führung von Partei und Staat auf eine Veränderung in der DDR setzte, auf Reformierung des Systems in Richtung auf Offenheit und Demokratie, der begrüßte den Vorstoß Bahrs. Die Absage an die schroffe Konfrontation, die die gegenseitigen Beziehungen vergiftet hatte, die Aussicht, herauszukommen aus den Schützengräben des Kalten Krieges, die Orientierung auf Entspannung national wie international: ein neues Klima schien sich abzuzeichnen, so dachten nicht wenige, zu denen auch ich gehörte, in dem es leichter sein würde, eine ruhigere, vernünftigere Politik im eigenen Land zu treiben. Nicht Abschaffung, sondern Stabilisierung der DDR war das Ziel solcher Überlegungen, Stabilisierung freilich auf neuer Grundlage, ermöglicht durch gründliche Reformierung.
Wiedervereinigung rückte bei solchen Gedanken in den Hintergrund. Nur in einem lange währenden Prozess könne sie vor sich gehen, schrieb ich, eine wolkige Formulierung, die es gestattete, sich durchaus unterschiedliche Formen vorzustellen, in denen das schon wünschenswerte Ziel einmal erreicht werden könnte. Annäherung, friedliches Nebeneinander, aus dem, wenn es gut ging, eines Tages ein Miteinander werden könne: das waren die zunächst wichtigen Kategorien, in denen man sich bewegte. Konkrete Vorstellungen von dem schließlich zu erreichenden Zustand hatte unsereiner nicht, vor allem interessiert an den Möglichkeiten friedlicher Veränderung – auf beiden Seiten nota bene. In jedem Falle ausgeschlossen, weder wünschbar noch realistisch, erschien die Wiedervereinigung in der Form des schlichten Anschlusses der einen deutschen Gesellschaft an die andere. Mancherlei Illusionen waren da im Spiel. Die gravierendste im Hinblick auf die innere Entwicklung der DDR war die Hoffnung, auf dem Wege demokratischer Reformen eine bessere DDR zu erreichen. Die Reformresistenz der nur auf ihren Machterhalt bedachten, unbeweglichen politischen Führung war zu stark, die DDR-loyale Reformtendenz zu schwach, als dass solche Hoffnungen in Erfüllung gehen konnten -ganz abgesehen von der Einbindung der DDR in das sowjetische Machtsystem, das 1968 brutal demonstrierte, wie mit „befreundeten“ Sozialisten umgesprungen wurde, die eigene Wege zu gehen versuchten.
Wandel durch Annäherung lautete die Formel Egon Bahrs, eine vorsätzlich vage Aussage, was sogleich zu Spekulationen über das eigentlich anvisierte Ziel führte. Heute ist klar, wohin die Reise ging: Mauerfall und Zusammenschluss ganz Deutschlands in einer parlamentarischen Demokratie westlichen Zuschnitts. Unbestreitbar scheint mir die Tatsache, dass Bahr mit seiner zielbewussten, geduldig aber beharrlich die nationalen und vor allem internationalen Gegebenheiten auslotenden Politik vor und hinter den Kulissen immer wieder wesentliche Anstöße gegeben hat, dieses Ziel zu erreichen. Eindrucksvoll bezeugen das seine Erinnerungen. Frei von Illusionen, war er Realist, der immer wieder darauf drängte, politische Realitäten auf allen Seiten zu sehen, wie sie waren, sich nicht über sie hinwegzusetzen, sie als Voraussetzung eigenen Handelns zu akzeptieren – zugleich aber, eine nicht leichte Balance, sie nicht einfach hinzunehmen, sondern dort, wo sie veränderungsbedürftig und veränderbar schienen, auf ihre Veränderung hinzuwirken.
Logisch und folgerichtig erscheint heutigem Blick der Gang der deutschen Dinge vom Beginn der sechziger Jahre zur Wende von 1989/90. Nützlich aber ist es, der Mahnung Egon Bahrs zu folgen, die er – in anderem konkreten Zusammenhang, anwendbar aber auch für die hier interessierenden Vorgänge – in die Frage kleidete, wie man aus der Geschichte lernen wolle, „wenn sie nur so geschrieben wird, als hätte es nicht anders kommen können“. Die immer fragwürdige finale Geschichtsbetrachtung ist in unserem, ziemlich dramatischen, Fall besonders abwegig. Es hätte, nicht nur einmal, sehr wohl sehr anders kommen können, als es gekommen ist. Tieferes Verständnis für das, was geschah, verlangt immer den Vergleich mit anderem, was hätte geschehen können. Die Überlegung erinnert mich an die Umstände, in denen ich zum ersten Mal persönlich mit Egon Bahr zusammengetroffen bin.
Ein vom Axel Springer Verlag gegründetes FORUM FÜR DEUTSCHLAND veranstaltete vom 31. Januar bis 2. Februar 1990 eine Aussprache über „Die Überwindung der Teilung Europas – eine Perspektive für Deutschland?“, an der über hundert Persönlichkeiten aus beiden deutschen Staaten, sowie 15 Ländern aus Ost und West teilnahmen. Zwei Vorträge waren vorgesehen für die Sicht der Deutschen in der Bundesrepublik und der DDR. Bundesdeutscher Redner war Arnulf Baring. Mich hatte man eingeladen, den DDR-Part zu übernehmen. Zu den aktiven Teilnehmern in der Diskussion gehörte der Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, Egon Bahr. Alle Disputanten – namhafte Fachleute für internationale Beziehungen, Diplomaten, hochrangige Politikberater, Manager, Journalisten – stimmten überein in der Auffassung, dass mit der Vereinigung Deutschlands in nicht ferner Zukunft zu rechnen sein würde. Alle begrüßten diese Aussicht. Darüber aber, wie das geschehen solle und werde, besonders immer im Hinblick auf die Beziehungen Deutschlands zu seinen europäischen Nachbarn und zu den Großmächten USA und UdSSR, in welchem Tempo, mit welchen ökonomischen und politischen Schritten, in welcher Reihenfolge, wurden durchaus unterschiedliche Meinungen geäußert. Ein neues Moment kam in die Debatte, als am zweiten Tag der Konferenz, dem 1. Februar, Hans Modrow, Ministerpräsident der DDR, von einem Besuch in Moskau, wo er mit Gorbatschow konferiert hatte, mit einer Konzeption für den Weg zur deutschen Einheit zurückkehrte, der eine Wende in der Deutschlandpolitik der DDR ankündigte. Deutschland, so hieß es nun, solle wieder „einig Vaterland aller Bürger deutscher Nation werden“. („Laß uns Dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland“, hatte Becher seine Landsleute in dem seit Jahrzehnten nicht mehr gesungenen Text seiner Nationalhymne beschworen. Ob Modrow bewusst an den lange verpönten Appell anknüpfte?) Der Weg dahin solle über eine Vertragsgemeinschaft mit konföderativen Elementen, die Bildung einer Konföderation mit gemeinsamen Organen schließlich zur Bildung eines einheitlichen deutschen Staates in Form einer Deutschen Föderation oder eines Deutschen Bundes durch Wahlen führen. Schritt für Schritt sollten sich die beiden deutschen Staaten im Stadium der Konföderation von ihren Bündnisverpflichtungen lösen und den Status militärischer Neutralität erlangen. Die Nachricht von der Pressekonferenz Modrows, auf der er seine Konzeption öffentlich präsentiert hatte, sprach sich wie ein Lauffeuer auf der FORUM-Konferenz herum. Bahr schien mir förmlich elektrisiert. Er winkte mich zu sich und bat mich, ihm ehestmöglich einen Termin für ein Gespräch mit Modrow zu vermitteln. Dessen Vorschlag sei höchst bemerkenswert. Modrow sei ja viel weiter als der Kanzler, meinte Bahr, offenbar mit Blick auf Kohls Zehn-Punkte-Programm zur deutschen Einheit vom 28. November 1989. Mit der erbetenen Vermittlung konnte ich nicht dienen. Ich kannte Modrow nicht, hatte auch keine Verbindung zu seinem Apparat in Regierung oder Partei. Bahr muss wohl, als er mich fragte, angenommen haben, der DDR-Mensch, der da auf dem Podium saß, sei dort, wie früher immer üblich bei Westauftritten von DDR-Wissenschaftlern, in irgend einer Art von offiziellem Auftrag. Tatsächlich war das nicht der Fall. Ich verdankte die Einladung der persönlichen Bekanntschaft mit einem bundesdeutschen Kenner der DDR, dem früheren Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in der DDR, Klaus Bölling. Er hatte mich empfohlen, als ihn die Veranstalter fragten, wen man um den DDR-Beitrag zur Konferenz bitten könnte. Den Text meines Vertrags hatte ich mit niemandem abgestimmt, sondern einfach das gesagt, was mir richtig und wichtig schien.
Ob und auf welchem Wege Bahr den Kontakt zu Modrow aufgenommen hat, weiß ich nicht.
Was ihn an dessen Vorschlägen interessierte, war sicher die für die DDR neue, klare Aussage für die Herstellung der Einheit Deutschlands, vor allem aber wohl das Gewicht, das dieser Vorschlag des DDR-Politikers dadurch erhielt, dass es sich offenbar um eine jüngst mit der sowjetischen Führung abgestimmte Initiative handelte. Immer hatte der Realist Bahr betont, dass die deutsche Frage weder ohne noch gar gegen die Sowjetunion gelöst werden könne. Als unrealistisch allerdings kritisierte er an den Vorstellungen Modrows (und der Sowjetunion, wie er nicht ausdrücklich sagte, aber natürlich meinte) in der Diskussion des folgenden Tages die Idee der Neutralisierung eines vereinten Deutschlands. Die Entwicklung der Geschichte gehe auf Integration, Zusammenarbeit und Europäisierung, was für Verteidigung und Sicherheit ebenso gelte wie für die Wirtschaft. Er könne sich kein europäisches Sicherheitssystem oder das gegenwärtige Sicherheitssystem, das aus zwei Allianzen bestehe, vorstellen mit einem dazwischenliegenden neutralisierten Deutschland.
Auch wer die Vorstellung nicht unsympathisch fand, Deutschland nach den schlimmen Erfahrungen der beiden Weltkriege zu neutralisieren und so mit Sicherheit von neuem Unheil abzuhalten, wird verstehen, dass der Modrow/Gorbatschow-Plan in der gegebenen Kräftesituation nicht durchzusetzen war. Er war illusionär, die Kritik Bahrs realistisch. Vergessen werden dürfte dabei aber nicht, dass ein Mann wie Egon Bahr, wenn er Bündnisse für notwendig erklärte, dabei immer an eine friedensichernde Funktion von Allianzen dachte, die zu denken waren als Bausteine eines internationalen Sicherheitssystems, das zusammengehalten wird und funktioniert durch gewiss interessengeleitetes, rivalisierende Interessen aber berücksichtigendes Handeln seiner Teile. Grundsätze bestimmten Bahrs Denken und Handeln, denen man – hoffentlich nicht illusionär – fortwirkende Dauerhaftigkeit wünschen möchte.

Übernommen aus: Architekt und Brückenbauer. Gedanken Ostdeutscher zum 80. Geburtstag von Egon Bahr. Herausgegeben von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2002. (Die Orthographie des Originals wurde beibehalten.)