28. Jahrgang | Nummer 22 | 15. Dezember 2025

Voltaire und das Recht auf geistigen Irrtum

von Detlef Jena

François Marie Arouet – Voltaire – wurde 1694 in Paris geboren (gestorben 1778 alldort). Das „Zeitalter Voltaires“ ist ein Fixum der Weltgeschichte, verbunden mit der Aufklärung. Doch weil die Vernunft vermeintlich größere Chancen besitzt gehört zu werden, wenn sie sich mit der Gewalt verbindet, schmückten Voltaires Geist auch die glanzvollen Tafeln des Königs Friedrich II. von Preußen. Aber er konnte sich auch deren Machtgelüsten nicht entziehen.

Apropos Katharina! Hinreißend korrespondierten „Monsieur“ und Madame“ miteinander. Der gutwillige Menschenfreund Voltaire war festen Glaubens, dass sie die Wahrheit sagte, wenn sie schrieb, dass in Russland nicht nur jeder Bauer „ein Huhn im Topf“ hat, sondern dass sich das ganze Reich auf dem Wege zu einer modernen und aufgeklärten Monarchie befand. Voltaires geflügeltes Wort, C’est du Nord aujourd’hui que nous vient la lumière – Heute kommt das Licht aus dem Norden zu uns, belegt das Recht eines großen Philosophen auf geistigen Irrtum.

Er mutmaßte in Russland einen modellhaften Staat, in dem Aufklärung, Toleranz und Gewissensfreiheit bereits verwirklicht wären. Trotz aller feingeistigen Korrespondenzen! Voltaire ist niemals in Russland gewesen, hat der großen Katharina niemals in die Augen gesehen, hatte zu keiner Zeit Einblicke in das innere Machtgefüge des Imperiums. Somit lastet die Aura eines Stammvaters ganzer Heerscharen von selbsternannten Experten innerrussischer Geheimpolitik auf ihm, die seither jeden Ost-West-Konflikt begleiten. Voltaire sparte nicht mit praktischen Ratschlägen, die aggressive russische Orientpolitik zu forcieren und Russlands Krieg gegen das Osmanische Reich zu unterstützen.

Insbesondere Voltaires Haltung zum Islam trug kulturkämpferische Züge. Die Anstöße zu dem Gedanken, ein neues griechisches Kaiserreich unter Ausschaltung der Türken auf dem Balkan zu errichten, entstammten dem Briefwechsel Katharinas mit Voltaire. Im November 1768 hatte Voltaire den Gedanken geäußert, Konstantinopel müsse zur Haupt­stadt des Russischen Reichs erhoben werden. Er vertiefte die Idee in vielen Briefen. Er beschwor die Vertreibung der Türken aus Europa. Die Inthronisation Katharinas II. in Konstantinopel hielt er für ein begehrenswertes Ziel. Die Befreiung Griechenlands von den Osmanen betrachtete Voltaire als kulturelle Tat von europäischem Rang. Er forderte einen großen expansiv-zivilisatorischen Aufmarsch Russlands auf dem Balkan.

Mit den russischen militärischen Erfolgen in den Jahren 1769 und 1770 stieg Voltaires Hoffnung. Er fragte an, ob er der Kaiserin in Jassy, Adrianopel oder in Konstantinopel zu ihren Siegen gratulieren dürfte. Katharina gefiel diese Euphorie. Im August 1770 schrieb sie überschwänglich, dass es wohl an der Zeit sei, Griechisch zu lernen. Katharina sah das nahende Ende des türkischen Sultans voraus. Sogar der preußische König klatsche trotz seiner argwöhnischen Blicke auf die russischen Kriegserfolge Beifall und lobte Katharinas zivilisatorische Leistungen. Nach dem Sieg der Russen in der Seeschlacht bei Tschesme sah Friedrich II. das Mittelmeer bald mit russischen Schiffen bedeckt und die russischen Fahnen auf den Ruinen von Sparta und Athen. In Konstantinopel zittere man bereits vor der russischen Flotte.

Als sich der Krieg aber hinschleppte und die Aussichten auf eine Kaiserkrönung Katharinas in Konstantinopel düsterer schienen, schrieb Voltaire an Katharina: „Allmählich verzichte ich auf die schönen Hoffnungen, die Mohammedaner aus Europa vertrieben zu sehen und eine Renaissance der Beredsamkeit, Dichtung, Musik, Malerei und Bildhauerkunst in Athen zu erleben. Weder Sie noch der Kaiser wollen zum Bosporus eilen.“ Geradezu vor den Kopf ge­stoßen fühlte sich Voltaire, als Preußens König ihm im Oktober 1772 auf die Mahnung, sich doch endlich an dem Kreuzzug gegen die „Ungläubigen“ zu beteiligen, unverblümt antwortete: „Weder der Kaiser noch ich werden zum Kreuzzug gegen den Halbmond blasen. Wer hat heute noch Lust, Reli­quien von Jerusalem nach Hause zu schleppen. Wir hoffen vielmehr, dass es in diesem Winter zum Frie­den kommt.“

Voltaires Aversionen gegen den Islam fußten auf dem zeitgenössischen westeuropäischen Kontext der Machtpolitik im Verhältnis zwischen Orient und Occident. Doch wie brachte er das mit den imperialen Interessen der russischen Autokratie in Einklang? Es war im Grunde ganz einfach. Voltaire vertraute nahezu blind auf das von Katharina II. kunstvoll gemalte Bild ihrer Selbstdarstellung, das ihm gegenüber keinerlei Zweifel an der selbst bestimmten historischen Mission und Größe erlaubte. Wann hätten derartige Potentaten in der Geschichte keine Furore gemacht!

Katharina, die einstige deutsche Prinzessin aus dem Anhaltischen, fühlte sich wohlig geschmeichelt. Der große Voltaire akzeptierte sie als mächtige Frau in Europa und als Befreierin vom osmanischen Druck auf den Kontinent. Katharina wollte sich dem Bewunderer und Philosophen als ebenbürtig erweisen – auf dem Schlachtfeld, vor allem jedoch in ihren Briefen, die sie unermüdlich in die Welt sandte. Es fiel ihr allerdings durchaus nicht leicht, treffende Formulierungen zu finden, die sie selbst in das rechte Licht rückten, in dem sie in Europa gesehen werden wollte. Katharina litt unter der Graphomanie. Sie lebte unter dem Zwang, stets und ständig aufschreiben zu müssen, was sie gerade so dachte und empfand. Ihre Briefentwürfe an Voltaire sind ein Musterbeispiel für mangelnde Konzentration, Oberflächlichkeit und mühsame Versuche, solche Korrekturen zu finden, mit denen sie den besten Eindruck bewirken konnte.

Katharina, deren Ruf als aufgeklärte Reformerin von den westlichen Aufklärern nicht genug gepriesen werden konnte, hatte bis 1767 ihre „Instruktion“ (Nakas), mit der sie Russland ein modernes europäisches Gesicht verpassen wollte, aus den Werken westeuropäischer Aufklärer zusammengeschrieben. Bis 1768 hatte eine große Beratung in Moskau herausgefunden, dass die Worte wohl ehrenhaft waren, in Russland aber keine Chance zur praktischen Verwirklichung besaßen. Für bürgerliche Rechte und Freiheiten gab es keine Voraussetzungen. Katharina atmete erleichtert auf, als es 1768 zum russisch-türkischen Krieg kam. Sie konnte ihre Instruktion als gescheiterten Versuch zu den Akten legen.

Gegenüber Voltaire hatte sie von Beginn an das Bild vermittelt, die Einführung einer westlichen Bürgergesellschaft wäre unter ihrer Herrschaft lediglich eine Frage der Zeit. Nach 1768 konnte Katharina nicht zugeben, dass ihr idealer Plan gescheitert war, dass die Ideen der Aufklärung, die sie verbal zu ihren eigenen gemacht hatte, nicht auf Russland anwendbar waren. Das fiel ihr sichtlich schwer. In den Briefentwürfen existiert kaum ein Satz, der nicht doppelt, dreifach oder noch öfter korrigiert, umgeschrieben oder ganz gestrichen worden ist. Sie konnte nicht mehr mit abgeschriebenen Lehrformeln überzeugen, war es aber gewohnt, dass ihre Handschreiben in Russland Dokumente des kaiserlichen Willens waren und als solche von den Untertanen als solche akzeptiert wurden. Katharina rang nicht um die beste Formulierung im Interesse der Sache. Sie suchte nach den geschicktesten Allgemeinplätzen, damit Voltaire sie nicht auf einmal gegebene Versprechen festnageln konnte. Katharina wollte doch so gerne ein historisches Vorbild für Europa sein.

Ehre, wem Ehre gebührt: Russland war eine mit den Westmächten konkurrierende Großmacht! Sie galt als faszinierende Frau mit einer Hinwendung zu aufgeklärter Bildung, Wissenschaft und Kunst, ohne die Grundlagen der Autokratie anzutasten. Ihren Ruf als „die Große“ gewann sie aus der expansiven Vergrößerung des Reichs nach Süden, argwöhnisch beobachtet von den westlichen Monarchen. Sie figuriert als eine herausragende Persönlichkeit der Weltgeschichte, ebenso wie Voltairen in der Philosophie.

Doch der Begriff der „Weltgeschichte“ ist ein eigen Ding und beruht nur selten auf objektiven Kriterien. Das ist kein Wunder, zumal, wenn Politiker oder Herrscher die Objekte der Begierde sind. In einer Zeit wie der heurigen, in der vor dem Hintergrund des Kriegs um die Ukraine die Vision einer nie gekannten amerikanisch-russischen Friedens- und Geschäftsunion aufleuchten, in der das alte und stolpernde Europa die Scherben des Kriegs aufhäufen soll, wird wohl niemand den Ruhm Katharinas II. preisen. Und die Voltaires? Sie dürfen wieder einmal der alten Weisheit gedenken: Nur wenn sich die menschliche Vernunft des Zorns bedient, wird sie eine größere Durchschlagskraft erringen!