28. Jahrgang | Nummer 21 | 1. Dezember 2025

Das Taschentuch

von Renate Hoffmann

Ein Schnupfen hockt auf der Terrasse,
auf dass er sich ein Opfer fasse –
und stürzt alsbald mit großem Grimm
auf einen Menschen namens Schrimm.
Paul Schrimm erwidert prompt: „Pitschü“
und hat ihn drauf bis Montag früh.

Christian Morgenstern

Der Dichter, der seine urkomischen Gesänge „kleine, dumme Schmetterlinge“ nannte, die ihm im Alltag zuflatterten, erdachte diese Parodie auf die typische Herbst-Misere. Er vergaß jedoch zu erwähnen, wie Paul Schrimm die Tortur so rasch überwinden konnte (bis Montag in der Früh!); mit Inhalationen oder durch Spülung mit Kochsalzlösung, Nasenspray et cetera, et cetera? Vor allem aber ausgestattet mit genügend Taschentüchern! Paul Schrimm ahnte vermutlich nicht, welch langjährige Vergangenheit das nützliche Tüchlein vorweisen kann, bevor es zu dem wurde, was es für uns heutzutage bedeutet.

Die kultivierten Römer der Antike gebrauchten bereits Tücher zur Körperpflege, die sie in einer Falte ihrer Toga trugen und als „Schweiß-“ und „Mundtücher“ verwendeten. Zwar auch ein „Tuch in der Tasche“, aber noch nicht zum profanen Schnäuzen vorgesehen. –

Eine ganz andere liebenswertere Aufgabe übernahm das besondere Stücklein Stoff im Minnedienst des Mittelalters. Alle Geheimnisse, Ansinnen, Versprechungen, Wünsche, Schwüre, Geständnisse, Verabredungen konnten mithin – ohne Worte – ausgetauscht werden.

Allmählich kam der Gedanke auf, man könne doch ein Stück Stoff herstellen, welches ausschließlich der Nasenreinigung diene. Ein Weber aus Flandern soll um 1300 diese Überlegung in die Tat umgesetzt haben. Seine Idee fand allerdings wenig Zustimmung. Nach wie vor schnäuzten sich niedere und höhere Kreise mit zwei Fingern der rechten Hand. Aus Höflichkeit wechselten höher gestellte Herren zur linken Hand über, wenn sie die Damen zum Menuett aufforderten.

Doch das „Tüchlein“ wandelte alsbald seine Bestimmung und galt nicht nur zum Schweiß abtupfen und Mund säubern, es wurde zum „Ziertuch“. Eine noble Aufwertung. Das „Fazzoletto“ (italienische Bezeichnung) trug man in der Hand als schmückendes Beiwerk zur Garderobe. Seine reichen Stickereien oder gar die Bestückung mit Edelsteinen kündeten von Reichtum und Ansehen der Person. Mithin ein Prestigeobjekt. Die Damen taten ein Übriges und versahen das „Fazzoletto“ mit ihrem Lieblingsparfüm, ehe sie es dem Herrn ihrer Neigung überließen. Danach hieß es schlicht „Schnüffeltuch“.

Nachdem die Männer zum Schnupftabak griffen, trat erneut eine Wandlung ein. Nunmehr sprach man vom „Schnupftuch“. Das „Ziertuch“ war der gewohnten Aufmerksamkeit enthoben. Und der Gebrauch näherte sich endlich dem gültigen Begriff des „Taschentuches“, eingesetzt zur Reinigung der Nase. Eines aber war, zumindest den Damentaschentüchern, vom „Fazzoletto“ geblieben. Sie erhielten durch kunstvolle Häkelarbeiten hübsche Zierränder und somit einen Hauch von Eleganz.

Im 19. / 20. Jahrhundert geschah eine grundlegende Veränderung in der langen Taschentuch-Geschichte. Das Papiertaschentuch wurde erfunden. Die Vereinigten Papierwerke Nürnberg stellten – auf der Basis vorangegangener Entwicklungen – ein Produkt aus reinem Zellstoff her. Sie gaben der Neuheit die Warenbezeichnung „Tempo“. Die „Tempos“ bedurften ebenfalls einer Einführungsphase. Noch im Jahr 1968 erhielt das Papiertaschentuch eine Zurückweisung in dem französischen Film „Geraubte Küsse“. Die Hauptpersonen Antoine und Christin sitzen auf einer Bank im Park. Antoine zieht die Nase hoch und bittet Christin um ein Taschentuch. Sie reicht ihm eines aus Papier. Er weist brüsk ab: „Nein, Papiertaschentücher mag ich nicht!“

Zwischenbemerkung: Das einfache „Tüchlein“ zum Naseputzen brachte es sogar zu einem eigenen Baum, dem „Taschentuchbaum“ (Davidia involucrata). Die weißen Oberblätter der Pflanze erwecken den Eindruck, als hingen weiße Taschentücher in den Zweigen.

Es erstaunt nicht, dass ein Fetzchen Stoff die Dichter auf den Plan rief. Allen voran Christian Morgenstern, der in seiner unverwechselbaren Art ein Gespenst erfand, das Taschentücher frisst („Das Gespenst“). „Es gibt ein Gespenst, / das frißt Taschentücher; / es begleitet dich / auf deiner Reise, / es frißt dir aus dem Koffer, / aus dem Bett, / aus dem Nachttisch, / wie ein Vogel / aus der Hand, / vieles weg, – / nicht alles, nicht auf ein Mal. / Mit achtzehn Tüchern, / stolzer Segler, / fuhrst du hinaus / aufs Meer der Fremde, / mit acht bis sieben / kehrst du zurück, / ein Gram der Hausfrau.“

Stendhal (Marie-Henri Beyle) lässt in seinem Roman „Die Kartause von Parma“ Fabrizzio del Dongo seiner Geliebten Clelia Conti ein Sonett von Petrarca, gedruckt auf einem seidenen Taschentuch, überbringen. – Im Schauspiel „Othello“ von William Shakespeare ist ein Taschentuch letztendlich der Anlass zu Desdemonas Tod.

Das originellste Tuch aller Tücher zum Naseputzen ist das „Denk-Dran-Taschentuch“ in der Geschichte von „Pettersson und Findus“ des Schweden Sven Nordqvist. Pettersson, ein etwas sonderlicher alter Mann, und der quicklebendige Kater Findus mit den grünen Augen. sind zwar ein ungleiches, trotz allem gut eingespieltes Paar. Findus bemerkt in Petterssons Taschentuch einige Knoten und fragt nach ihrer Bedeutung. Pettersson erklärt, das seien „Denk-Dran-Knoten“, die ihn jeweils an eine wichtige Sache erinnerten. – Eine interessante Methode, die ich gern übernehme. Hoffentlich fällt mir bei jedem Knoten die „wichtige Sache“ ein, die sich dahinter verbirgt!