28. Jahrgang | Nummer 20 | 17. November 2025

200 Jahre Krisenzyklus

von Jürgen Leibiger

Am 27. September 1825 nahm die englische Stockten-Darlington-Bahn als erste dampfbetriebene Eisenbahnstrecke der Welt ihren Betrieb auf. Der Zug mit mehreren hundert Passagieren wurde von Robert Stephensons „Locomotion No. 1“ gezogen. Die Finanzierung und Eröffnung der Bahn war die Spitze eines Eisbergs von industriellen Start-Ups im England jener Jahre. Hinzu kamen spekulative Engagements in Latein- und Südamerika.

Der Boom erwies sich als eine veritable Überakkumulation von Kapital, mit der Nachfrage und Profite nicht mithalten konnten. Ab Herbst begannen Preise und Kurse zu sinken, eine ganze Reihe unternehmerischer und finanzieller Spekulationen erwiesen sich als Luftschlösser. Im Dezember erreichte die Panik ihren Höhepunkt und konnte nur dadurch etwas abgemildert werden, dass die Bank of England alte, längst außer Kurs gesetzte und in ihrem Keller gebunkerte Banknoten wieder in Verkehr brachte. Unternehmen und Finanzinstitute gingen trotzdem reihenweise Pleite; die verschuldete Stockten & Darlington Railway überlebte, weil ein Investor im Januar 1826 Geld nachschießen konnte. Die Zahl der Konkurse verdreifachte sich zwischen 1824 und 1826. Schließlich war die Überproduktion vernichtet und viele Finanztitel verbrannt. Allmählich setzte ein neuer Aufschwung ein, der in einen erneuten Gründungsboom und 1836/37 in die nächste Krise mündete.

Mit der Krise von 1825 begann der zyklische Verlauf der kapitalistischen Akkumulation, der Kreislauf von Prosperität, Überproduktion, Krise und Stagnation. In jenen Jahren hatte die industrielle Revolution eine Reife erreicht, wo der Zusammenbruch von Industrieunternehmen die ganze Volkswirtschaft, und ab 1857 – der ersten umfassend internationalen Krise – die ganze kapitalistische Weltwirtschaft in Mitleidenschaft zog. Trotz aller Metamorphosen, die der Kapitalismus seitdem durchlief und trotz der Etablierung einer Konjunkturpolitik existiert dieser Zyklus bis heute. Das National Bureau of Economic Research (NBER) der USA registriert seit den 1850er Jahren bis heute und unter Einbeziehung auch kleinerer Rezessionen insgesamt 45 Zyklen.

Obwohl der Konjunktur- oder Krisenzyklus in der ökonomischen Theorie seit langem thematisiert wird (1825ff entbrannte darüber ein Disput zwischen den Ökonomen Sismondi und Say; Marx und Engels schrieben in den 1840er Jahren darüber und 1862 veröffentlichte Clément Juglar eine erste umfassende Theorie) und im zwanzigsten Jahrhundert eine auch institutionell verankerte Konjunkturforschung etabliert wurde, leugnen nicht wenige Theoretiker, dass die zyklischen Krisen ihre Ursache in inneren Zusammenhängen der kapitalistischen Wirtschaft haben. Schließlich sei schon in der Bibel von den sieben guten und den sieben schlechten Jahren die Rede gewesen.

2004 sprach Ben Bernanke, Chef der US-Zentralbank von einer „great moderation“; man habe das Auf-und-Ab der Wirtschaft endgültig überwunden. Die Krise von 2007/2009 lehrte die Zunft der Ökonomen eines Besseren und der Nobelpreisträger Paul Krugman schrieb einen langen Essay darüber, wie die Ökonomen nur so falsch liegen konnten. In Deutschland erwachte schließlich auch der über viele Jahre neoklassisch geprägte Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und veröffentlichte 2018 nach dem Vorbild des NBER erstmals eine Datierung der sechs deutschen Konjunkturzyklen seit 1950.

Die Abfolge von Prosperität, Überproduktion, Krise und Stagnation wird im Einzelfall von vielen konkreten Besonderheiten überlagert. Im 20. Jahrhundert verformten vor allem die beiden Weltkriege und im 21. Jahrhundert die Pandemie den Zyklus. Andere hervorstechende Ereignisse sind sogenannte „Große Krisen“, Krisen von besonderer Schwere, denen längere depressive Zustände folgten und die mit strukturellen und teils politischen Einschnitten verbunden waren.

Karl Marx hatte die 1850er Jahre hindurch eine Krise vorausgesagt, die dann 1857 „endlich“ auch ausbrach. Sie war nicht nur Anlass für eine fast zweihundert Seiten umfassende Materialsammlung zu dieser Krise (die erst 2017 veröffentlichten „Krisenhefte“), sondern auch für das Verfassen der berühmten „Grundrisse“. Er wollte seine Grundgedanken niedergeschrieben haben, bevor diese Krise zu einer Revolution geführt hätte und er dann keine Zeit mehr für theoretische Arbeiten zu haben glaubte. Marx irrte sich gründlich, was die Folgen dieser Krise anbelangte, er irrte aber nicht bezüglich der Tatsache, dass Krisen zu Katalysatoren bestimmter geschichtlicher Entwicklungen und politischer Einschnitte werden können. Dies gilt besonders für die „Großen Krisen“ von 1873, 1929, 1973 und 2007/2009.

Im letzten Viertel des 19. Jahrhundert vollzog sich das Hinüberwachen des Kapitalismus in sein monopolistisches und imperialistisches Stadium, das in den Ersten Weltkrieg und die nachfolgenden Revolutionen mündete. Die Weltwirtschaftskrise von 1929/33 brachte nicht nur die Wende zu Faschismus und Krieg, sondern mit dem New Deal in den USA und der „keynesianischen Revolution“ auch die Strategie zur Krisenbekämpfung und eine staatliche Wirtschaftsregulierung hervor. Bemerkenswert, dass die deutsche Brüning-Regierung in jener Situation statt einer die Nachfrage fördernden expansiven eine restriktive Geld- und Haushaltspolitik verfolgte und die Erfahrungen der Bank von England von 1825/26 und späterer Jahre ignorierte.

Die Krise von 1973 war mit dem Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods verbunden und führte eine wirtschaftsstrategische Wende herbei, die als „monetaristische Konterrevolution“ bezeichnet wird. Was die jüngste Große Krise mit sich bringt, lässt sich täglich in den Nachrichten verfolgen. Die sprunghafte Verschärfung der internationalen Konkurrenz zwischen Konzernen, Staaten und Staatengruppen führt zu Protektionismus und zu gigantischen Bemühungen der Regierungen zur Beschleunigung des nationalen Innovationsgeschehens. Manche Kommentatoren sprechen vom Ende der marktradikalen, neoliberalen Ära.

Es ist interessant, dass in dieser Situation der Wirtschaftsnobelpreis an Ökonomen vergeben wurde, die vor allem die Innovationen als Motoren des Wirtschaftswachstums herausstellen und eine mathematische Theorie der „schöpferischen Zerstörung“ entwickelten. Dieser Begriff geht auf Joseph A. Schumpeter zurück, der die zyklische Entwicklung mit Innovationen in Zusammenhang brachte. Sie würden alte Strukturen zerstören, aber zugleich Antrieb für wirtschaftlichen Aufschwung sein. Dieser Prozess vollziehe sich in „langen Wellen“, einem überzyklischen Auf-und-Ab der wirtschaftlichen Entwicklung. Die Idee von der Existenz solcher Wellen geht auf den sowjetischen, unter Stalin ermordeten Ökonomen Nikolai Kondratieff aus den 1920er Jahren zurück. Der Statistiker identifizierte eine 40- bis 50-jährige Welle, die den 7- bis 10-jährigen Konjunkturzyklus überlagere. Ihm zu Ehren werden diese Wellen als „Kondratieff-Zyklen“ bezeichnet. Die häufigste Erklärung dafür ist ein scharenweises Auftreten grundlegender „Basisinnovationen“, die – so, wie die Erfindung des Autos mit der Schaffung eines neuen Industriezweigs und eines völlig veränderten Verkehrssystems verbunden war – eine massenhafte Neuanlage von Kapital hervorbringen, bevor dieser Schub wieder abebbt. Es wird vermutet, dass die heutige KI-Revolution möglicherweise eine neue lange Welle generieren könnte. Aber vielleicht mündet das alles auch – vergleichbar dem Platzen der Dotcom-Blase zu Beginn dieses Jahrhunderts – in einer neuen zyklischen Krise.

Es ist schon erstaunlich: Das Phänomen ist seit zweihundert Jahren bekannt und wird studiert, interpretiert und theoretisch erklärt. Und seit genau so vielen Jahren werden wirtschaftspolitische Strategien und Instrumente entwickelt und angewendet, um die Krisen zu bekämpfen und den Zyklus zu glätten. Manche Theoretiker meinen, es gebe überhaupt keinen Zyklus mit periodisch auftretenden Krisen, es gebe nur jeweils zufällige Konstellationen, die zu ökonomischen Schocks führten und eine Krise auslösten, aus der die Märkte im Prinzip selbst wieder herausfänden. Die Wirtschaftspraktiker scheren sich um solche Theorien einen feuchten Kehricht. Wem das Wasser bis zum Halse steht, greift nach jedem Rettungsring.

Als die Merkel-Regierung sich 2008 auf die Position der Selbstheilungskräfte des Marktes zurückziehen wollte und auf Konjunkturpakete verzichtete, fragte die internationale Presse: „Where is Angela?“ Man appellierte an die deutsche Kanzlerin, sie solle gefälligst ein staatliches Nachfrageprogramm auflegen und sich an der Rettung der Weltwirtschaft beteiligen. Merkel musste schließlich der Forderung nachkommen; ihr späterer Finanzminister Wolfgang Schäuble schrieb „Wir müssen umdenken – ja sogar durchaus keynesianisch“. Wie sehr übrigens Schäuble der Zusammenhang von Krisen und sozialen Umbrüchen bewusst war, zeigt sein Agieren in der Euro-Krise. Als er 2013 nach seiner Rolle in diesem Prozess gefragt wurde, fragte er zurück: „Was wäre gewesen, wenn uns in einem der Länder eine Revolution ausgebrochen wäre?“

Kommt bald eine neue Krise? Im Zusammenhang mit dem KI-Boom, den aufgeblähten Finanzmärkten und dem Preis-Boom beim vermeintlich krisensicheren Gold warnen manche Analysten davor. Während zweihundert Jahren tiefgreifender Veränderungen, wirtschaftlich-sozialer Fortschritte und theoretischer Erkenntnisse, auch hinsichtlich der Existenz zyklischer Krisen, ist der Kapitalismus der alte geblieben.