Doch, da war noch was. Was war denn da gleich? Ach ja, die Feier zur deutschen Einheit, erstaunlicherweise im Saarland. Vermutlich sollte Erich Honecker eine letzte Referenz erwiesen werden. Doch nein, so klar und so dialektisch um die Ecke kann in dieser Regierungsbürokratie niemand mehr denken. Wahrscheinlich gibt es seit Jahrzehnten einen Beschluss: rundherum, das ist nicht schwer, Hauptsache weit weg von der Zone der Betroffenen und ordentlicher Wein.
Passenderweise sprach dann auch kein einziger Ossi, sondern der französische Staatspräsident Emmanuel Macron. Die Rede war gut, sie war lebhaft und leidenschaftlich, so wie nie einer der deutschen Politiker reden würde. Aber am Ende rief der Würdige enthusiastisch aus: „Es lebe die deutsch-französische Freundschaft!“, und da hatte ich wieder die Sprüche während der ewig gleichen Freundschaftsfeste mit den Vertretern der Ruhmreichen im Ohr, die mit dem gleichen Pathos – doch mit Wodka statt Wein – immerzu auf die deutsch-sowjetisch Freundschaft anstießen. Und wir mit ihnen.
Alle, die wie ich in das siebzigste Lebensjahr gehen oder bald gehen werden, haben in beiden Teilen des Landes ungefähr gleich lange gelebt. Und die vergehenden Jahre summieren sich unerbittlich immer weiter zugunsten des jetzigen Systems. 35 Jahre sind eine lange Zeit, und es kostet Mühe, sich an diesen Wirrwarr aus Hoffnungen, Träumen, Utopien und knallharten Realitäten zu erinnern, der 17 Millionen Leben umgekrempelt hat und später als Fußnote der deutschen Nationalgeschichte wahrscheinlich nur wenige Zeilen umfassen wird.
Walter Benjamin schrieb, dass „gegenwärtiges Interesse es ausmacht, dass wir in die Geschichte zurückgehen“. „Es begann mit großen Hoffnungen“, sagte Christoph Hein bei einer Lesung seines Romans „Das Narrenschiff“ in der Kirche Pankow, aber „verloren gegangen ist viel“.
Es ist gar nicht besonders angenehm, in den eigenen Erinnerungen zu kramen.
Denn das ganze Beitrittsgebiet, anfangs „ehemalige DDR“, jetzt „damals-bei-uns-in-der-DDR“ genannt, wurde in den letzten Jahren kokongleich mit der Legende vom guten, schönen und einfachen Leben umsponnen. Hilfreich gegen diese Mythenbildung ist nur die schonungslose Erinnerung, zum Beispiel an volkseigene Konsumläden, links Rotkohl, rechts Weißkohl, Alkohol bis unters Dach, aber Milch ab 11 Uhr nicht mehr. Gut gegen die Rührung (ach ja, damals; weißt du noch …) sind auch DEFA-Spielfilme, die FDGB-Heime, Aufmärsche, Fahnen und Transparente ins Gedächtnis zurückbringen. Die schäbigen Bruchbuden ohne Bad und Fernheizung wären zu erinnern. Die Braunkohlen- und Abgasgerüche nicht zu vergessen!
Schlecht geschlafen habe ich, also müsste ich mich doch gut erinnern können. Was tat ich denn an diesem einmaligen Tag, dem 9. November 1989, der begann, wie tausende vor ihm? Ich tat das Gleiche wie am Tag davor und davor und an vielen, vielen Stunden und Tagen danach: ich saß vor der Glotze. Zwei Programme Ost und zwei Programme West ermöglichten es einigermaßen mitzukriegen, was läuft. Oder was laufen sollte. Die Frau und die Kinder reagierten auf meine ständigen Tag- und Nachtschichten auf dem Kanapee mit Unverständnis. Sie liefen jeden Montag mit um den Leipziger Ring und riefen den Spruch, dass sie das Volk seien: Wieder und wieder klang der Rhythmus durch den Abend: lang – kurz, kurz, kurz. Für die Kinder war es ein Abenteuer, mehr nicht.
Ich bekam vier Wochen vor dem Ende einen Pass und wurde in Hamburg im Angesicht der Alster von einem würdigen alten Herrn gefragt, wie mir Deutschland gefalle. Meine Sprachlosigkeit darauf hält bis heute an. Die Frage ist es wirklich wert, gründlich bedacht zu werden.
Am Tag der Tage ging die Familie früh ins Bett. Außer mir. Ich zappte ein paarmal hin und her und wusste dann, dass der Nachtschlaf kurz ausfallen würde. Schauderhafte und schöne Bilder ohne Ende, berauschend, einmalig! Am eindrucksvollsten war die Grenzöffnung zwischen Plauen und Hof, life im Westfernsehen zu besichtigen. Trabant auf Trabant hoppelte im Schritttempo auf kaum befahrbaren Feldwegen auf die Tore der Grenzsicherungsanlage zu. Sie ballten sich zur Schlange und warteten die ganze Nacht ohne ein Wort oder eine Geste. Pünktlich früh um sieben oder um acht stieg der erste Fahrer aus, klopfte an das von zwei zwanzigjährigen schwerbewaffneten Rotzlöffeln bewachte Grenztor und sagte im weichen Dialekt der Gegend: „In Berlin tanzn se schon auf dr Mauer. Nu macht ihr ooch ma uff!“
So war es im Fernsehen zu schauen. Ich habe keine Ahnung, ob‘s wirklich so war. Die Familie nahm beim Frühstück beiläufig Notiz. In der Schule fehlten 50 Prozent der Lehrer und 80 Prozent der Schüler. Die Geschäfte waren leer, Busse und Bahnen fuhren deutlich seltener als sonst. Ich war nur müde.
Und dann war die Mauer offen. Einfach so. Weil einer sich verquatscht hatte. Oder er hatte sich nicht verquatscht. Keine Ahnung. Alles fuhr los gen Wessiland, Begrüßungsgeld abholen. Peinliche Szenen die Menge. Neugeborene und Sterbende: alle mussten mit, jeder Hundertmarkschein zählte. Auch wir waren unterwegs in einem so überfüllten Zug, dass die Angestellten der Reichsbahn mit Megaphonen außen vorbeiliefen und dem Publikum mitzuteilen: „Die Achsenlast dieses Zuges ist überschritten. Mitreisen auf eigene Gefahr.“ Der Zug brauchte sechs Stunden statt derer zwei nach Berlin. Die Fahrt zurück (wieder 6 Stunden) war horrorhaft: betrunkene Väter, übermüdete, hungrige, ständig erbrechende Kinder, die über die Köpfe der überreizten Erwachsenen zur Toilette durchgereicht werden mussten; es war furchtbar. Nie wieder, sagte ich zu mit selbst und nahm wieder vor dem Fernseher Platz.
Mein damaliger Schwiegervater war ein mittelgroßes Rädchen im Rat des Kreises Leipzig. Die Situation in der DDR machte ihn krebskrank, aber als Egon Krenz zum neuen Oberhäuptling gewählt wurde, begann er, einen Brief an ihn zu verfassen. Der Brief wurde lang und länger, er wurde immer wieder verändert, gestrafft oder durch Selbstzensur entschärft, dann wieder kühn, manchmal prophetisch. Manchmal las er uns daraus vor. Die Sätze, die er wählte, bildeten ein rührendes Dokument von Hilflosigkeit, politischer und menschlicher Orientierungslosigkeit sowie lähmenden Zweifel an allem und jedem. Es war ihm schier unbegreiflich, dass diese einfache, logische und nachvollziehbare Idee, an die er geglaubt und für die er Jahrzehnte gearbeitet hatte, sich vor seinen und unsere aller Augen ins Nichts auflöste und durch die Art des Umgang mit dem angehäuften riesigen sogenannten Volksvermögens als Gaunerkomödie endete.
„Was können wir denn wirklich erinnern, was verblasst oder verschwindet im Gedächtnis. Gut zu schlafen und sich gut zu erinnern sind zwei verschiedene Dinge“, sagt Christoph Hein in seiner Lesung und bekennt seinen Zweifel, ob das Thema überhaupt noch jemanden interessieren würde. Mich jedenfalls interessiert es. Ich lese alles dazu, was ich kriegen kann. „Denn die Geschichte der DDR ist ein aufschlussreiches Lehrstück über die Entstehung und den Verfall einer Diktatur […]. Wir lernen aus der Geschichte der DDR, wie perfekt die Massenverdummung durch stupide Propaganda funktioniert und wie wirkungslos sie letztendlich bleibt. Wir erleben den Versuch, den ‚neuen Menschen‘ zu schaffen und konnten feststellen, dass der Mensch immer der alte bleibt […]. Historisch ist jeder Epilog gleichzeitig ein Prolog. Wie es die Menschen verstehen, das Erbe der Diktatur in Erfahrung umzusetzen, wird die Zukunft zeigen“ (Armin Mitter / Stefan Wolle: Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte, Goldmann 1993, antiquarisch noch zu haben).
Schlechte Zeiten sind aber auch immer gut für Witze, beispielsweise für diesen, der angeblich von Peter Ensikat stammt: „Walter Ulbricht spricht auf einer Konferenz und sagt: Genossen, der Sozialismus hat schon in einem Sechstel der Erde gesiegt und wenn wir so weitermachen, wird es bald ein Siebtel, ein Achtel, ein Neuntel und ein Zehntel sein.“ Und siehe da, Simsalabim, so geschah es.
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