Diesmal: „Die Wildente“ – Schaubühne / „Also träumen wir mit hellwacher Vernunft“ – Hans-Otto-Theater hinter der Glienicker Brücke in Potsdam
***
Schaubühne: Die Wahrheit sagen oder Lügen?
Den Grundstein für dieses entsetzliche Drama unter harmlos zoologischem Titel legte der steinreiche Geschäfts- und Lebemann Hakon Werle (Thomas Bading). Einst machte er mit Ekdal, seinem unterwürfigen Kompagnon (Falk Rockstroh), krumme Geschäfte. Die Sache flog auf. Ekdal, der Depp, bekam Knast. Werle, der Trickser, Freispruch. Und überweist für alle Erdentage Schweigegeld. Auch hatte er ein Verhältnis mit seiner Hausangestellten Gina (Marie Burchard), die er schwängerte. Prompt sorgte er dafür, dass sie Ekdals Sohn Hjalmar (Stefan Stern) heiratete, dem man die Hedwig, das Kind, unterschob (Magdalena Lermer). Werle zahlt für alle drei. Zur Befriedung seines schlechten Gewissens. Für seine gutbürgerliche Reputation. Es ist ein Sündenfreikauf mit Win-win-Situation für alle. Sie halten ihre Füße still und richten sich ein im Gespinst der Lügen. Werle als honoriger Glanzpunkt der feinen Gesellschaft sowie die verhärmten, lebensuntüchtigen Ekdals in ihrem trotz Sponsoring ärmlichen Kleine-Leute-Dasein.
Das könnte so weiter gehen bis ans Ende ihrer Tage. Würde da nicht Werles Sohn Gregers (Marcel Kohler) von weit auswärts hereinstürzen und mit aufklärerischem Furor alle die wohlgehüteten Geheimnisse aufdecken. Eine zerstörerische Aktion für die Ekdal-Familie. Tödlich endend für den Teenager Hedwig, der sich umbringt.
Wieviel Wahrheit verträgt ein Mensch, wieviel Verdrängung oder Lüge braucht er, um mit dem Leben klar zu kommen? Die Wahrheit als Medizin oder Gift fürs Glück des einzelnen wie fürs Zusammenleben? Immer wieder umkreist Henrik Ibsen (1828-1906) in seinen gut zwei Dutzend Dramen gut gehütete und brutal zerstörte Lebenslügen – also Grundfragen des Daseins.
Schaubühnenchef Thomas Ostermeier inszeniert gern solche das Politisch-Gesellschaftliche mit dem Persönlich-Psychologischen spannend verquickenden Sachen des Weltstars aus Norwegen: „Nora“ und „Hedda Gabler“; meisterlich subtile Arbeiten über Ehe-Elend und Frauen-Freiheit mit sensationellen Regiecoups. Dann, vor 13 Jahren, „Ein Volksfeind“. Da rückte Ostermeier das Problem politische Korruption demonstrativ in den Vordergrund, unter spektakulärer Einbindung einer aufgeregt kontroversen Publikumsdiskussion. Ein Riesenerfolg.
Auch jetzt, bei der „Wildente“, setzt die Regie aufs Agitatorische. Jedoch: Sie übertreibt maßlos, ignoriert weitgehend Ibsens psychologische Zeichnung der Figuren. Jagt sie gar mit freilich kunstfertiger Energie und ordentlich Zynismus an den Rand der Karikatur. Da spielt natürlich der von den Ekdals gezähmte Wildvogel als subtiles Symbol für unter Menschen scheinbar unmögliche Hingabe und Liebe keine Rolle mehr. Umso roher ist die in ihrer Art gekonnte Neufassung des Scripts von Maja Zade mit deftigem Unterschichten-Jargon. Auch die zweigeteilte Drehbühnen-Szenerie von Magda Willi ist schwer symbolisch: vorn Werles elegantes Reiche-Leute-Interieur, hinten das Ekdal-Prekariat zwischen Sperrmüll-Gemöbel.
Hauptsächlich dort wird voll krass gespielt. Keine Tragödie, eher wie Reality-TV. Die interessanteste Figur: Marcel Kohler als idealistisches Bürgersöhnchen Gregers Werle, das eben gerade nicht, wie immerzu eifernd gefordert, um Anstand und Aufrichtigkeit ringt, sondern nichts als Unglück stiftet mit seinem egomanischen Wahrheitsfetischismus. – Und ach, auch muss er noch aus seiner Rolle heraustreten, um (Diskussion!) ins Publikum die Frage zu werfen, ob und wie jemand enge Vertraute hintergangen habe. Erst Kichern, dann Stille. Wer will schon offen drüber reden, wie er seine Nächsten belog.
***
Hans-Otto-Theater: Ausharren oder Ausreisen?
„Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg!“ Das rief sie den Tausenden zur Demo auf dem Berliner Alexanderpatz zu. Anfang November 89 war das. Als Christa Wolf tagträumend „mit hellwacher Vernunft“ glaubte, die DDR, „das richtige und bessere Deutschland“, noch retten zu können – dabei hatte sie es innerlich längst aufgegeben. Schon damals, in den Sechzigern, als ihr „der Sozialismus wie eine Mauer gegenüberstand“. Oder als die Staatspartei jedes kritische Künstlerwort diffamierte als „Beleidigung der Werktätigen“. „Ich hocke im Loch und schreibe fürs Loch.“
Wie soll das nur gehen: eingeklemmt und dennoch weiterschreibend wirken zu wollen? Davon handelt der kaleidoskopartig weit aufgefächerte Abend „Also träumen wir mit hellwacher Vernunft“ von Sascha Hawemann mit Texten der wohl berühmtesten DDR-Schriftstellerin Christa Wolf.
Da wird noch einmal rasend, doch mit empathischem Ernst, in revueartig montierten Spielszenen, Sketchen, Kabarettnummern, Film, Gesang und Musik das Leben der Dichterin und ihrer zahlreichen prominenten Künstlerfreunde durchgeblättert. Und zugleich ein wesentlicher Teil der Geschichte dieses „halben Staates mit halbem Sozialismus alter Männer“, der seine Bürger zunehmend in die Frage zwängte: Bleiben oder Weggehen?
Da ist also das Literaten-Ehepaar Christa und Gerhard Wolf. Er als ihr unentbehrlicher Lektor. Als unermüdliche Lebensstütze für Christa, die beständig an sich sowie am Schreiben zweifelt. Und verzweifelt an der Politik („Unser Sozialismus ist antifaschistisch, aber liegt in Ketten.“). Gesundheitliche Leiden sind die Folge – „‚Neuropram‘ als Sputnik gegen Todesfurcht vom VEB Berlin-Chemie“.
Mit dem symbiotischen Paar verwoben ist in dieser zwischen Fiktionalem und Authentischem flirrenden Collage eine spektakuläre Figurensammlung: Sarah Kirsch, Krug, Reimann, Biermann, Brasch, Thalbach, Fred und Maxi Wander, Konrad Wolf, Anna Seghers, Ulbricht und Honecker. Heinz-Florian Oertel, Preil, Herricht und die Stern Combo Meißen (Guido Lambrecht, Paul Sies, Joachim Berger, Jan Hallmann können auch Rolling Stones). Und Christa Wolf gibt‘s gelegentlich gleich viermal (Ulrike Beerbaum, Janine Kress, Charlott Lehmann, Alina Wolff).
Die Liste besagt: Sascha Hawemann zeigt viel in vier Stunden, sicher allzu viel – bis hin zu den qualvollen Realismusdebatten und den gesammelten Wolf‘schen Werken, die sich gegen alles Verbieten letztlich durchsetzten. Das brachte Reisepässe, Auszeichnungen (Büchner-Preis, DDR-Nationalpreis mit 100.000 Mark) und weithin Verehrung. Christa wurde für viele zum moralischen Leitbild. Und klagte doch zeitlebens, dass ihr immer wieder „die Wurzeln ausgerissen wurden“. Keine wirkliche Heimat, nirgends. Aber: Sie hatte ihren Gerd.
Schlagwörter: Christa Wolf, Hans-Otto-Theater, Henrik Ibsen, Potsdam, Reinhard Wengierek, Schaubühne

