Dmitri Schostakowitschs Ruhm ging von Berlin aus. Am 5. Mai 1927 dirigierte Bruno Walter hier die 1. Sinfonie des damals 21-jährigen Leningrader Komponisten. Sie war eine Abschlussarbeit am Leningrader Konservatorium und hatte am 26. Mai 1926 in der Leningrader Philharmonie unter der Leitung von Nikolai Malko ihre erfolgreiche Uraufführung erlebt. Nikolai Malko war es auch, der Bruno Walter mit dem Werk bekannt machte. Der entschloss sich spontan, die Sinfonie auch in Berlin aufzuführen. Es wurde ein großer Erfolg für den noch völlig unbekannten Komponisten und die Initialzündung für eine Reihe weiterer Aufführungen in den westeuropäischen Musikzentren. Alban Berg gratulierte dem Komponisten in einem enthusiastischen Brief, kurz darauf dirigierten auch Otto Klemperer in Berlin, Leopold Stokowski in Philadelphia sowie Artur Rodzinski und Arturo Toscanini in New York das Werk, das Schostakowitsch lange vor der „Leningradere Sinfonie“ von 1942 den Weg zum Weltruhm ebnete.
1933 endete vorläufig Schostakowitschs deutsche Karriere. Seine Vorkämpfer Bruno Walter und Otto Klemperer emigrierten, und sowjetische Komponisten durften im faschistischen Deutschland nicht mehr aufgeführt werden.
1945 wurde der zerrissene Faden neu geknüpft. Die wahrscheinlich erste Schostakowitsch-Aufführung der Nachkriegszeit fand am 21. November 1952 im Kultursaal des EAW Treptow statt. Das neu gegründete Berliner Sinfonieorchester spielte unter der Leitung seines Chefs Hermann Hildebrandt die 9. Sinfonie.
Der eifrigste und erfolgreichste Fürsprecher Schostakowitschs war jedoch Kurt Sanderling, der von 1960 bis 1977 Chef des BSO (Berliner Sinfonieorchester) war. Sanderling kam 1960 (auf Initiative Walter Ulbrichts) aus dem sowjetischem Exil zurück, wo er neben Jewgeni Mrawinski Chefdirigent der Leningrader Philharmonie war. Mit Schostakowitsch verband ihn eine enge persönliche Freundschaft.
Als Sanderling nach Berlin zurückkehrte, befand sich in seinem Gepäck eine unaufgeführte Schostakowitsch-Partitur, der Liederzyklus „Aus jüdischer Volkspoesie“. Dieser Zyklus war zuvor nur einmal in einer Klavierfassung in Gorki aufgeführt worden, weitere Aufführungen waren wegen der jüdischen Thematik in der UdSSR unerwünscht. Schostakowitsch hoffte, dass Sanderling in Berlin diesen unausgesprochenen Boykott durchbrechen würde. Das war jedoch nicht einfach, denn Werke sowjetischer Komponisten waren damals genehmigungspflichtiges Staatseigentum und das jüdische Thema ohnehin eine Provokation. Also griff Sanderling zu einer List und behauptete, es handle sich lediglich um die DDR-Erstaufführung eines in der Sowjetunion längst bekannten Werkes. Es war aber die erste Aufführung überhaupt, nur wurde sie als solche offiziell nicht wahrgenommen.
Die deutsche Fassung schuf Alfred Kurella, damals Leiter der Kulturkommission des Politbüros der SED. Dieses denkwürdige Konzert fand am 23. September 1963 im Metropol-Theater statt, es sangen Maria Croonen, Annelies Burmeister und Peter Schreier. In der gleichen Saison brachte Sanderling an der Berliner Staatsoper Mussorgskis Oper „Boris Godunow“ in der Instrumentation von Schostakowitsch heraus, und in der Folgezeit dirigierte er alle Instrumentalsinfonien von Schostakowitsch (mit Ausnahme der Leningrader) und spielte sie auf Schallplatten ein.
Schostakowitsch war damals von einem Wall von Verständnislosigkeit umgeben. Er galt im Westen als sowjetischer Staatskomponist und wurde deshalb überhaupt nicht gespielt, und im Osten als „Formalist“ und also auch politisch verdächtig. Sanderling setzte sich jedoch unermüdlich für seinen Freund ein. Die 8. Sinfonie dirigierte er während seines Salzburger Gastspielprogramms mit der Dresdner Staatskapelle und erzielte gegen alle Voraussagen einen sensationellen Erfolg. Karajan fiel ihm vor Begeisterung geradezu um den Hals.
Weitere Schostakowitsch-Aufführungen in der DDR folgten: Thomas Sanderling leitete Ende der 1960er Jahre die Erstaufführungen des sinfonischen Poems „Stenka Rasin“ und der 13. Sinfonie, der „Baby Jar Sinfonie“. Die Staatsoper Unter den Linden brachte 1968 die Operngroteske „Die Nase“ nach Gogol als Erstaufführung heraus, Zur Premiere der „Nase“ erschien auch Walter Ulbricht, der sich einige Tage zuvor zum „Staatsratsvorsitzenden“ gekrönt hatte. Er zeigte sich stolz in seiner neuen Würde, ganz Landesvater, glänzend vor Eitelkeit, und vernahm verblüfft, dass der Bühnenheld dieser satirischen Oper ebenfalls ein „Staatsrat“ war, ein Hochstapler mit angemaßtem Titel. Erhard Fischer hatte diese Gogolsche Satire hintergründig inszeniert, und Reiner Süß spielte hinreißend. Jedesmal, wenn das Wort „Staatsrat“ fiel, brach das Publikum in minutenlangen ironischen Beifall aus. Ulbricht verließ im Schutze der Dunkelheit vor der Pause das Theater, und die Zeitungen verloren über die Premiere kein Wort. Die Fotografen mussten ihre Bilder abliefern oder vernichten, keines wurde veröffentlicht. Die Oper selbst aber wurde nicht verboten. Sie stand noch viele Jahre auf dem Spielplan. – 1973 folgte „Katerina Ismailowa“ an der Staasoper.
Zwei Werke von Dmitri Schostakowitsch haben einen direkten Bezug zu Deutschland. Als er 1950 als Jury-Mitglied am 1. Internationalen Johann-Sebastian-Bach-Wettbewerb in Leipzig teilnahm und auch als Solist an einer Aufführung von Bachs Konzert für drei Klaviere im Gewandhaus mitwirkte, entstand der Plan reiner eigenen Baach-Hommage, und noch in Leipzig entwarf er die ersten Stücke eines eigenen Klavierzyklus von 24 Präludien und Fugen nach dem Vorbild Johann Sebastian Bachs. 1960 kam er nach Berlin und Dresden, um die Musik zu dem Film „Fünf Tage – fünf Nächte“ zu schreiben, einer Koproduktion von Mosfilm und DEFA, deren Thema die Rettung der Dresdner Kunstschätze war. Daraus wurde sein ergreifendes 8. Streichquartett, das den Opfern von Krieg und Faschismus gewidmet ist.
In das Frühjahr 1972 fiel die Berliner Erstaufführung der letzten, der 15. Sinfonie. Sie fand als Gastkonzert des Moskauer Rundfunksinfonieorchesters unter seinem Chefdirigenten Jewgeni Swetlanow kurz nach der Moskauer Uraufführung vom 8. Januar 1972 ebenfalls in der Staatsoper Unter den Linden statt, Dieser Aufführung sah man mit riesigen Erwartungen entgegen, denn man wusste, dass Schostakowitsch sehr krank war, und die Sinfonie galt als sein vorweg genommenes Vermächtnis. Im Saal herrschte eine knisternde, gespannte Atmosphäre, wie vor den berühmten Berliner Premieren von Felsenstein, Besson oder Ruth Berghaus. Als die Lichter erloschen, erschien in der Mittelloge im Halbdunkel Schostakowitsch, und neben ihn eine andere bekannte Gestalt – Walter Ulbrich, der wenige Tage zuvor von seinen sämtlichen Ämtern zurückgetreten war.
Im Frühjahr 1972 war Ulbricht, zuvor allmächtig, plötzlich zur Unperson geworden. Die Fronde um Erich Honecker versuchte, ihn gänzlich aus dem politischen Leben zu entfernen; er wusste das und suchte Rückhalt in der Öffentlichkeit. Und da er ein feines Gespür für symbolische Gesten hatte, zeigte er sich eben mit Schostakowitsch. Der weltberühmte Komponist war auch ein Repräsentant der Brudermacht. Das könnte Ulbrichts Erscheinen in diesem Konzert, das keinerlei protokollarische Bedeutung hatte, erklären. Es war eine politische Finte.
Die 15. Sinfonie wurde mit atemloser Spannung aufgenommen. Als Swetlanow geendet hatte, verharrte das Publikum sekundenlang in ergriffenem Schweigen, dann brach ein Orkan des Beifalls los. Die Leute klatschten, schrien und trampelten mit den Füßen, drei- oder viermal kam Swetlanow heraus und ließ das Orchester aufstehen, dann wies er plötzlich auf die Loge, und das Orchester begann selbst Beifall zu spenden. Als sich die Hörer umdrehten, erhob sich in der Loge – nein, nicht Dmitri Schostakowitsch – sondern Walter Ulbricht. Lächelnd nahm er die Ovationen entgegen, die ihm nicht galten. Der ganze Saal brodelte und kochte; so war in Berlin noch nie ein Komponist gefeiert worden. Es entging Ulbricht endlich nicht, dass nicht er Gegenstand dieser Ovation war, er verschwand aus der Loge und ging ab.
Schostakowitsch saß daneben, und erst viel später stand er auf und verbeugte sich linkisch. Arm in Arm mit Kurt Sanderling verließ er das Haus – der so oft angegriffene und verfemte sowjetische Komponist und der jüdische, von den Faschisten verfolgte und verjagte Dirigent. Mir fällt dazu ein alter Kanon ein: „Himmel und Erde mögen vergehn, aber die musici, aber die musici bleiben bestehn.“
Schlagwörter: Berlin, Gerhard Müller, Schostakowitsch, Walter Ulbricht


