Aufbruch von Kitzingen nach Karlstadt – 65 Kilometer sind zu absolvieren. Seit der vorangegangenen Etappe findet die Tour bei strahlendem Sonnenschein und Temperaturen von über 30 Grad und sowieso meist durch offenes Gelände statt. Direkt am Laufe des Mains entlang. Wir fahren langärmelig, lassen die kurzen Hosen im Gepäck und bringen auf allen freien Hautpartien Sonnenschutzfaktor 50 zum Einsatz. Regelmäßige Flüssigkeitszufuhr versteht sich. Wenigstens sorgt ein frischer Wind bisher für einigermaßen Verträglichkeit des schon jetzt, im Juni, hochsommerlichen Wetters.
Die Route führt durch Ochsenfurth, uns dem Namen nach vertraut durch Leonhard Franks Roman „Das Ochsenfurther Männerquartett“, in dem er das Schicksal jener Würzburger Jugendlichen ins Erwachsenenleben weiterspann, die wir durch seinen Erstling „Die Räuberbande“ ins Herz geschlossen hatten. Frank war und blieb sein ganzes Leben lang entschiedener Pazifist und Sozialist. Während des Ersten Weltkrieges musste er emigrieren, nachdem er 1915 in einem Berliner Café den sozialdemokratischen Journalisten Felix Stössinger geohrfeigt hatte, weil der die Versenkung des britischen Passagierschiffs Lusitania durch ein deutsches U-Boot – 1198 Todesopfer waren zu beklagen – öffentlich als „größte Heldentat der Menschheitsgeschichte“ bezeichnet hatte. Während der Nazizeit war Frank im Exil, erst in Frankreich, dann in den USA. 1950 kehrte er nach Westdeutschland zurück. Die DDR ehrte ihn 1955 für sein Gesamtwerk mit dem Nationalpreis I. Klasse.
Ochsenfurths malerische Fachwerkzeile in der Hauptstraße stammt aus dem 14. Jahrhundert und ist mit dem farbig abgesetzten Gebälk der immerhin vierstöckigen Häuser ein echter Hingucker. Zu den Besonderheiten der Stadt zählt die Existenz gleich zweier Rathäuser, die, wiewohl nur knapp nacheinander um das Jahr 1500 errichtet, als Altes und Neues Rathaus firmieren. Das erstere war Gerichtssitz, Kaufhaus und Lager; heute beherbergt es die Stadtbibliothek. Das Neue Rathaus diente von jeher Verwaltungszwecken und gilt als Wahrzeichen der Stadt. Das Gebäude besticht architektonisch mit seinem Lanzentürmchen und dem historischen Sitzungssaal.
Das herrliche Würzburg mit seinem beeindruckenden Residenzschloss und dem mit 600 Quadratmetern größten Deckenfresko, das je gemalt wurde – geschaffen von dem eigens aus Venedig dafür engagierten Giovanni Battista Tiepolo – hatten wir vor einigen Jahren anlässlich einer großen, Tilman Riemenschneider gewidmeten Ausstellung besucht. Heute radeln wir lediglich, immer am Ufer des Mains entlang, hindurch. Wobei uns die Querung des Flusses aus den Sätteln zwingt. Die gar nicht so schmale Alte Mainbrücke, deren Baubeginn auf das 15. Jahrhundert datiert und die durch zwölf überlebensgroße Heiligenskulpturen unter besonderen Schutz gestellt sein sollte, ist infolge touristischen Gewimmels an diesem Samstagvormittag nur per pedes zu passieren.
Beim Verlassen der Stadt am linken Mainufer zwei strahlend weiße, nach oben hin eiförmige Behälter von wenigstens 15 Metern Höhe. Kurzer Stopp, mit dem Cellfone ein Foto geschossen und Google Lens befragt. Die App bietet uns an, den mit ins Bild geratenen Baum zu identifizieren. Doch der Bildausschnitt lässt sich ja dankenswerter Weise verschieben: Es handelt sich um die PVC-Membranfassaden von Faulgastürmen, mit deren Hilfe im Wege der Methangewinnung und späteren -verbrennung aus Klärschlamm Strom erzeugt wird.
Auch der kleine Ort Zellingen liegt direkt am Flussufer. Unsere Reiseunterlagen teilen uns kurz und bündig mit: „Die Pfarrkirche St. Georg wurde ursprünglich als weißes Schloss von Johann Philipp von Greiffenklau 1717 erbaut.“ Obwohl es nicht gänzlich ausgeschlossen sein mag, dass seine fürstbischöfliche Durchlaucht eigenhändig „erbaut“ hat – der Gute verstarb bereits 1719; vielleicht hatte er sich verhoben … –, doch scheint eine gegenteilige Annahme vor dem Hintergrund barocker gesellschaftlicher Verhältnisse eher plausibel. Umso mehr jedoch entspricht die Wortwahl „wurde von … erbaut“ der seit Jahrhunderten in Klassengesellschaften gängigen Darstellungsweise von Geschichte. Daran konnten auch Brechts „Fragen eines lesenden Arbeiters“ nichts ändern: „Wer baute das siebentorige Theben? / In den Büchern stehen die Namen von Königen. / Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt? […]“
Doch – Greiffenklau: War da nicht noch was? Na klar – Band 59 der Gesammelten Werke von Karl May: „Die Herren von Greifenklau“, abschließender vierter Band des Mayschen Kolportageromans „Die Liebe des Ulanen“. Zwar schreibt sich das Geschlecht derer von … bei May mit nur einem „f“, doch solchen einen Namen denkt sich niemand einfach aus. Das Verdienst der Anregung des herrlichen sächsischen Lügenbolds (Hermann Kant über Karl May) dürfte denen von … also schwerlich zu nehmen sein.
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Nach einer ruhigen Nacht in Karlstadt und einem hinreichend stärkenden Frühstück schwingen wir uns wieder in die Sättel. Bis zum nächsten Ziel, Marktheidenfeld, sind es etwa 60 Kilometer.
Für heute sagt der Wetterbericht immer mal Sprühregen vorher; etwa gegen 9:00 Uhr – 0,3 Millimeter. Doch ab 16:00 Uhr – Gewitter. Daher wollen wir rechtzeitig los, um möglichst vor demselben wieder im Trockenen zu sein. Gegen 9:00 Uhr sind wir bereit, das Hotel zu verlassen. Auf die Minute setzt der Sprühregen ein. Diese Meteorologen! Und verwandelt sich binnen kürzester Zeit in einen formidablen Platzregen. Es gewittert heftig. Diese Meteorolügen! Doch nach zehn Minuten ist der Spuk vorbei. Wir starten.
Neben dem Hotel, das nur durch den Mainradweg vom Fluss getrennt ist, defiliert ein Paar Nilgänse mit seinen Gösseln. Diese invasive Art ist inzwischen an vielen deutschen Flüssen in großer Zahl heimisch. Der NABU polemisiert gegen eine Bejagung nur zur Bestandsdezimierung. Das müsste kein Hemmnis sein: Das Fleisch der Tiere wird immerhin als zart und im Geschmack entenartig beschrieben …
In Erlach am Main, und zwar unmittelbar am linken Ufer – ein Schifferdenkmal in Gestalt eines zweirahigen Segelmastes von etwa 20 Metern Höhe. Der wird an Feiertagen voll beflaggt und ist zur Abwechslung mal kein Kriegerdenkmal, sondern vom 1923 gegründeten örtlichen Schifferverein unter anderem mit folgender Information versehen: „Dieses Ehrenmal ist zur Ehre der verstorbenen Mitgliedern [sic!] gewidmet und grüßt alle Fahrensleute.“
Marktheidenfeld – die Hochwassermarkierungen an einem Haus an der Mainterrasse, nur wenige Meter vom Flussufer entfernt, reichen bis neun Meter. Allerdings liegt der Ort insgesamt deutlich höher, so dass die Anzahl der Betroffenen sich hier bei entsprechenden Ereignissen in Grenzen hält.
Am Sonntagnachmittag macht das Städtchen mit seinen knapp 12.000 Einwohnern einen recht verschlafenen Eindruck. Doch der täuscht, denn hier produzieren Weltkonzerne. Also mindestens einer – Procter & Gamble.
Eine Ausstellung im Franck-Haus – benannt nach Franz Valentin Franck, einem reichen Weinhändler und Kaufmann, der diesen Bau 1745 errichtete, indem er zwei vorhandene Fachwerkhäuser zur Straße und zum Hof hin verbreiterte und mit der Überbauung der Hofzufahrt zu einem Gebäude verband – reklamiert, dass hier am Ort der erste Schaumwein (Sekt) auf deutschem Boden erzeugt worden sei. Aber dafür gibt es mit Esslingen bekanntlich mindestens noch einen weitere Anwärter …
Die bisherigen Notizen von dieser Radreise von Bamberg nach Aschaffenburg sind in den Blättchen-Ausgaben 17/2025 und 18/2025 erschienen.
Schlagwörter: Alfons Markuske, Karlstadt, Marktheidenfeld, Würzburg


