Die üblichen Verdächtigen sind schnell ausgemacht: Carlo Masala, Sönke Neitzel, Gustav Gressel, auch Ursula von der Leyen (in gewissen Kreisen besser bekannt als „Flintenuschi“), Anton Hofreiter, „Kriegsoma“ Agnes Strack-Zimmermann, Boris Pistorius und andere. Im öffentlichen Diskurs müssen sie sich mindestens als „Kriegstreiber“ verunglimpfen lassen, denn sie sehen die Notwendigkeit, aufzurüsten, Bundeswehr, NATO und EU militärisch respektive politisch zu stärken. Nota bene ploppt der Begriff seit April 2022 – also zeitlich parallel zum Einfall Russlands in die Ukraine – regelmäßig in unterschiedlichen Kontexten auf und scheint Teil einer größeren Kampagne zu sein; es gibt wohl auch einen Hashtag. Sicherlich kein Ehrentitel … Namentlich Politiker verteilen doch lieber „zivile“ Wohltaten wie Mütterrenten und müssen sich nun im Gegenteil Anwürfe gefallen lassen, abermals für „Kanonen statt Butter“ zu sein. Warum nehmen die Genannten zum einen diese Schmähung auf sich und zum anderen die Position ein, die sie einnehmen?
Grundsätzlich gehen Rüstungsbefürworter von einer Bedrohung Europas, dessen Bewohner Sigmar Gabriel übrigens für die „Vegetarier in einer Welt voller Fleischfresser“ hält, durch Russland aus. Selbst das Ende des Ukraine-Kriegs werde nicht dazu führen, dass wir wieder Frieden auf dem europäischen Kontinent haben. Masala bringt es auf den Punkt: „Russland bereitet sich auf einen großen Krieg vor.“ Und weist wie andere auf einen schon seit Jahren geführten hybriden russischen Krieg hin … Ich will das nicht ausführen; das ist alles nachlesbar.
„Großer Krieg“ – alles übertrieben? Panikmache? Pure Propaganda? Als kommuner Zeitungsleser und Medienkonsument will ich sehen, was es an Argumenten gäbe, um zu obiger „kriegstreiberischer“ Auffassung zu kommen.
Sicher kann eine äußere Bedrohung so ein Argument sein. Russland billigen manche zu, sich in einer Bedrohungslage zu befinden. Wobei – der Begriff macht es deutlich – eine Bedrohung eine vermutete Gefährdung darstellt mit der potentiellen Möglichkeit, dass ein Schaden, hier ein militärischer Angriff, eintreten könnte. Insofern gilt: Es dürfen nicht nur russische Sicherheitsinteressen zählen, sondern die aller Staaten Europas.
Eine Bedrohung hat drei Elemente: Einen Akteur, dessen aggressive Intension und entsprechende Fähigkeiten zur Realisierung selbiger. Der Akteur stünde gewissermaßen fest – Putins Russland.
Zu den Intensionen: In dem Text „Russlands (neue) Außenpolitik im postsowjetischen Raum“, dessen Mitautor der auch im Blättchen publizierende Johannes Varwick ist, heißt es: „Zum Jahrestag der Annexion der Krim im März 2015 verkündete der russische Präsident […], der historische Fehler der Sowjetunion sei nun korrigiert. […] spätestens mit der Annexion der Krim und dem Entfachen des Krieges in der Ost-Ukraine hat sich Russland offen als revisionistische Macht positioniert.“ Waren diese beiden aggressiven Vorgänge „womöglich nur der erste Schachzug einer neuen außenpolitischen Strategie, die auf den Versuch einer grundlegenden Neuordnung des postsowjetischen Raumes abzielt“?
Um nicht den ganzen Artikel wiedergeben, nur noch einige markante Feststellungen: „Nach dem revisionistischen Credo ist Russland dazu verdammt, ein Imperium zu sein – nicht daran festzuhalten wäre gleichbedeutend mit nationalem Selbstmord. Während die Radikalsten eine Restauration der russischen Dominanz über das gesamte Territorium der ehemaligen Sowjetunion bzw. des Russischen Kaiserreichs fordern, beschränkt sich ein gemäßigterer Strang auf die Idee eines ‚Russland Plus‘. Letzterer Ansatz fordert die Einverleibung […] von Teilgebieten postsowjetischer Anrainerstaaten, deren Population sich größtenteils aus ethnischen Russen zusammensetzt.“ (Der russische Außenpolitikexperte Dmitri Trenin nannte bereits 2001 auch die Krim als mögliche Annexionskandidaten.)
Geradezu prophetisch: „Letztendlich wirft die unverhältnismäßig hohe Opferbereitschaft Russlands – im materiellen und politischen Sinn –, die auf den ersten Blick jeder rationalen Kosten-Nutzen-Rechnung widerspricht, schwierigste Fragen auf.“ In einer Zusammenfassung eingangs des Textes heißt es; hier abschließend zitiert: „Es spricht alles dafür, dass es sich nicht um eine reaktive, vom Westen provozierte neue Außenpolitik der Russischen Föderation handelt. Vielmehr sind endogene Erklärungsansätze – Revisionismus und defensiver Imperialismus – tragfähigere Analyseansätze.“
An anderer Stelle ist zu lesen, dass das Schicksal des modernen russischen Staates darin bestünde, „heimzuholen und zu verteidigen“. Putin selbst – „wo die russische Armee steht, das gehört uns“ – sähe seinen Platz in der russischen Geschichte als neuer glorreicher „Sammler russischer Erde“. Insgesamt fiel Putins Reich bislang eher durch etliche Kriege auf denn durch Friedfertigkeit. Es bleibt dabei: Russland könnte den Ukrainekrieg jederzeit beenden – eine Option, die die Ukraine als sich verteidigendes Land nicht hat.
Bleiben die Fähigkeiten: Nach der Ukraineinvasion ab Februar 2022 wurde ein großer Teil der russischen Wirtschaft auf Kriegsführung umgestellt. Im Juni 2024 wurde als offizielles Politikziel die Vorbereitung auf eine jahrzehntelange Kriegswirtschaft ausgegeben; der Verteidigungs- oder besser Kriegshaushalt machte etwa 38 Prozent der Staatsausgaben aus (rund 110 Milliarden Euro direkte Militärausgaben und 34 Milliarden Euro für Sicherheit) und überstieg erstmals die Sozialausgaben. Und das alles nur, um die Ukraine niederzukämpfen?
Die hohen Verluste an Personal und Material in der Ukraine könne Russland nicht nur ausgleichen, sondern es könne die Aufrüstung sogar noch vorantreiben, heißt es beim deutschen Nachrichtendienst. Durch die von Russland betriebene Kriegswirtschaft werde mehr produziert, als für den Krieg gegen die Ukraine benötigt werde, so die Lagebewertung. Putin habe zudem angeordnet, bis 2026 bis zu 1,5 Millionen weitere Soldaten zu rekrutieren.
Ob diese Zahl stimmt, weiß ich nicht. Dass sie zumindest eine reale Basis haben könnte, macht die Existenz der Junarmija (Юнармия, Jugendarmee), der „Nationalen militär-patriotischen sozialen Bewegungs-Organisation“ für Kinder und Jugend, deutlich. Im Juli 2016 durch einen Präsidentenerlass gegründet und dem Verteidigungsministerium unterstehend, gehörten ihr nach eigenen Angaben 2023 rund eineinviertel Millionen Kinder und Jugendliche im Alter von acht bis 18 Jahren an. Erklärtes Ziel der Junarmija sei es, Kinder und Jugendliche für die russischen Streitkräfte zu begeistern; „junge Menschen dazu zu bringen, Russland mit der Waffe in der Hand zu verteidigen“. Formationen der Junarmija paradierten uniformiert schon zum Tag des Sieges am 9. Mai auf dem Roten Platz.
Bei Wägung alles Obigen kann man schon behaupten: Die russische Bedrohung europäischer Länder ist nicht unplausibel. Dazu trägt bei, dass die russische Armee, vor der Ukraineinvasion arg überschätzt, an Kampferfahrung gewonnen hat. Die Reaktion darauf kann nur sein, vorbereitet zu sein; vielleicht nicht gleich auf den „großen“ Krieg. Russland könnte, und das sagen Kenner der Materie, die NATO erst einmal „politisch“ testen; was mit den mutmaßlich russischen Drohnenangriffen auf Polen schon passiert ist.
Nichts anderes wollen die „Kriegstreiber“ – vorbereitet, gewappnet sein. Was heißt, nicht nur einem möglichen Angriff widerstehen zu vermögen, ihn abwehren zu können, sondern dem potentiellen Angreifer überhaupt den Willen zu einer Attacke ob deren Aussichtslosigkeit zu nehmen. Mindestens skurril mutet an, der Bundesregierung vorzuwerfen, eine „‚wahnwitzige Hochrüstung‘ zu betreiben – obwohl gegen eine Atommacht wie Russland keine Soldaten, Panzer oder Drohnen nützten“.
Alle diese Ansichten muss man nicht teilen und sie werden auch nicht geteilt. Verglichen jedoch mit der Hochzeit der Friedensbewegung in den 1980ger Jahren – mit hunderttausenden von Teilnehmern – nehmen sich gegenwärtige Demonstrationen „dürftig“ aus: „Spätestens mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine sind Friedensfragen zu ambivalent für den Massenprotest geworden – zu komplex für eindeutige emotionale Botschaften. Darf man wirklich gegen Waffen sein, wenn Selbstverteidigung das Gebot der Stunde ist“? – so wenigstens Wolfgang Janisch in der Süddeutschen Zeitung.
Keine ganz falsche Beobachtung: Nach der diesjährigen Umfrage des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr empfänden zwei Drittel der Deutschen Russland inzwischen als Bedrohung – parteiübergreifend; selbst bei einer Wahlpräferenz für die AfD oder Die Linke. Auch eine militärische Führungsrolle Deutschlands innerhalb der EU wird zunehmend positiv gesehen: 44 Prozent unterstützen sie mittlerweile; ein deutlicher Anstieg. Sicherlich – diese Umfrage ist mit Vorsicht zu genießen, wird aber durch andere Erhebungen in der Tendenz bestätigt.
Militär sichert Frieden, indem es durch Abschreckung Kriege verhindert.
Schlagwörter: Europa, Kriegstreiber, Russland, Stephan Wohanka


