28. Jahrgang | Nummer 14 | 18. August 2025

Turbokapitalismus oder Sozialismus?

von Jürgen Leibiger

Dieser Tage schrieb mein Sohn eine Urlaubskarte aus Vietnam: „Wir sind in ein sozialistisches und ein buddhistisches Land gereist und haben Turbokapitalismus mit leckerem Essen, Staus, Hochhäusern und Business gefunden.“ Abgesehen von den Attributen, mit denen er „Turbokapitalismus“ verbindet, werde ich ihn wohl gelegentlich fragen, wie er zu der Erwartung kam, in ein sozialistisches Land zu reisen. Sind gutes Essen, Staus, Hochhäuser und Business nicht mit Sozialismus vereinbar? Er wuchs noch im DDR-Sozialismus auf und in der Tat gab es kaum Staus und Hochhäuser oder gar Wolkenkratzer und „Business“ eigentlich auch nicht; leckeres Essen gab es, wenn auch kaum eine internationale Küche. Es gab allerdings ein Kochbuch „Zu Gast bei Freunden“.

Vietnam, das in der Zeit der Geburt meines Sohnes gerade die US-amerikanische-südvietnamesische Militärmaschine besiegt hatte, galt als das Modell eines aufstrebenden sozialistischen Landes. Ab 1986 vollzog es unter Führung der Kommunistischen Partei die Wende zu einer „sozialistischen Marktwirtschaft“; seine Entwicklung ähnelte in dieser Hinsicht China, dem großen, durchaus nicht immer brüderlichen Nachbarn im Norden. Beide Staaten verstehen sich als „sozialistische Länder“, aber sind sie es tatsächlich? Für den „Westen“ scheint die Sache klar zu sein: kommunistische Regierungen, diktatorisches Einparteiensystem ohne eine parlamentarische Demokratie, ideologische Indoktrination, große staatliche Wirtschaftssektoren, Reglementierung der Privatwirtschaft. Auf der anderen Seite ähneln die Systeme in vielerlei Hinsicht nicht jenem Sozialismus, den mein Sohn erlebt hat: soziale Geborgenheit, aber knappes Warenangebot, strenge, wenn auch oft unwirksame Planwirtschaft, begrenzte Reisefreiheit, kaum internationaler Gütertausch im Konsumsektor, stagnierende Wirtschaft.

Was ist an der Aussage auf der Postkarte so irritierend? Ein falsches Verständnis dessen, was Sozialismus im 21. Jahrhundert sein könnte? War mein Sohn auf die Eigenpropaganda dieser Länder hereingefallen? Hat er womöglich gar keinen Turbokapitalismus erlebt? Zeigen die mehrfach höheren Wachstumsraten und das rasante Innovationsgeschehen, dass der Sozialismus chinesischer oder vietnamesischer Prägung dem Kapitalismus vielleicht überlegen ist?

Vergleicht man die vietnamesische Entwicklung mit der in anderen asiatischen Regionen, so ist sie keinesfalls exzeptionell. Die vor einigen Jahrzehnten als „Tigerstaaten“ bezeichneten Länder – Südkorea, Singapur, Taiwan und Hongkong – hatten als kapitalistisch orientierte Staaten ähnliche Wachstumsraten. Sie waren stark staatlich gelenkt und im Falle von Südkorea und Taiwan lange Zeit Militärdiktaturen. Der Einfluss des Staates in der Wirtschaft, beim Ausbau von Industrie und Infrastruktur, beim Ankurbeln des Exports war über viele Jahre hinweg entscheidend für den Übergang in den Status als Schwellenland. Ihr Wachstum beruhte wie das Wachstum in China und Vietnam unter anderem auf dem Einkauf oder dem Kopieren im „Westen“ entwickelter und gereifter Technologien sowie auf ausländischem Kapital. China hat zudem den Vorteil eines der potenziell größten Binnenmärkte der Welt. Alle diese Staaten waren lange Zeit durch niedrigste Löhne gekennzeichnet und begannen ihre Entwicklung von einem extrem unterentwickelten Stand der Produktivkräfte und der Produktivität aus. In Bezug auf das Niveau der Arbeitsproduktivität liegen die ehemaligen Tigerstaaten inzwischen allerdings weit vor China und Vietnam.

Hat Chinas erklärtes Ziel, bis 2049 zur weltweit innovativsten und technologisch führenden Nation aufzusteigen, irgendetwas mit Sozialismus zu tun? Ist der Kampf gegen Armut und für materiellen Wohlstand etwas genuin Sozialistisches? Hat nicht auch Ludwig Erhard „Wohlstand für alle“ versprochen? Das „für alle“ hat die Bundesrepublik nicht geschafft, aber haben es etwa China und Vietnam geschafft? Sie haben die extreme Armut überwunden, aber das gilt auch für andere Länder. China produziert immer mehr Milliardäre und weist – wie auch Vietnam – eine wachsende Ungleichverteilung der Einkommen und Vermögen auf; beide Staaten unterscheiden sich bei den entsprechenden Kennziffern nicht von den meisten Ländern des „Westens“. Die sich als kommunistisch bezeichnenden Parteien Chinas und Vietnams propagieren einen „neuen“ Marxismus, aber hat man je etwas davon gehört, sie würden – wie es Marx und Engels postulierten – alle Verhältnisse umwerfen, „in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen“ ist und eine Assoziation anstreben, in der die Freiheit des Einzelnen die Voraussetzung für die Freiheit aller ist?

Abgesehen von diesem Merkmal ist Sozialismus vor allem durch bestimmte Eigentumsverhältnisse gekennzeichnet. Nun kann man zwar nach dem Zusammenbruch des Sozialismus sowjetischer Prägung nicht mehr davon ausgehen, dass Sozialismus mit hundertprozentigem Staats- und Genossenschaftseigentum identisch ist, aber die Dominanz von Privateigentum ist mit ihm gewiss nicht vereinbar. Gemessen daran, sind Vietnam und China keine sozialistischen Staaten. Obwohl Grund und Boden öffentliches Eigentum ist, befindet er sich weitgehend in privater Nutzung. Die Wirtschaft beruht zu nahezu zwei Dritteln auf – freilich staatlich regulierter – Privatproduktion und die Arbeit leisten sowohl im Privat- wie im Staatsektor Lohnarbeiter ohne nennenswerten Einfluss auf die Geschicke ihrer Unternehmen und Staaten. In marxistischer Terminologie sind sie „doppelt freie Lohnarbeiter“, wie in jedem anderen kapitalistischen Land. Also: Turbokapitalismus, Turbokapitalismus unter Führung kommunistischer Parteien. Die Bevölkerung akzeptiert das, teils weil sie erhebliche Wohlstandsgewinne genießt und extreme Armut zurückgedrängt wurde, teils weil ihr das Massaker vom Platz des Himmlischen Friedens noch in den Knochen steckt. Und die deutschen Sozialisten, noch traumatisiert von 1989, wissen es vorläufig auch nicht viel besser.

Man kann nicht umhin, mit Hochachtung auf die historische Entwicklung in Vietnam und China zu blicken. Wenn man bedenkt, aus welchen katastrophalen Verhältnissen, gekennzeichnet durch extreme Armut, Abhängigkeit und Kriegsverwüstung, sie sich auf den heutigen Stand ihrer Wirtschaft und Gesellschaft emporgearbeitet haben, kann man nur Bewunderung und Sympathie empfinden. Das gilt natürlich auch für ihre Absicht, der weltwirtschaftlichen und politischen Hegemonie des „Westens“ Paroli zu bieten und sie sogar zu brechen. Angesichts der gegenwärtigen Politik der USA und ihrer NATO-Verbündeten ist das angesagter denn je. Und als Sozialist begrüßt man natürlich auch sozialistische Zielstellungen. Aber Sympathie sollte nicht mit Blindheit gegenüber den tatsächlichen Verhältnissen verwechselt werden. Die Antwortkarte an meinen Sohn könnte so ausfallen: „Gut beobachtet, mein Lieber! Dir geht es jetzt wie dem kleinen Jungen im Märchen vom Kaiser mit den neuen Kleidern. Den veräppelten seine Schneider, die erklärten, diese Kleider – die sie nur vorgaben zu schneidern – könne nur sehen, wer nicht dumm sei. Natürlich lobten nun alle diese angeblich so tollen Kleider, bis der kleine, naive Bub rief: ,Aber er hat ja gar nichts an!‘ Da erkannte auch der Kaiser, dass er nackt war, ließ sich das aber freilich nicht anmerken.“