Als „Deutschlands bekannteste Friedensforscherin“ präsentierte Der Spiegel in seiner Ausgabe 29/2025 Nicole Deitelhoff, die Chefin des Instituts für Friedensforschung in Frankfurt am Main. Die weltpolitische Lage sei eine „düstere Landschaft“, meinte sie, es handele sich um eine „Weltordnungskrise“, verbunden mit einem „Rückzug von Staaten aus internationalen Regelwerken“. Das sehe man nicht nur bei Wladimir Putin und Xi Jinping, sondern auch bei Javier Milei und Donald Trump. EU-Europa dagegen „mag wirtschaftlich stark sein“, sitze jedoch politisch „am Katzentisch“. Deshalb plädiert Deitelhoff dringend für „nachholende Aufrüstung der europäischen Mitgliedstaaten“ der NATO und „die Entwicklung europäischer Verteidigungsstrukturen und -strategien“. Bundeskanzler Friedrich Merz verfolge „eine außenpolitische Agenda“ und zeige den Willen zu handeln. Er müsse jedoch „offen über die Bedrohungslage sprechen und erklären, warum wir den Wehrdienst brauchen“. Die Koalition trete in dieser Frage „verdruckst auf“. Deren Furcht scheine zu sein, „dass ihr die Debatte über die Wehrpflicht um die Ohren fliegen wird, wie der Ampel das Heizungsgesetz“. Die Regierung müsse „mutiger sein“, „sich zur Wehrpflicht“ bekennen und die Debatte durchstehen.
So klingt im Jahre 2025 „Friedensforschung“. Die Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt am Main war 1970 auf Betreiben der hessischen Landesregierung, die damals fest in sozialdemokratischer Hand lag, als Stiftung des Öffentlichen Rechts gegründet worden. Der Gründungskontext hatte mit der Entspannungs- und Neuen Ostpolitik Willy Brandts zu tun und sollte sie wissenschaftlich untersetzen. 2009 wurde das Institut in die Gruppe der „Leibniz-Institute“ aufgenommen – inzwischen regierte in Hessen die CDU. Chefin Deitelhoff, geboren 1974, veranlasste 2023, wie das neudeutsch heißt, ein „Rebranding“ als „Peace Research Institute Frankfurt“.
Bereits bald nach dem Ende des Kalten Krieges und der deutschen Vereinigung begann sich die Friedensforschung zu wandeln. Dieter Senghaas mühte sich im Jahr 2010, die „Bilanz eines halben Jahrhunderts Friedensforschung“ zu ziehen. Er, der als einer der Begründer der früheren „kritischen Friedensforschung“ in der BRD galt, hatte das Wendemanöver der etablierten Friedensforschung zu erklären und zu begründen versucht. Unter Bezugnahme auf das Alte Testament und die berühmten Zeilen: „Ein jegliches hat seine Zeit“ (Prediger 3.1), schrieb er: „Alles hat seine Zeit – eine Zeit der konventionellen Friedensforschung, eine Zeit der Kriegsursachen- und eine der Friedensursachenforschung, eine der Fokussierung auf Gewaltanalyse oder eine der Konfliktlösung, eine der Ausrichtung auf wissenschaftliche Analyse oder eine der politischen Praxis. Solche unterschiedlichen Perspektiven können das Ergebnis wissenschaftsimmanenter Entwicklungen, aber auch das Ergebnis eines Generationenwechsels sein. Aber natürlich reflektieren die unterschiedlichen Perspektiven der Wissenschaft stets auch – und im Bereich der Friedenswissenschaft vielleicht ganz besonders – Veränderungen im politischen Umfeld.“
Zu den Bedingungen, unter denen die Friedensforschung in den 1960er und 70er Jahren „erkennbar Wurzeln zu schlagen begann“, zählte Senghaas den wachsenden Widerstand gegen die Anhäufung ungeheurer Zerstörungspotenziale in Gestalt nuklearstrategischer Waffensysteme sowie die Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg, die Begleiterscheinungen der „Studentenrevolten“ im Westen, die erfolgreichen antikolonialen Bewegungen und die wachsende Einsicht, dass der Ost-West-Konflikt durch Entspannungspolitik überwindbar werden könnte. Insbesondere das Bemühen der herkömmlichen Politik, den Krieg im Sinne Clausewitz‘ auch weiterhin als „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ zu begreifen, rief nach Alternative in Gestalt einer kritischen Friedensforschung. Nach dem Ende des Kalten Krieges stellten sich die Herausforderungen anders dar. Und die Friedensforschung hätte darauf zu reagieren gehabt.
Seit den 1970er Jahren hatte sich die Friedensforschung als eigenständige Disziplin zu etablieren vermocht. Hiervon zeugten die „Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung“ (AFK), die Präsenz der Disziplin an zahlreichen Universitäten und die Gründung von Friedensforschungsinstituten. Sie existierten aber vor allem als „An-Institute“: Sie waren an Universitäten angegliedert, erhielten aber keine Mittel aus deren Etat. Zur Finanzierung brauchte es vor allem seit dem Ende des Kalten Krieges „Drittmittel“: Zeitlich befristete und in ihrer Zielsetzung vom Auftraggeber formulierte Forschungsprojekte. „Der Markt“ – der ist überdies eng und von der Konkurrenz der Auftragnehmer geprägt – bestimmt Art und Inhalt wissenschaftlicher Produktion.
Daraus ergab sich ein Teufelskreis, der nicht nur Wissenschaft in den Dienst der Herrschenden stellt, sondern auch das Bewusstsein der beteiligten Wissenschaftler prägt: Das reicht von der Übernahme der durch den offiziellen Sicherheitsdiskurs vorgegebenen Begrifflichkeiten (peace keeping, peace enforcement, securitization und so weiter) bis zur Nichthinterfragung der sogenannten „Petersberg-Aufgaben“. Sie öffneten in der postbipolaren Welt dem Interventionswillen von EU- und NATO-Staaten Tür und Tor. Geredet wurde von humanitären Aufgaben, Rettungseinsätzen, friedenserhaltenden Maßnahmen und erst unter Punkt 4 von „Kampfeinsätzen bei der Krisenbewältigung“, vereinbart aber wurden Kampfeinsätze von EU-Truppen (Ministerrat der Westeuropäischen Union 1992, dann übernommen in den Maastricht-Vertrag 1997 und in die „Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ [GSVP] der EU gemäß Lissabon-Vertrag 2009).
Während sich die Friedensforschung in den 1970er und 80er Jahren als Mit- und Vordenker der Friedensbewegung verstand und von ihr gefordert wurde, hatte der Rückzug in den „Elfenbeinturm“ die fruchtbare Interaktion zwischen beiden weitgehend beendet. Mit den Produkten der etablierten „Friedensforschung“ weiß die Friedensbewegung nichts mehr anzufangen – und die Friedensforschung bedarf der Friedensbewegung nicht mehr, kommt sie doch als „Drittmittelgeber“ nicht in Frage.
So entwickelten sich insbesondere in Verbindung mit der Friedensbewegung Versuche einer neuen „kritischen Friedensforschung“, die die Gewaltkonflikte dieser Welt auf grundlegende Probleme der Ausbeutung von Menschen durch Menschen, der Ungleichheit und Unterentwicklung, der bestehenden Herrschafts- und Machtverhältnisse unter den Bedingungen des neoliberal geprägten kapitalistischen Weltsystems zurückführt. Der globalisierte Kapitalismus erweist sich als „strukturelle Gewalt“ im Sinne Johan Galtungs. Nach dem Kalten Krieg haben die großen kapitalistischen Mächte Krieg wieder zu einem „normalen Mittel“ der Politik gemacht. Damit brachten zunächst die verantwortlichen Politiker des Westens, dann ebenso Russlands auch die „direkte Gewalt“ in ihrer brutalsten und verbrecherischsten Form wieder zur Anwendung, beginnend mit dem Irak-Krieg Anfang der 1990er Jahre, dem völkerrechtswidrigen Jugoslawienkrieg der NATO 1999, dem Afghanistankrieg des Westens ab 2001, dem Irak-Krieg 2003, dem Libyen-Krieg 2011 und nun dem Ukraine-Krieg Russlands.
Was die finanzielle und personelle Ausstattung anbetrifft, können verschämte Versuche einer erneuerten „kritischen Friedensforschung“ in keiner Weise mit der staatstragenden „Friedensforschung“ konkurrieren, die sich inzwischen als Kriegsförderungs-Forschung erweist. Nicole Deitelhoff taucht nicht nur im Spiegel auf, sie tingelt auch durch Talk-Shows. Sie hält Aufrüstung für ein friedenserhaltendes Mittel. Kanzler Merz, dem sie eifrig gehuldigt hat, hielt es für eine gute Idee, dafür ein riesiges Schuldenpaket zu schnüren, und er hat zusammen mit der SPD und den Grünen dafür sogar das Grundgesetz geändert. Damit die staunende Bevölkerung nicht gleich merkt, welche Kosten das für sie mit sich bringen wird. Bei der Kürzung des Bürgergeldes wird es nicht bleiben.
Eine solche Idee ist übrigens nicht neu – wobei wir wissen: Vergleichen ist nicht Gleichsetzen. Die Aufrüstung Hitlerdeutschlands wurde seit 1934 durch ein Kreditsystem finanziert, das auf Wechseln beruhte, für die die Reichsbank haftete. Diese Wechsel wurden 1938/39 fällig. Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht plädierte für ein Abbremsen der Rüstungen, um die Kredite zu bedienen und die Währung stabil zu halten. Hitler entließ ihn und ordnete eine Beschleunigung der Rüstungen an. Als der Staatsbankrott drohte, wurde der Überfall auf Polen angeordnet. Einen solchen „Ausweg“ wird es jetzt nicht geben können. Aber: Wir sehen herrlichen Zeiten entgegen, und wissen: Deutschland ist endlich wieder richtig dabei.
Vielleicht sollte sich die Friedensforschung doch wieder mit dem Frieden befassen.
Schlagwörter: Erhard Crome, Friedensforschung, Geschichte, Nicole Deitelhoff


