1986/87 entspann sich in der Weltbühne eine Debatte um Lehren des preußischen Militärpraktikers und
-theoretikers Carl von Clausewitz und deren Relevanz im Atomzeitalter. Heute, in einer Periode, in der westliche Politiker so reden und handeln und ihre medialen Verstärker eine entsprechende Begleitmusik liefern, dass die Perspektive eines großen Krieges mit Russland fast schon als unvermeidlich erscheint, wäre eine vergleichbare Debatte dringlich geboten. Doch sie findet nicht statt …
Wir dokumentieren die damaligen Beiträge in der Reihenfolge ihres Erscheinens. Die Schreibweise der Originale wurde beibehalten.
Die Lektion von 1806
Mein alter Oberlehrer H., der Geschichte gab, haßte die Sechs und die Achtzehn mit der wehen Erbitterung eines Alldeutschen, ein Zittern überlief ihn bei solchem Angedenken, und erst der donnernde Ruf seiner endlich wiedergefundenen Stimme: „Ha, siebzig/einundsiebzig!“ stellte ihn ganz wieder her. Die Rede ist hier von den naßkalten Herbsten 1806 und 1918. Sie bezeichnen, wie man weiß, die katastrophalen Niederlagen zuerst eines feudalen, dann eines imperialistischen Militarismus preußischdeutscher Machart mit seinem Zentrum Potsdam-Berlin.
Nun steht noch nicht die zweihundertjährige Wiederkehr des Desasters von Jena und Auerstedt an, aber die Umstände drängen schon bei hundertachtzig zum Betrachten mancher Sachverhalte. Für meinen alten Lehrer war die Quittung von 1806 ein böser Zufall, bloße Folge von Fehlern, Irrtümern etc., kein historischer Schiedsspruch gegenüber dem überlebten System des preußische Feudalmilitarismus, wie wir es heute sehen, gesprochen in eine Periode umstürzender Neuerungen auf dem Gebiet der Politik und Kriegführung durch die Französische Revolution.
Gerade heute, da sich Militaristen alten und neuen Schlags, beispielsweise in einer bundesdeutschen „Carl-von-Clausewitz-Gesellschaft“, das Ziel stellen, das unheilvolle Denken in den Kategorien des Krieges zu bewahren und zu modernisieren, scheint mir eine marxistische Betrachtung über den preußischen Militärtheoretiker sehr angebracht. Aufgerufen durch den bis dahin beispiellosen Zusammenbruch eines militaristisch-despotischen Staates im Herbst 1806, trat Carl von Clausewitz in engste Beziehung zu solchen rationalen, in ihrem ganzen Wesen nicht militaristisch, wenn auch militärisch zu nennenden Denkern wie Scharnhorst, Gneisenau, Boyen, Grolmann, schließlich auch zu den anderen Reformern dieses Landes.
Ratio, also Vernunft gegenüber der Geschichte – dies ist Clausewitz’ sicheres Verfahren! Es ist übrigens das offene Geheimnis aller erfolgreichen Politik und Politiker.
In seinem Konspekt zu dem nachgelassenen Werk Clausewitz’ „Vom Kriege“ konstatierte Lenin: „Ein Schritt zum Marxismus“. Dieser Schritt zum Marxismus bestand darin, daß Carl von Clausewitz den Krieg als die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, denen der Gewalt, erkannte. Er kam damit dem scheinbaren Geheimnis des Krieges wesentlich nahe, wenn auch nicht der sozialen, der Klassen-Natur einer gegebenen Politik. Ein Revolutionär, der die Mittel zur Überwindung des Krieges gekannt hätte, konnte Clausewitz auch vom Objektiv-Geschichtlichen her nicht sein, aber keiner sah in seiner Zeit so tief in die Umstände und Bedingungen jener Politik, „welche die Feder“ – gemeint ist die Rede und Schrift des Diplomaten und des Kabinetts – „mit dem Degen vertauscht“.
Clausewitz untersuchte diesen „Tausch mit dem Degen“ bis in alle Wesenszüge und Details, und es ist offensichtlich, daß er wünscht, diese Erscheinung möge einmal für immer überwunden werden, denn – so meint er – der Krieg ist ein vierfacher Saugrüssel, der sich tief in den Wohlstand der Länder bohrt…
Dieser Mann war bei aller militärischen Gesinnung, Denkweise und Haltung unbedingt ein Mann des Friedens. Sein Hauptwerk, das gleichwohl den Titel „Vom Kriege“ trägt, enthält nirgends etwas von leichtsinniger, törichter, menschenverachtender Lust an kriegerischer Aggression, an Raubgier und Zerstörungswut. Clausewitz untersuchte das Phänomen des Krieges genau und umfassend, mit der methodologischen Akribie eines an Hegelscher DiaIektik geschulten humanistischen Wissenschaftlers seiner Zeit.
Und Carl von Clausewitz war es, der an der Schwelle zum Schicksalsjahr 1813 die berühmte preußisch-russische Neutralitäts-Konvention von Tauroggen zwischen York und Diebitsch mit initiierte und damit einen historischen Sieg des Gewissens über Kadavergehorsam und politisch-militärische Blindheit erringen half! Welche Leiden und Opfer wären den Völkern, darunter dem deutschen Volk, im zweiten Weltkrieg erspart geblieben, wenn dieser Geist in Deutschland rechtzeitig die Oberhand gewonnen hätte!
Keinerlei Nachdenken darüber findet sich in den Reden und Schriften derer, die 1986 einen Sternenkrieg propagieren. Vor hundertachtzig Jahren – 1806 – trat die Geschichte gleichsam selbst als Lehrer auf. Die Lektion währte lang, und sie war schmerzhaft heilend, wenn leider auch nicht von Dauer … Wirklich verstanden und in konsequente Politik umgesetzt wurde sie erst in unserer Gesellschaft, die zuerst von Marx, Engels, Lenin, dann aber auch von Clausewitz das Ihre gelesen und gelernt hat.
Leider ist es der Redaktion nicht gelungen, den Autor ausfindig zu machen. Wir bitten daher darum, sich gegebenenfalls mit uns in Verbindung zu setzen.
Ein Mann des Friedens?
Zur marxistischen Betrachtung über Carl von Clausewitz fordert Werner Neubert in seinem Artikel über die Lektion von 1806 auf (Wb 41/1986) und schreibt, der Mann sei „bei aller militärischen Gesinnung, Denkweise und Haltung unbedingt ein Mann des Friedens“ gewesen. Das Werk „Vom Kriege“, so begründet er diese Einschätzung, enthalte nichts von leichtsinniger, törichter, menschenverachtender Lust an kriegerischer Aggression, an Raubgier und Zerstörungswut. Das ist sehr richtig und denen entgegenzuhalten, die sich, zu Unrecht, für solche Art von Krieg auf Clausewitz berufen, der weder leichtsinnig noch töricht über den Krieg dachte, den er so scharfsinnig beschrieb. Das heißt doch aber nicht, daß er „unbedingt ein Mann des Friedens“ zu nennen wäre. Denn natürlich stand Krieg und nicht Frieden im Mittelpunkt des Denkens und Handelns des Generals – eine Feststellung, die zunächst weder Lob noch Tadel bedeutet, sondern einfach einen Sachverhalt konstatiert. Das monumentale Werk „Vom Kriege“ heißt doch nicht zufällig so, sondern weil es davon handelt, was der Krieg ist, wie man den Krieg führt und wie man ihn gewinnt. Auf Krieg drängte Clausewitz, als er York dazu bewog, mit Diebitsch die Konvention von Tauroggen zu schließen, auf den Krieg Preußens gegen den Eroberer Napoleon nämlich, in den der zögernde König geradezu hineingestoßen werden mußte.
Nicht immer übrigens gelten seine Sympathien, wie in diesem Falle, der gerechten Sache. Stabschef der „Observationsarmee“, die Preußen 1831 an seiner Ostgrenze aufstellte, um ein Übergreifen des polnischen Aufstandes auf die preußisch okkupierten Teile Polens zu verhindern, war er höchst unzufrieden mit der seiner Meinung nach zu zögerlichen Kriegführung Diebitschs, des Partners von Tauroggen, gegen die Aufständischen. Der habe nicht den Mut „zuzufahren“, schrieb er am 23. Mai 1831 seiner Frau, nannte das eine „Schande“ und erkannte auch ganz klar die europäische Dimension: „Das Schlimmste bei der Sache ist“, vertiefte er seine Kritik, „daß die Franzosen die ganze Schwäche des Russischen Reiches kennenlernen und sich also auch nicht mehr so sehr vor demselben fürchten werden.[1] Es war das Frankreich der Juli-Revolution, von dem da die Rede war, der Revolution, gegen die der Zar militärisch intervenieren wollte, woran ihn aber neben der fehlenden Unterstützung der in der Heiligen Allianz verbündeten Regierungen höchst wirksam auch der polnische Aufstand hinderte.
Bei alledem bleibt wahr, daß Clausewitz in seinen theoretischen Arbeiten Erkenntnisse formulierte, die die Wissenschaft vom Kriege revolutionierten und Gültigkeit weit über seine Zeit hinaus besaßen, vor allem über den Zusammenhang zwischen Politik und Krieg. Vielleicht aber ist es nützlich, statt immer nur die knappe These vom Krieg als der Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln zu wiederholen, einmal etwas genauer hinzusehen, wie Clausewitz die These begründete. Man wisse freilich, meint er an zentraler Stelle des Buches, „daß der Krieg nur durch den politischen Verkehr der Regierungen und der Völker hervorgerufen wird; aber gewöhnlich denkt man sich die Sache so, daß mit ihm jener Verkehr aufhöre und ein ganz anderer Zustand eintrete, welcher nur seinen eigenen Gesetzen unterworfen, sei. Wir behaupten dagegen, der Krieg ist nichts als eine Fortsetzung des politischen Verkehrs mit Einmischung anderer Mittel. Wir sagen mit Einmischung anderer Mittel, um damit zugleich zu behaupten, daß dieser politische Verkehr durch den Krieg selbst nicht aufhört, nicht in etwas ganz anderes verwandelt wird, sondern daß er in seinem Wesen fortbesteht.“[2]
Liest man das, so versteht man leicht, wie froh Lenin sein mußte, in dieser realistischen Theorie eines der „berühmtesten Schriftsteller über die Philosophie des Krieges und die Geschichte des Krieges“, wie er den preußischen General nannte, eine Unterstützung für seinen Kampf gegen die rechten Sozialdemokraten aller kriegführenden Länder im ersten Weltkrieg zu finden. Denn gerade mit der von Clausewitz zurückgewiesenen Behauptung, der Krieg schaffe eine völlig neue Situation, in der die politischen Verhältnisse der Friedenszeit keine Bedeutung mehr hätten, verteidigten die Burgfriedenspolitiker ihre Billigung der Kriegspolitik der imperialistischen Regierungen – die Vaterlandsverteidigung müsse nun Vorrang haben vor dem Klassenkampf. Mit tiefem Recht wies Lenin demgegenüber darauf hin, daß die herrschenden Klassen den Krieg zur Durchsetzung ihrer schon vor dem Krieg verfolgten Politik führten, woraus für die Arbeiterbewegung die Aufgabe folgte, auch ihrerseits ihre Politik, die revolutionäre Klassenpolitik, im Kriege fortzusetzen.
Das Clausewitz-Zitat zeigt aber auch die Grenzen der Gültigkeit seiner Theorie. Sie kann nur gelten für den Fall, für den sie gedacht war: für den damals einzig vorstellbaren Krieg, der sinnvoll war, insofern er für politische Ziele geführt werden konnte und wurde, die je nach Kriegsverlauf erreicht oder verfehlt wurden. Das war der Krieg zu Zeiten Clausewitz’, das war er noch im ersten und zweiten Weltkrieg – wiewohl man da schon zögert, von der Fortsetzung des politischen Verkehrs „mit Einmischung anderer Mittel“ zu sprechen, hatten doch die „Mittel“ im Vergleich zu den Kriegen, die Clausewitz gekannt hatte, eine qualitativ neue Zerstörungskraft mit der Folge früher unvorstellbarer Massenvernichtung erlangt. Grundsätzlich aber stimmte die These immer noch, und sie gilt bis zum heutigen Tag in all jenen Fällen, in denen Kriege mit Mitteln geführt werden, die das Erreichen politischer Ziele ermöglichen.
Im Haupt- und Zentralpunkt heutigen Friedenskampfes jedoch, in der Auseinandersetzung um die Verhinderung eines atomaren Weltkrieges, hat Clausewitz uns nichts mehr zu sagen. In diesem Krieg träte, das jedenfalls ist die übereinstimmende Meinung verantwortungsbewußter Wissenschaftler aus aller Welt, gerade das ein, was Clausewitz im Kriege seiner Zeit nicht sah und nicht sehen konnte, wofür infolgedessen seine Theorie ausgesprochenermaßen nicht gilt: eine radikale Veränderung sämtlicher Verhältnisse, das Aufhören jeglichen politischen Verkehrs, „ein ganz anderer Zustand, der nur seinen eigenen Gesetzen unterworfen ist“. Daß die Rüstungspolitik der aggressivsten NATO-Kreise einerseits und die Friedenspolitik der sozialistischen Staatengemeinschaft andererseits Folge und Ausdruck von Grundeigenschaften des jeweiligen politischen und sozialen Systems sind, ist natürlich richtig, bedarf aber zu seiner Erklärung nicht der Theorie von Clausewitz. Der schrieb „vorn Kriege“, das heißt vom bewaffneten Kampf, der geführt und gewonnen werden konnte, in dem es Sieger und Verlierer gab, in dem man sich, gesehen vom jeweilig verfolgten Ziel, vernünftiger oder weniger vernünftig verhalten konnte. Regeln über das Verhalten beim atomaren Selbstmord der Menschheit sind bei ihm nicht zu finden. Diesen Zusammenhang hatte offenbar der ehemalige NATO-General im Auge, der in dem eindrucksvollen Heynowski-Scheumann-Film so nachdrücklich und leidenschaftlich Clausewitz für tot erklärte.
Freilich – hier kehren wir zu unserem Ausgangspunkt zurück: er war ein Mann des Maßes und der Vernunft. Und lesens- wie bedenkenswert ist schon, was da der Kriegsmann Clausewitz auch schrieb: „Da der Krieg kein Akt blinder Leidenschaft ist, sondern der politische Zweck darin vorwaltet, so muß der Wert, den diese hat, die Größe der Aufopferungen bestimmen, womit wir ihn erkaufen wollen. Dies wird nicht bloß der Fall sein bei ihrem Umfang, sondern auch bei ihrer Dauer. Sobald also der Kraftaufwand so groß wird, daß der Wert des politischen Zwecks ihm nicht mehr das Gleichgewicht halten kann, so muß dieser aufgegeben werden und der Friede die Folge davon sein.“[3]
Übernahme mit freundlicher Genehmigung von Wolfgang Klein.
Widerspruch zu Clausewitz
Der von Fritz Klein formulierten These, daß uns Clausewitz im gegenwärtigen Kampf um die Verhinderung eines atomaren Weltkrieges „nichts mehr zu sagen“ hat (Wb 47/1986), vermag ich in ihrer apodiktischen Strenge nicht zuzustimmen. Sie kann eigentlich nur dann ihre scheinbare Berechtigung erlangen, wenn das geistige Erbe von Clausewitz fast ausschließlich durch das Prisma einiger formelhafter Verkürzungen seiner Lehrsätze gesehen wird, Ich meine, wir sind es einer Persönlichkeit wie Clausewitz schuldig, uns ihrer nicht allein über Schlagworte zu erinnern. Ein derartiges Vorgehen würde zweifellos den komplizierten Prozeß des kontinuierlichen Aufarbeitens unseres geistigen Erbes erschweren. Hierbei kommt es doch darauf an, historische Persönlichkeiten in den Widersprüchen ihrer Zeit zu begreifen, den ganzen Reichtum ihres Denkens nach kritischer Sichtung und Verarbeitung aufzunehmen und letztlich bei der Diskussion der komplizierten Fragen unserer Epoche mitzudenken. Als ein Appell, dabei der Theorie und der Persönlichkeit von Clausewitz gerecht zu werden, habe ich den Beitrag von Werner Neubert (Wb 41/1986) verstanden.
Interessant und von brennender Aktualität sind die von Clausewitz vor allem in seinen politischen Schriften entwickelten Gedanken der Balance. So gelte es für eine Regierung, die in ihren Haandlungen auf den Frieden fixiert sei, stets den „Gesamtprozeß des Staatenverkehrs“ im Auge zu behalten und ihn zu einer sich ausgleichenden Balance zu führen. Dabei war sich Clausewitz schon darüber im klaren, daß dieses Gleichgewicht nicht statisch sein könne, vielmehr würde es vermittels von Gegensätzen entstehen und sich durch diese erhalten. Das Bestreben der Regierungen müsse nun darauf gerichtet sein, „dieses Gleichgewicht in der Schwebe zu halten“. Anders gesagt: Gleichgewicht ist hier nicht regulatives Prinzip an sich, sondern Resultat der auf den Frieden orientierten vernünftigen Politik der Staaten. Mit diesen Gedanken ist Clausewitz unbedingt ein Repräsentant der Vernunft und des Friedens zwischen den Völkern, aber meines Erachtens keineswegs ein „Kriegsmann“, wie Fritz Klein meint.
Mir scheint, gegenwärtig ist es doch gerade die Frage des bewußten Anstrebens und des Anerkennens des strategischen Gleichgewichts, die manchem Politiker des Westens arge Schwierigkeiten bereitet. Offensichtlich vor allem deshalb, weil sich in verborgenen Winkeln des Denkens die unheilvolle Vorstellung einer strategischen Überlegenheit verschanzt hat und dem für unsere Zeit erforderlichen Denken Widerstand entgegensetzt. Handeln auf der Grundlage des Strebens nach Überlegenheit kann kein Gleichgewicht in der Schwebe halten, sondern gefährdet es in seiner Substanz: Die Schlußfolgerung von Clausewitz, wonach solche Politik den Frieden auf die Dauer in Frage stellt, gilt nach wie vor.
Clausewitz fügt seinen Gedanken von der Balance die Idee des Friedens ohne Annexion hinzu, ihm war „eine Stellung-mit dem Fuße auf dem Nacken eines anderen zuwider“. Für einen preußischen Offizier eine geradezu erstaunliche Haltung. Doch Clausewitz hatte handfeste Gründe! Durch genaues Studium der Geschichte der Kriege und der sie auslösenden Momente und Ursachen gelangte er zu der Überzeugung, daß Annexionen keinen dauerhaften Frieden sichern können, da der vor dem Krieg vorhandene Interessenkonflikt nur überdeckt sei und man darauf warten könne, bis er wieder offen ausbreche. Durch die europäischen Befreiungskriege fühlte sich Clausewitz in seiner Auffassung eines Friedens ohne Annexion vollauf bestätigt. Es bleibt also festzuhalten, daß Clausewitz kein bedingungsloser Machtpolitiker war, sondern eine Persönlichkeit, die die eigene Nation nicht auf Kosten anderer Staaten und Völker profilieren wollte. Eine den Frieden durchaus fördernde und zweifellos zeitlose Haltung!
Am Rande sei hier noch hinzugefügt, daß auch Clausewitz’ Konzeption der strategischen Verteidigung ihn als einen Mann der realistischen, auf Vernunft gegründeten Politik ausweist. In einem aggressiven Angriffskrieg sah er kein vernünftiges Mittel deutscher Politik.
Es sei auch auf den von Clausewitz erstmalig geprägten Begriff der „Friktionen im Kriege“ hingewiesen: „Friktion ist der einzige Begriff, welcher dem ziemlich allgemein entspricht, was den wirklichen Krieg von dem auf dem Papier unterscheidet. Die militärische Maschine, die Armee und alles, was dazu gehört, ist im Grunde sehr einfach und scheint deswegen leicht zu handhaben.
Aber man bedenke, daß kein Teil davon aus einem Stücke ist, daß alles aus Individuen zusammengesetzt ist, deren jedes seine eigene Friktion nach allen Seiten hin behält … Diese entsetzliche Friktion, die sich nicht wie die Mechanik auf wenige Punkte konzentrieren läßt,, ist deswegen überall im Kontakt mit dem Zufall und bringt dann Erscheinungen hervor, die sich gar nicht berechnet lassen, eben weil sie zum großen Teil dem Zufall angehören.“[4] Hier zeigt sich Clausewitz als glänzender Dialektiker, aber doch wohl kaum als Kriegsmann.
Was nun uns Heutige betrifft, so wären in einem thermonuklearen Krieg die „Friktionen“ viel größer als zu Zeiten von Clausewitz, der reale Krieg wäre mit dem auf dem Papier geplanten nicht mehr zu vergleichen. Mir will scheinen, bei allen Planspielen der Nuklearstrategen bleibt genau dieser Umstand unberücksichtigt, er ist aber von wesentlicher Natur. Der äußerst abenteuerliche und gefährliche Charakter der Vorstellungen, die von der Führ- und Gewinnbarkeit eines atomaren Krieges ausgehen, besteht unter anderem darin, daß man auf der Grundlage modernster Planungen genau zu wissen glaubt, wie ein solcher Krieg verlaufen würde. Aber genau dies kann man nicht wissen! Denn die „Friktionen im Kriege“ führen beim Einsatz von Atomwaffen zu eskalierender Gewaltanwendung, die in ihrem Wesen weder steuerbar noch vorhersagbar ist. Allerdings ist eine Vorhersage jetzt schon möglich – es wäre das Ende aller Kriege, aber auch das Ende der Zivilisation!
Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Noch einmal zu Clausewitz
Widerspruch zu Clausewitz“ meldet Andree Türpe an (Wb 8/1987) und wendet sich gegen die „apodiktische Strenge“ meiner These, Clausewitz habe uns im gegenwärtigen Kampf um die Verhinderung eines atomaren Weltkrieges nichts mehr zu sagen (Wb 47/1986). Man sei es einem Clausewitz schuldig, sich seiner nicht allein über Schlagworte zu erinnern. Dem ist natürlich nur zuzustimmen, und wenn Türpe mit verschiedenen Beispielen zeigt, daß Clausewitz „kein bedingungsloser Machtpolitiker war“, daß man von ihm lernen könne, wie gefährlich ein Streben nach Überlegenheit für die Aufrechterhaltung des Friedens ist, daß er „ein Repräsentant der Vernunft“ gewesen sei, so weist er auf Dinge hin, die gewiß auch heute noch wertvoll sind – und ergänzt dje bereits von mir gegebenen Hinweise auf Clausewitz als „Mann des Maßes und der Vernunft“.
Meine These bezog sich auf den Satz vom Krieg als der Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, von dem ich nach wie vor meine, daß er im Zusammenhang einem atomaren Weltkrieg sinnlos geworden ist. Nicht der ganze Clausewitz sollte in Frage gestellt werden, und nicht für jeden Fall, sondern eine These Clausewitz‘ für einen bestimmten Fall – Verkürzung, sicher, aber eine legitime. Denn diese These ist kein Satz unter anderen, und schon gar kein Schlagwort, sondern seine zentrale These, die Quintessenz seiner theoretischen Bemühungen. So jedenfalls sah er es selbst, und so ist es immer wieder gesehen worden nicht zuletzt von Lenin, der das Kapitel über den Krieg als Instrument der Politik als „das allerwichtigste Kapitel in Clausewitz’ Hauptwerk bezeichnete.
Und noch ein Punkt: es käme, bemerkt Türpe, beim Aufarbeiten unseres geistigen Erbes darauf an, historische Persönlichkeiten in den Widersprüchen ihrer Zeit zu begreifen. Sehr wahr – aber das würde doch z. B. im vorliegenden Fall auch bedeuten, diejenigen Positionen des preußischen Generals nicht zu vergessen, zu denen wir uns nach wie vor kritisch verhalten. Ich erwähnte in diesem Zusammenhang seine scharf antirevolutionäre Haltung 1831 gegenüber dem polnischen Aufstand und der Julirevolution in Frankreich. In diesem kritischen Moment europäischer Geschichte dachte Clausewitz weder friedfertig noch maßvoll noch vernünftig: „Mir wird tausendmal besser sein, wenn wir uns nur erst mit einem der beiden Gegner, sei es Polack oder der Franzos (keiner von beiden hatte Preußen angegriffen – F. K.), bei den Ohren hätten“, schrieb er am 6. April 1831. an seine Frau, der er eine Woche zuvor mitgeteilt hatte, er würde den Krieg gegen das revolutionäre Frankreich sich und dem Vaterland gern ersparen, habe ihn aber „seit einiger Zeit für den Zustand von ganz Europa als eine durchaus notwendige Krise angesehen …, ohne welche an keine Heilung zu denken ist.“
Übernahme mit freundlicher Genehmigung von Wolfgang Klein.
[1] – Carl von Clausewitz: Ausgewählte Briefe an Marie von Clausewitz und Gneisenau; Berlin 1953, S. 276.
[2] – Carl von Clausewitz: Vom Kriege. Hinterlassenes Werk des Generals Carl von Clausewitz, eingel. von Ernst Engelberg und Otto Korfes; Berlin 1957, S. 727 f.
[3] – Ebenda, S. 40 f.
[4] – Ebenda, S. 79 f.
Schlagwörter: André Türpe, atomar, Clausewitz, Fritz Klein, Krieg, Werner Neubert


