Reisen, das war für Rainer Maria Rilke in erster Linie Arbeit. Erholung war für ihn zweitrangig. Überall, an jedem Ort ging es um Anregungen und Ideen für sein Schreiben. Neben Frankreich war Italien das Land, das er immer wieder besuchte. Noch in seinem letzten Lebensjahr erinnerte er sich an die wiederholten Aufenthalte dort: „Italien kannte und liebte ich seit meinem achten Jahr, – es war in seiner deutlichen Vielfalt und Formfülle, sozusagen, die Fibel meines beweglichen Daseins.“
Inspiriert von den zahlreichen Anspielungen und Verweisen in Rilkes Briefen, Gedichten und Prosatexten hat sich die Literaturwissenschaftlerin Birgit Haustedt vor einiger Zeit auf eine höchst interessante Spurensuche begeben. Bis heute, so formulierte sie das auch für sie überraschende Fazit, lassen sich geführt von Rilkes Aufzeichnungen „Orte und Dinge in Italiens Touristenhochburgen entdecken, die noch nicht vom Massentourismus vereinnahmt wurden“. Einiges davon findet man jetzt in Haustedts nicht nur für Literaturinteressierte empfehlenswertem Buch Rilke in Italien, das sowohl biographische Hintergrundinformationen als auch aktuelle praktische Reisetipps bietet.
Wohin also führten Rilkes Reisen?
Ein Ziel war das damals noch österreichische, mehrere Kilometer nördlich vom Gardasee gelegene Arco. Zwischen 1897 und 1901 besuchte Rilke dort insgesamt vier Mal seine Mutter, die sich regelmäßig im Frühling zur Kur in der kleinen Ortschaft aufhielt. Während dieser Aufenthalte entstanden mehr als zwanzig Gedichte. Im Jahre 1910 kam Rilke für ein paar Tage in das nahegelegene Riva, kehrte aber danach nie wieder an den Gardasee zurück, da, wie er schrieb, „zu viel Erinnerung an seine Mutter daran hänge“.
Auf Anregung von Lou Andreas-Salomé reiste Rilke im Frühjahr 1898 nach Florenz. Mit Hilfe des Schweizer Kunsthistorikers Gustav Schneeli fand er ein Zimmer in der am Arno gelegenen Pension Benoit. Bei einem von Schneeli organisierten Herrenabend begegnete er dem Worpsweder Maler Heinrich Vogeler, der sich noch lange an diesen für ihn merkwürdigen Abend erinnerte: „Ich glaubte einen Mönch vor mir zu haben, der gern seine Hände etwas hoch am Körper hält, als sei er immer bereit zum Gebet; dazu der weiche, wollige junge Bart, wie bei Klosterbrüdern, deren Kinn und Backen nie das Rasiermesser fühlten.“
Gemeinsam mit seiner Frau Clara kam Rilke im September 1903 für einige Monate nach Rom. Anfangs konnte er der Stadt nichts abgewinnen und musste feststellen, „daß Rom (wenn man es noch nicht kennt) in den ersten Tagen erdrückend traurig wirkt: durch die unlebendige und trübe Museumsstimmung, die es ausatmet“. Das Gesamtbild der italienischen Hauptstadt hatte auf ihn die Wirkung einer „Ausstellung, in der man rasch müde wird“. Was ihn einzig begeisterte, waren die überall anzutreffenden Brunnen und Fontänen, „diese klaren köstlichen bewegten Wasser“. In späteren Jahren besuchte Rilke die Ewige Stadt zumeist nur auf der Durchreise. Während seines letzten längeren Aufenthalts im Frühjahr 1910 schloss er die Korrekturen am Manuskript seines einzigen, im Februar 1904 in Rom begonnenen Romans Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge ab.
Neapel, erfuhr der Verleger Samuel Fischer, komme „mit so vielen und so temperamentvollen Eindrücken [daher], daß es Tage braucht, ehe man wieder zu Stille und Arbeit sich zusammenfasst“. All das störe ihn bei seiner Lebensaufgabe – dem Dichten. Und so blieb Neapel für Rilke lediglich eine Zwischenstation auf dem Weg zu einem anderen Ziel. Beispielsweise als er im Dezember 1906 nach Capri übersetzte.
Die Insel habe, wie er kurz nach der Ankunft an seine Frau schrieb, „zu viel Berge auf zu engem Raum“. Einzig das im oberen Teil gelegene Anacapri begeisterte ihn. „Denn es kann“, schwärmte er, „keine Landschaft griechischer sein, kein Meer von antiken Weiten erfüllter als Land und Meer, wie ich sie auf meinen Wegen in Anacapri zu schauen und zu erfahren bekomme.“
Eingeladen von der gebürtigen Venezianerin Marie von Thurn und Taxis, die er 1909 in Paris kennengelernt hatte, verbrachte Rilke den Winter 1911/12 auf Schloss Duino am Golf von Triest. Anfangs noch beeindruckt von „diesem immens ans Meer hingetürmten Schloß“, bemerkte er nur wenig später: „Das Schloß ist ein immenser Körper ohne viel Seele“, das ihn auf sich selbst zurückwerfen würde. Die von ihm so ersehnte Einsamkeit führte schließlich zu einer existentiellen Krise, in der er sich selbst zu verstehen suchte. Seiner Gastgeberin erklärte er das mit den Worten: „Ich krieche den ganzen Tag in den Dickichten meines Lebens herum und schreie wie ein Wilder und klatsche in die Hände –: Sie glauben nicht, was für ein haarsträubendes Gethier da auffliegt.“ – Erst zehn Jahre darauf, am 11. Februar 1922, sollte er im schweizerischen Muzot die zehnte und letzte der vom Aufenthalt auf Schloss Duino inspirierten Duineser Elegien vollenden.
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Unter all den von Rilke besuchten Orten stellte Venedig mit seiner reichen künstlerischen Tradition eine besondere Herausforderung dar. Keine andere italienische Stadt zog ihn so in ihren Bann, mit keiner anderen Stadt – außer Paris – setzte er sich so intensiv auseinander. „Denn wir werden“, teilte er Anton Kippenberg mit, „nicht fertig miteinander von einem zum anderen Mal, und es wär gut zu wissen, was wir uns wollen, eines vom andern.“ Zehn Mal hielt sich Rilke in Venedig auf, zuerst an einem Wochenende im März 1897, zum letzten Mal im Juli 1920.
Bereits 2006 hat Birgit Haustedt ihr Buch Mit Rilke durch Venedig veröffentlicht, das jetzt in einer überarbeiteten, gleichfalls mit zahlreichen praktischen Hinweisen für den Aufenthalt vor Ort versehenen Neuauflage vorliegt. Auf insgesamt elf Routen folgt sie darin dem leidenschaftlichen Spaziergänger Rilke durch die Lagunenstadt.
Der Weg führt unter anderem zur Gallerie dell’Accademia, der weltweit bedeutendsten Sammlung venezianischer Malerei, und zur Piazza San Marco mit dem Dogenpalast, dessen Front Rilke als „Maske des Staates“ beschrieb. Als erster machte Rilke das selbst von den Venezianern jahrhundertelang vergessene, im Stadtteil Cannaregio gelegene Ghetto in einer der „Geschichten vom lieben Gott“ (seinem Debüt beim Insel-Verlag) zum Schauplatz eines literarischen Werks. Wir werfen einen Blick hinter die Kulissen der Paläste am Canal Grande, besuchen die gegenüber vom Dogenpalast gelegene kleine Insel San Giorgio Maggiore und machen einen Ausflug zum Lido.
Einer von Rilkes Lieblingsplätzen war der noch heute größte private Garten der Stadt, der Giardino Eden auf der Inselgruppe Giudecca, für ihn „das äußerste Irdische was man noch denken kann“. Doch als das eigentliche Zentrum der Stadt betrachtete Rilke das im Osten gelegene Arsenal, die einstige Staatswerft. Der Ort, wo man, wie er sich ausdrückte, „Wälder in Flotten verwandelt hat und die Last der Flotten in die Flügel eines Siegs“.
Fazit: Wer sich für das Thema „Rilke und Italien“ interessiert, kommt um diese beiden Bücher nicht herum.
Birgit Haustedt: Rilke in Italien, Insel Verlag, Berlin 2025, 294 Seiten, 16,00 Euro.
Dies.: Das schöne Gegengewicht der Welt. Mit Rilke durch Venedig, Insel Verlag, Berlin 2025, 237 Seiten, 15,00 Euro.
Schlagwörter: Birgit Haustedt, Italien, Mathias Iven, Rainer Maria Rilke, Venedig