28. Jahrgang | Nummer 7 | 7. April 2025

In der Ukraine ist Washington seit 2022 – Kriegspartei

von Hannes Herbst

Vor einiger Zeit hieß es zu Veränderungen an der russischen Nukleardoktrin in diesem Magazin, dass Moskau sich „in der Ukraine in einem Stellvertreterkrieg [sieht], den der von den USA dominierte kollektive Westen mit der NATO als militärischem Kern gegen Russland“ führe. Bei einer direkten militärischen Konfrontation mit der NATO wäre der Kreml „bei konventionellen Streitkräften eindeutig und mit hoher Wahrscheinlichkeit kriegsentscheidend unterlegen“; dies sei quasi der entscheidende Grund dafür, dass die russische Nukleardoktrin für den Kriegsfall nunmehr einen Ersteinsatz von Atomwaffen ausdrücklich ins Kalkül ziehe – siehe Blättchen 21/2024 und 25/2024.

In der einschlägigen Literatur wird das Phänomen des Stellvertreterkrieges mit durchaus unterschiedlichen Fokussierungen diskutiert. So lehnte etwa die Politologin Nicole Deitelhof, Leiterin des Leibniz-Instituts der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, die Anwendung des Begriffes auf den Ukraine-Krieg ab; Stellvertreterkriege seien solche, „in denen Supermächte ihre Ziele gegeneinander durchsetzen wollen, ohne selbst vor Ort als Kriegspartei aufzutreten“. Und: „Russland ist nicht in einen Konflikt eingestiegen – es hat diesen Krieg begonnen, um spezifische, russische Ziele durchzusetzen. Russland führt diesen Krieg.“ Andere Experten sehen einen Stellvertreterkrieg jedoch bereits als gegeben an, wenn Supermächte darin verwickelt sind, mindestens eine davon jedoch nicht mit eigenen Streitkräften am aktiven Kampfgeschehen beteiligt ist, sondern die Hauptkriegslast vor Ort einen Stellvertreter tragen lässt. Respektive diesem aufbürdet – je nach Blickwinkel. Eine solche Sicht zugrunde gelegt, musste dem amtierenden US-Außenminister Marco Rubio nicht widersprochen werden, als er kürzlich auf Fox News äußerte, der Konflikt in der Ukraine sei ein „Stellvertreterkrieg zwischen Atommächten – den USA, welche die Ukraine unterstützten, und Russland“.

Was den Aspekt der Unterstützung Kiews durch Washington anbelangt, so hat die New York Times / NYT diesem Engagement am 29. März 2025 eine äußerst ausführliche Berichterstattung für den gesamten Zeitraum seit 24. Februar 2022 gewidmet: „The Partnership: The Secret History of the War in Ukraine” („Die Partnerschaft: Die geheime Geschichte des Krieges in der Ukraine“. NYT-Teaser: „Dies ist die unerzählte Geschichte von Amerikas versteckter Rolle bei den ukrainischen Militäroperationen gegen die russischen Invasionsarmeen.“

Der Autor, Adam Entous, führte in einem Zeitraum von mehr als einem Jahr über 300 Interviews mit Regierungs-, Militär- und Geheimdienstmitarbeitern in der Ukraine, den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Deutschland, Polen, Belgien, Lettland, Litauen, Estland und der Türkei.

Seine Darstellung beginnt folgendermaßen: „An einem Frühlingsmorgen, zwei Monate nachdem Wladimir Putins Invasionsarmeen in die Ukraine einmarschiert waren, fuhr ein Konvoi unmarkierter Autos an eine Straßenecke in Kiew und sammelte zwei Männer mittleren Alters in Zivil ein. Der Konvoi, der aus britischen Kommandos bestand, die zwar keine Uniformen trugen, aber schwer bewaffnet waren, verließ die Stadt und fuhr 640 Kilometer westlich zur polnischen Grenze. Die Überquerung verlief reibungslos, mit Diplomatenpässen. Weiter ging es zum Flughafen Rzeszów-Jasionka, wo eine C-130-Frachtmaschine im Leerlauf wartete. Die Passagiere waren hochrangige ukrainische Generäle. Ihr Ziel war die Clay Kaserne, das Hauptquartier der U.S. Army Europe and Africa in Wiesbaden, Deutschland. Ihre Mission bestand darin, bei der Ausarbeitung dessen zu helfen, was zu einem der am strengsten gehüteten Geheimnisse des Krieges in der Ukraine werden sollte“ – nämlich einer „Partnerschaft aus Geheimdienst, Strategie, Planung und Technologie, deren Entwicklung und innere Abläufe nur für einen kleinen Kreis amerikanischer und verbündeter Beamter sichtbar waren“.

Entous‘ Bewertung: „In kritischen Momenten war die Partnerschaft das Rückgrat der ukrainischen Militäroperationen, bei denen nach US-Angaben mehr als 700.000 russische Soldaten getötet oder verwundet wurden. […] Seite an Seite planten amerikanische und ukrainische Offiziere in Wiesbadens Einsatzführungszentrale die Gegenoffensiven Kiews. Ein umfangreiches amerikanisches Aufklärungsprogramm diente sowohl als Grundlage für eine umfassende Kampfstrategie als auch für die Weitergabe präziser Zielinformationen an die ukrainischen Soldaten im Feld.“ In einem sogenannten Intelligence Fusion Center wurden täglich die Weichen gestellt. Außer dem US-Militär wirkten Offiziere von vier US-Geheimdiensten unmittelbar mit – der Central Intelligence Agency / CIA, der National Security Agency / NSA, der Defense Intelligence Agency / DIA und der National Geospatial-Intelligence Agency / NGA. „Jeden Morgen“, so Entous, „kamen die Ukrainer und Amerikaner zusammen, um die russischen Waffensysteme und Bodentruppen zu überprüfen und die […] wertvollsten Ziele zu bestimmen. Die Prioritätenlisten wurden dann an das Intelligence Fusion Center weitergeleitet, wo die Offiziere die Datenströme analysierten, um die Standorte der Ziele zu ermitteln.“

Das Ganze diente in dem Bestreben, Russland militärisch systematisch zu schwächen, dem möglichst effektiven Einsatz der umfangreichen US-Militärhilfe an Kiew. Unter Bezug auf das Pentagon listet Entous auf: „mehr als eine halbe Milliarde Schuss Munition für Kleinwaffen und Granaten, 10.000 Panzerabwehrwaffen vom Typ Javelin, 3.000 Flugabwehrsysteme vom Typ Stinger, 272 Haubitzen, 76 Panzer, 40 High Mobility Artillery Rocket Systems, 20 Mi-17-Hubschrauber und drei Patriot-Luftverteidigungsbatterien“.

An Beispielen erfolgreicher gemeinsamer US-amerikanisch-ukrainischer Militäroperationen nennt Entous unter anderem:

  • „[…] eine Kampagne gegen eine der am meisten gefürchteten russischen Kampfgruppen, die 58. Armee. Mitte 2022 feuerten die Ukrainer mit Hilfe amerikanischer Geheimdienst- und Zielinformationen Raketen auf das Hauptquartier der 58. in der Region Cherson ab und töteten dabei Generäle und Stabsoffiziere.“ Wieder und wieder wurde das Hauptquartier verlegt, doch „jedes Mal wurde es von den Amerikanern entdeckt und von den Ukrainern zerstört“.
  • „Weiter südlich nahmen die Partner den Hafen von Sewastopol auf der Krim ins Visier, wo die russische Schwarzmeerflotte für ukrainische Ziele bestimmte Raketen auf Kriegsschiffe und U-Boote verlud. Auf dem Höhepunkt der ukrainischen Gegenoffensive 2022 griff ein Schwarm maritimer Drohnen mit Unterstützung des US-Geheimdienstes CIA den Hafen an, beschädigte mehrere Kriegsschiffe und veranlasste die Russen zum Rückzug.“

Entous‘ Fazit: „Auf taktischer Ebene brachte die Partnerschaft einen Triumph nach dem anderen.“

Beteiligt am klandestinen Treiben in Wiesbaden waren im Übrigen auch hohe militärische Vertreter weiterer NATO-Staaten. Entous nennt Polen, Großbritannien und Kanada.

Strengste Geheimhaltung wurde nicht zuletzt deshalb gewahrt, um US-Präsident Biden nicht öffentlich als Lügner dastehen zu lassen, erklärte der doch ein ums andere Mal, keinen direkten Krieg mit Russland zu wollen. Und, so Entous: „Die Partnerschaft fand im Schatten größter geopolitischer Angst statt – dass Putin sie als Überschreitung einer roten Linie […] betrachten und seine oft geäußerten nuklearen Drohungen wahr machen könnte.“

Zugleich verlief die US-Kooperation mit Kiew keineswegs frustrations- und konfliktfrei. In ihrem Bestreben, „den Krieg auf Anhieb gewinnen“ zu wollen (O-Ton Entous), starteten die Ukrainer immer wieder Alleingänge, ohne Washington vorher zu konsultieren oder auch nur zu informieren. Eine dieser Aktionen führte zur Versenkung des Raketenkreuzers Moskwa, des Flaggschiffs der russischen Schwarzmeerflotte, im April 2022. Washington, so Entous, geriet „in Panik, weil die Biden-Regierung nicht beabsichtigt hatte, den Ukrainern den Angriff auf ein so starkes Symbol russischer Macht zu ermöglichen“. Vergleichbares passierte im August 2024, als ukrainisches Militär auf russisches Staatsgebiet in der Region Kursk vorrückte: „Für die Amerikaner bedeutete der Einmarsch einen erheblichen Vertrauensbruch. Nicht nur, dass die Ukrainer sie wieder einmal im Unklaren gelassen hatten. Sie hatten heimlich eine gemeinsam vereinbarte Grenze überschritten und […] gelieferte Ausrüstung in russisches Hoheitsgebiet gebracht […] und damit gegen die Regeln verstoßen […].“

Als im Kriegsgeschehen trotz nicht unbeträchtlicher Anfangserfolge – Entous: „Die Ukrainer eroberten Cherson zurück und säuberten das Westufer des Dnipro.“ – kein strategischer Umschwung zugunsten Kiews zu erreichen war, weitete Washington das US-Engagement weiter aus: „Immer wieder“, vermerkt Entous, „genehmigte die Biden-Regierung heimliche Operationen, die sie zuvor verboten hatte. Amerikanische Militärberater wurden nach Kiew entsandt und durften später näher an die Kampfzone heranrücken. Militär- und CIA-Offiziere in Wiesbaden halfen bei der Planung und Unterstützung einer ukrainischen Streikkampagne auf der von Russland annektierten Krim. Schließlich erhielten das Militär und dann die CIA grünes Licht für punktgenaue Angriffe tief im Inneren Russlands.“ Zu letzterem schreibt Entous: „Das Undenkbare war Wirklichkeit geworden. Die Vereinigten Staaten waren nun in die Tötung russischer Soldaten auf souveränem russischen Boden verwickelt.“

Auch diesen Hintergrund sollte man bei der Bewertung von Donald Trumps bisher eher unsystematisch umgesetztem Bestreben, den Krieg zu beenden, nicht aus dem Blick verlieren.

Und was ist nun mit der Einordnung als Stellvertreterkrieg?

Da findet sich bei Adam Entous ein klares Votum: „In gewisser Weise war die Ukraine […] ein Rückspiel in der langen Geschichte der Stellvertreterkriege zwischen den USA und Russland – Vietnam in den 1960er Jahren, Afghanistan in den 1980er Jahren, Syrien drei Jahrzehnte später.“