28. Jahrgang | Nummer 8 | 21. April 2025

Flagge gezeigt

von Jutta Grieser

Am 1. Mai vor fünfzig Jahren kapitulierte das von den USA ausgehaltene Regime in Südvietnam. Zwei Jahre zuvor hatte sich die „Schutzmacht“ vom Acker gemacht wie Jahrzehnte später in Afghanistan: Die Bilder der heillosen Flucht glichen sich irgendwie. Die Panzer der Front national de libération du Sud Viêt Nam (FNL) waren in die südvietnamesische Hauptstadt eingedrungen, und der Oktoberklub in Berlin besang den Sieg der Vietnamesen: „Alle auf die Straße / Rot ist der Mai / Alle auf die Straße / Saigon ist frei.“

Dass die Befreiungsbewegung Südvietnams, im Westen oft als Vietcong bezeichnet, auch in der DDR-Presse unter ihrem französischen Kürzel FNL geführt wurde, wurzelte in der Geschichte. Indochina war französisches Kolonialgebiet, mit der Befreiung Südvietnams 1975 endete ein dreißigjähriger antikolonialer Kampf. Und nach Jahrzehnten auch die Spaltung des Landes. Denn die Genfer Indochinakonferenz 1954 hatte Vietnam am 17. Breitengrad geteilt und danach hatte das Saigoner Regime auf Wunsch Washingtons die Teilnahme an den vertraglich vereinbarten gesamtvietnamesischen Wahlen verweigert.

Diese Hintergründe sind inzwischen längst dem öffentlichen Bewusstsein entglitten und den Nachgeborenen darum nahezu unbekannt. Wer hat schon jemals von Raymonde Dien gehört, jener französischen Friedensaktivistin, die sich vor einen Zug geworfen hatte, der Kriegsmaterial nach Indochina bringen sollte? Sie kam vor Gericht, ins Gefängnis und 1951 zu den Weltfestspielen nach Berlin, wo die 22-Jährige als Ehrengast gefeiert wurde. In der DDR trugen Einrichtungen später ihren Namen. Tempi passati. In der Publikation, die jetzt erschienen ist, wird dies alles mehr beiläufig erzählt, denn im Mittelpunkt steht darin eine andere, nicht minder spektakuläre Antikriegsaktion.

Im Januar 1969 hissten drei junge Männer die rotblaue Flagge mit gelbem Stern auf der Pariser Kathedrale Notre-Dame. Im Schutze der Dunkelheit erklommen sie die 96 Meter hohe Spitze des Dachreiters und ließen das FNL-Banner flattern. Der unmittelbare Anlass für diese halsbrecherische Aktion: In Paris begannen an jenem Wochenende vierseitige Verhandlungen zur Beendigung des Krieges und zur Wiederherstellung des Friedens in Vietnam, wie diese Gespräche zwischen den USA, der Demokratischen Republik Vietnam (Nordvietnam), der „Republik Vietnam“ (Südvietnam) und der FNL offiziell hießen. Zudem sollte am folgenden Montag in Washington der neue Präsident der USA vereidigt werden – Richard M. Nixon folgte auf Lyndon B. Johnson, der Vietnam, wie es General Curtis LeMay ausdrückte, in die Steinzeit hatte zurückbomben wollen. Da es nicht danach ausschaute, dass der neue Mann im Weißen Haus den Kriegskurs des alten ändern würde, hatten ungezählte Friedensbündnisse und -organisationen zu Protestmärschen am 20. Januar aufgerufen.

In diesem Buch berichten nun drei Kriegsgegner, wie sie in Lausanne in ihre Ente stiegen, nach Paris fuhren, sich in Notre-Dame einschließen ließen, um nachts am meterhohen Kreuz die Flagge anzubringen. Danach warfen sie ihr Bekennerschreiben in den Briefkasten der Redaktion von Frankreichs auflagenstärkster Tageszeitung Le Monde und fuhren unerkannt zurück in die Schweiz. Das Banner war am nächsten Tag weithin in Paris sichtbar – ein solidarisches Bekenntnis zum Freiheitskampf der Vietnamesen, eine Kampfansage an Krieg und Unterdrückung weltweit. Die Pariser Behörden wollten das Symbol der Schmach, wie sie es nannten, so schnell wie möglich einholen. Allerdings fand sich niemand, der dort hinaufklettern wollte oder konnte. Schließlich musste die Feuerwehr mit einem Hubschrauber aufsteigen, von dem sich ein Mann abseilte. Diese Bilder gingen um die Welt, in der New York Times standen am Tag von Nixons Amtseinführung zwei Fotos auf der ersten Seite. „Unsere Stimmung hob sich, als wir die Titelseite sahen“, erklärte einer der prominenten US-amerikanischen Friedensaktivisten. „Seit vier Jahren hatten wir in den USA für die Beendigung dieses Krieges demonstriert und protestiert. Und andere taten das auf der ganzen Welt – das war der sichtbare Beweis. Wir wurden ermutigt, noch entschlossener diesen Kampf fortzusetzen.“ Die Meldung der DDR-Nachrichtenagentur ADN stand in allen hiesigen Zeitungen: „Auf der berühmten Pariser Kathedrale Notre-Dame wehte am Sonntagmorgen in 100 Metern Höhe die Fahne der FNL. Feuerwehrleute mussten nach einigen Stunden erfolgloser Versuche, die Fahne zu entfernen, kapitulieren.“

Drei unbekannte Schweizer schrieben Geschichte. Und nun verraten sie, inzwischen jenseits der Achtzig, wie sie es machten. Ihre Offenbarung erschien im reaktivierten Deutschen Militärverlag, der sich heute in der Unterzeile „Antikriegsverlag“ nennt. Dem gegenwärtigen Kriegsgeschrei müsse mit Friedenspropaganda begegnet werden, hieß es dazu. Als Programm-Auftakt eignet sich dieses Büchlein bestens. Es zeigt, wie mit kleinen Episoden ganz große Zusammenhänge verständlich nahegebracht werden können. Den Alten zur Erinnerung und den Jüngeren vielleicht zur Motivation.

Bernard Bachelard, Noé Graff, Olivier Parriaux: Vietcong in Paris. Militärverlag – Antikriegsverlag, Berlin 2025, 112 Seiten, 14 Euro.

PS: Am 25. Juli 1970, anderthalb Jahre nach der Aktion der drei Schweizer, hissten die beiden Franzosen Jean-Pierre Debris und André Menras, als Lehrer in Südvietnam tätig, die Flagge der FNL im Zentrum Saigons an der Spitze eines riesigen Kriegerstandbilds. Sie wurden verhaftet, verbrachten zweieinhalb Jahre im berüchtigten Gefängnis Chi Hoa und berichteten nach ihrer Freilassung von ihren Erlebnissen und den Erfahrungen ihrer Mitgefangen in dem 1973 auch in der DDR veröffentlichten Buch „In den Bagnos von Saigon“, erschienen im Verlag Volk und Welt.