Wir erinnern uns an den Skandal während des Besuchs des ukrainischen Präsidenten im Oval Office und die Folgen. Die USA hatten ihre Waffenlieferungen und die Übermittlung von Geheimdienstdaten an die Ukraine eingestellt. Das Zweite ist besonders schwierig für die Ukraine gewesen, da die Daten der Aufklärungssatelliten die ukrainische Abwehr über laufende Angriffe Russlands in Echtzeit informierten, wie die ukrainische Zeitung Strana gestützt auf Meldungen von New York Times und The Spectator am 6. März berichtet hat. Außerdem wurden vermittels US-Geheimdienstdaten Angriffsziele in Russland ausgesucht. Trump will damit erreichen, dass sich die Ukraine zu Verhandlungen mit Russland bereit erklärt. Das hat er auch erreicht, wie wir nun wissen.
Die Europäer standen der Politik Trumps skeptisch gegenüber. Und so, so fährt die Zeitung fort, eine „europäische Kriegspartei“ versuche dazwischen zu fahren. Sie wollten zum einen die sich abzeichnende Niederlage der Ukraine nicht akzeptieren, die sich bei einem Waffenstillstand an der jetzigen Frontlinie ergeben würde und außerdem einen eigenen Friedensplan initiieren. Und dann wird auf die jüngsten Aktivitäten des französischen Präsidenten und des englischen Premierministers sowie der Präsidentin der Europäischen Kommission verwiesen, die jene seit dem Eklat beim Besuch des ukrainischen Präsidenten im Weißen Haus entfaltet haben.
Der Verweis auf eine „europäische Kriegspartei“ ist eine starke Ansage, die nach einem Faktencheck ruft. Die Europäische Union“, die 2012 den Friedensnobelpreis als Anerkennung für über 60 Jahre Frieden, Versöhnung und Demokratie erhielt, soll ein Kriegstreiber geworden sein? Ist es denn nicht Russland, das den Frieden auf dem europäischen Kontinent zerstört hat? Und Emmanuel Macron stellt in seiner jüngsten Rede an die französische Nation Russland auch als wichtigste Gefahr für den Frieden in Europa dar: „Putin verletzt unsere Grenzen, um politische Gegner zu ermorden, manipuliert Wahlen in Rumänien und Moldawien, organisiert Cyberangriffe gegen unsere Krankenhäuser und testet unsere Grenzen – in der Luft, auf dem Land, zur See und im digitalen Raum.“ Aber Russland ist nicht allein das Problem für diese europäischen Politiker. Dazu kommt die Ungewissheit über das zukünftige Verhältnis der USA zu Europa. Wird es weiterhin die Sicherheitsgarantie des US-Atomschirms geben?
Und so werden umfangreiche Programme der Aufrüstung wie das am 4. März von der Europäischen Kommission verkündet: „ReArm Europe!“ 800 Milliarden Euro sollen von der EU und ihren Mitgliedstaaten dafür aufgebracht werden. Die sich konstituierende neue Regierungskoalition in Deutschland bereitet sich darauf vor, in den nächsten Jahren bis zu Hunderte Milliarden Euro in die Aufrüstung zu stecken. All das dient dazu, um sich vor einem militärischen Überfall Russlands zu schützen und auf die Unsicherheit im transatlantischen Verhältnis zu reagieren? Oder ist es doch Ausdruck der Politik einer aktiven „Kriegspartei“?
Wenn wir über den unmittelbaren Anlass der beschriebenen Aktivitäten, den Ukraine-Krieg und die „Pausierung“ der USA in der militärischen Unterstützung der Ukraine hinausgehen, was eigentlich hat diesen Aufrüstungshype in Gang gesetzt? Welche Politik steht hinter diesen Entscheidungen?
Wie ist es, erstens, zu dieser scharfen Konfrontation von EU und Russland gekommen? Zweitens, bedeutet die Politik des US-Präsidenten tatsächlich ein Ende des transatlantischen Bündnisses, das seit dem Zweiten Weltkrieg eine Grundkonstante westlicher Sicherheitspolitik war? Und, drittens, ist es eine zentrale Frage dieses sicherheitspolitischen Puzzles, ob mehr Sicherheit für die EU-Bevölkerung nur durch mehr Waffen zu erlangen ist.
Russland und der Westen
Bedauerlicherweise ist es in unseren Debatten seit dem 24. Februar vor drei Jahren ein akzeptiertes Argument, dass man die Vorgeschichte eines „unprovozierten“ Krieges ignorieren muss. Man sollte diese aber berücksichtigen, wenn man sich ein Bild über die treibenden Kräfte der Konfrontation und ebenso über Wege zu deren Überwindung finden will.
Der Krieg in der Ukraine wird von vielen als Stellvertreterkrieg betrachtet. Das zeigt sich im Engagement der NATO-Staaten und der USA unter Präsident Biden. Natürlich trägt Russland die Verantwortung für den Beginn des Krieges. Aber es geht den russischen Verantwortlichen nicht nur um die Politik der Ukraine gegenüber der eigenen russischsprachigen Bevölkerung. Sie reagieren auch auf sicherheitspolitische Probleme ihres Landes, die der transatlantische Westen erzeugt hat. Darauf hat die russische Führung den Westen mehrfach hingewiesen, zuletzt in den Briefen Wladimir Putins im Dezember 2021 an USA und NATO. Darauf haben Hajo Funke und Michael von der Schulenburg in einem Beitrag in der taz am 30. Dezember 2023 hingewiesen.
Erst wenn man akzeptiert, dass jeder Staat, auch Russland, legitime Sicherheitsinteressen hat, wird erkennbar, wie wir aus dem Konflikt wieder herauskommen können. Das gilt natürlich nur dann, wenn man aus einer Kriegslogik, die nur Sieger und Besiegte kennt, ausbricht und zu einer Friedenslogik wechselt. Michael Müller und drei andere Autoren haben in einem Beitrag in den Blättern für deutsche und internationale Politik, Nr. 10/2023, an die Konzeption der „Gemeinsamen Sicherheit“ der Palme-Kommission erinnert: Sie „geht von der Leitidee aus, dass sich Staaten und Staatenverbünde nur dann sicher fühlen können, wenn sich auch ihre Gegenüber sicher fühlen“. Diese Ideen bestimmten die Entspannungspolitik der 1970er und 1980er Jahre bis hin zur „Charta von Paris“.
Schon bald danach begannen reverse Prozesse und vergrößerte sich die Unsicherheit wieder. Die Ausdehnung der NATO nach Osten ohne ausreichende Berücksichtigung der russischen Sicherheitsinteressen, die US-Initiative von 2008 für eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens, die politische Einmischung des Westens in die innere Entwicklung der Ukraine seit dem zweiten Maidan, die Schulung der ukrainischen Armee auf NATO-Standards und ein Vertrag mit den USA über strategische Partnerschaft mit der Ukraine im November 2021 waren alles Schritte in die falsche Richtung und stärkten antiwestliche Stimmungen in der russischen Elite.
Antiwestliche Vertreter in der russischen politischen Klasse wie Sergej Karaganow begrüßten ihrerseits diese Entfremdung zwischen Russland und dem Westen als Schritte zu größerer Souveränität. Verbunden damit war eine Hinwendung der russischen Politik zu einer Verteidigung konservativer kultureller Werte.
Selbst wenn es in den nächsten Wochen zu einem Waffenstillstand kommen sollte, das ist noch kein stabiler Frieden. Eine stabile Friedensordnung ist aber wieder möglich, wenn die russischen Sicherheitsinteressen wieder ernst genommen werden. Eine erste Voraussetzung ist dabei, die Welt auch durch die Augen der Gegenseite zu sehen (ohne natürlich die eigenen Interessen und Sichtweisen aufzugeben).
Transatlantische Verunsicherung
Die Sorge vor einer zweiten Präsidentschaft Donald Trumps war in den Medien im Sommer und Herbst letzten Jahres lange spürbar. Doch es gab Hoffnung, dass es nicht dazu kommen könnte. Dann aber kamen schockierende Nachrichten: Die Wahl Trumps nicht nur durch die Wahlmänner, sondern auch eine Volksmehrheit, die Überlegenheit des Trump-Lagers bei den Wahlen in beiden Häusern des Kongresses, die Ansprüche des inaugurierten Präsidenten gegenüber Grönland, Kanada, dem Panama-Kanal. Der absurde Vorschlag einer Befreiung des Gaza-Streifens von seiner Bevölkerung. Und schließlich die Normalisierung der Beziehungen gegenüber Russland und der Druck auf die Ukraine, der in eine Unterbrechung der militärischen Unterstützung des Landes durch die USA mündete.
Jahrzehntelange Gewissheiten sind am Schwinden. Gestern noch beteiligten sich die europäischen NATO-Staaten an den militärischen Aktionen der USA, in Afghanistan, im südchinesischen Meer, kauften in großem Umfang Waffen der US-Rüstungsbetriebe, etwa das atomwaffenfähige Kampfflugzeug Lockheed Martin F-35. Und nun erklärt der französische Präsident, man müsse sich darauf einstellen, dass der militärische Schutz der USA, ihr Atom-Schutzschirm für Europa, nicht mehr garantiert ist. Es gibt den Vorschlag, dass die französischen Atomraketen auch andere europäische Länder schützen.
Und nun müsse man sich gegen Russland als auch die USA verteidigen. Und dann werden diese exorbitanten Aufrüstungsprogramme beschlossen: 450 Milliarden im Falle Deutschlands, 800 Milliarden durch die EU. Das gerade veröffentlichte Weißbuch der EU zur Sicherheitslage behauptet, ab 2030 stehe ein direkter militärischer Konflikt mit Russland ins Haus.
Wird der Frieden allein durch mehr Waffen sicherer?
Das ist die große Frage. Mehr Waffen führen nicht automatisch einen Krieg herbei, auch wenn vielen vergangenen Kriegen solche Phasen der Hochrüstung vorausgingen. Etwa das Flottenrüstungsprogramm Deutschlands vor dem Ersten Weltkrieg oder der Aufbau von Panzerarmeen und Bomberverbänden vor dem Zweiten Weltkrieg. Ob mehr Rüstung auf die Abschreckung eines mächtigen militärischen und politischen Gegners gerichtet ist oder einen Angriffskrieg vorbereitet, wissen wir erst hinterher.
Jedoch es ist eine Erfahrung aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dass Abschreckung allein nicht ausreicht, um den Frieden zu sichern. Entspannungspolitik, Vertrauensbildung und Abbau punktueller militärischer Ungleichgewichte ist ebenfalls erforderlich. Das war auch NATO-Politik seit dem „Harmel-Bericht“ 1967. Und es war ein Grundprinzip des von den Staaten des sowjetischen Europas angestoßenen Helsinki-Prozesses seit 1975.
Aufrüstung ohne diplomatische Bemühungen um eine friedliche Konfliktlösung führen nur zu einer immer größeren Zuspitzung der Konflikte, zur Gefahr, dass die Spannungen in eine direkte militärische Auseinandersetzung münden. Und da es sich um Konflikte zwischen den größten Atommächten handelt, kann das ein Atomkrieg werden.
Das Ausbleiben diplomatischer Bemühungen gegenüber Russland durch eine Mehrheit der EU-Staaten, des Friedensnobelpreisträgers von 2012, erscheint vor dem Hintergrund dessen, dass nach ihnen nicht nur von den BRICS-Staaten sondern auch von dem erratischen 47. Präsidenten der USA gerufen wird, besonders grotesk.
Meine Position ist nicht, dass Frieden unter den aktuellen Bedingungen nur ohne Waffen möglich ist. Solange Machtinteressen ungeregelt durch internationale Verträge existieren und angesichts der Schwäche der 1945 geschaffenen Charta-Ordnung, gibt es ein legitimes Interesse jedes Staates an einer effizienten militärischen Verteidigung. Auch eine größere Unabhängigkeit der EU vom militärisch-industriellen Komplex der USA ist sinnvoll, wenn sie dann dazu genutzt wird, die geregelte multipolare Weltordnung voranzubringen.
Ich meine aber, dass die ausbleibenden Bemühungen der EU um eine gleichzeitige Wiedererlangung von gegenseitigem Vertrauen und um den Abschluss von Verträgen über die Begrenzung des Wettrüstens mit Russland, China und den USA den Sicherheitsgewinn durch Rüstung untergraben werden. Es hat sich gezeigt: Die einzige wirkliche Sicherheit für jeden Staat gibt es nur in einem solide und immer wieder neu regulierten System gemeinsamer Sicherheit.
Und die Hunderte Milliarden, die gegenwärtig für die Rüstung eingeplant werden, werden dringend gebraucht für die ökologische Transformation und die Schaffung sozial gerechterer Gesellschaften.
Der Autor hat im vergangenen Jahr ein Buch über den Helsinki-Prozess und sein Scheitern zusammen mit Peter Brandt und Gerd Weißkirchen herausgegeben: „Doppelter Geschichtsbruch“, Dietz-Verlag, Bonn 2024.
Schlagwörter: Dieter Segert, Europäische Union, Friedenssicherung, Russland, Rüstung, Sicherheitsinteressen, Ukraine