28. Jahrgang | Nummer 5 | 10. März 2025

Prokofjews Sonzowka und Romeos Geschichte

von Gerhard Müller
(für meinen Freund Jean Berlescu)

Sonzowka, ukrainisch Sonziwka, ist ein Dorf im Gebiet Donezk, 55 Kilometer westlich der Gebietshauptstadt. Im November 2024 berichtete die ukrainische Informationsagentur Wtschasno, die Bevölkerung des Ortes werde evakuiert. Sonziwka war zum Frontdorf geworden, beschossen von der russischen Armee.

In Sonzowka wurde am 23. April 1891 der große Komponist Sergej Prokofjew geboren. Dort wuchs er auf und empfing die ersten musikalischen Eindrücke. Auf Empfehlung seines Privatlehrers, des Komponisten Reinhold Glière, ging er 1904, 13-jährig, an das Petersburger Konservatorium und, nachdem er es glänzend absolviert hatte, hinaus in die „freie Welt“, zunächst in die USA, dann nach Frankreich. Die europäische Klassik und die europäische Moderne wurden sein Spielfeld, Max Reger und Igor Strawinski seine Vorbilder. Er war erfolgreich als Pianist wie als Komponist. Doch 1936 kehrte er zurück in die Sowjetunion. Wie? Zurück in das Land Stalins, des Bürgerkriegs, der Hungertoten, des „Großen Terrors“?

Das erste Projekt in der neuen alten Heimat war ein Ballett. Auch Dmitri Schostakowitsch, sein jüngerer Rivale, begann mit Balletten. Darin traten Arbeiter, Kolchosbäuerinnen, Rotarmisten auf. Prokofjew aber kam mit Prinzen, Rittern und adligen Damen, mit Shakespeares „Romeo und Julia“. Konnte es Unzeitgemäßeres geben? Während Berlioz, Bellini oder Tschaikowski sich auf das Liebesdrama konzentriert hatten, gibt es in Prokofjews Version einen dritten, entscheidenden Kontrahenten: die Gewalt und den Krieg. Sein mittelalterliches Verona spiegelte die italienische Renaissance vor und glich dem modernen Moskau, dem Moskau Stalins. Der Bruderkrieg, nicht die love story, wurde das Leitthema. Das hatte bereits Christoph Martin Wieland 1766 in seiner Romeo-Übersetzung herausgearbeitet. Auf den Urgrund des Konflikts stieß der Komponist schon 1927 bei einer Konzertreise in Moskau. In seinem Tagebuch lesen wir: „Der Streit ging hin und her zwischen zwei Lagern: den Kommunisten, die aus dem Theater vor allem ein Werkzeug der Propaganda machen wollten (‚Wenn mit Arbeitergeld, dann auch zum Wohle der Arbeiterklasse‘), und den Theaterleuten, die wollen, dass das Theater vor allen Dingen Theater bleibt und nicht zur politischen Arena wird.“ Die Parteiungen waren verwirrend. Auf der einen Seite standen Meyerhold, Eisenstein, Tretjakow, Majakowski, der junge Schostakowitsch und Prokofjew selbst, auf der anderen Stanislawski, Nemirowitsch-Dantschenko, Gorki, Michail Scholochow, Isaak Babel, Michail Bulgakow. Genies hier wie dort, damals kritische Befürworter des sozialistischen Experiments. Neben ihnen aber auch lautstarke Stümper, die unter der Fahne des „sozialistischen Realismus“ die Künste in ein plattes Propaganda-Instrument verwandelten.

Prokofjew wurde mit Aufträgen überhäuft. Die Projektliste von 1935/36 enthielt eine Theatermusik zu dem Stück „Ägyptische Nächte“ in der Bearbeitung von Alexander Tairow, eine Filmmusik zu Michail Romms „Pique Dame“ nach Puschkin, eine Theatermusik zu Puschkins „Boris Godunow“, die Musik zu lyrischen Szenen aus Puschkins Versroman „Eugen Onegin“.

All das wurde zwar komponiert, aber nicht aufgeführt. Das Brisanteste war in der Liste noch gar nicht enthalten: Prokofjews Plan, aus Michail Bulgakows Theaterstück „Puschkins letzte Tage“ eine Oper zu machen. Das Stück war ein Angriff auf das Spitzel- und Denunziantenwesen, das damals das Leben vergiftete. Aus dem Opernplan wurde nichts, das Shakespeare-Ballett immerhin kam zustande. Es war der verschwiegene Kommentar zu dem Puschkin-Projekt.

In seiner Autobiografie berichtet Prokofjew: „Ende 1934 begannen Verhandlungen über ein Ballett mit dem Leningrader Kirow-Theater. Mich interessierte ein lyrisches Sujet. Man kam auf ,Romeo und Julia‘ von Shakespeare. Aber das Kirow-Theater trat zurück, und stattdessen schloss das Moskauer Bolschoi Theater den Vertrag. Im Frühjahr 1935 arbeitete ich mit Radlow das Libretto aus, und im Laufe des Sommers wurde die Musik geschrieben, aber das Bolschoi Theater fand sie untanzbar und brach den Vertrag.“ Nicht zufällig ging der Vertrag von Leningrad nach Moskau, ebenso wenig zufällig brachte auch das Bolschoi das Ballett nicht auf die Bühne. Es geriet in die Mühle der Politik, das Räderwerk der Intrigen und des Verbrechens.

Am 1. Dezember 1934 war der Leningrader Parteisekretär Sergej Kirow, vermutlich auf Stalins Geheiß, ermordet worden. Eine Welle sogenannter „Säuberungen“ begann, um die Untat an denen zu rächen, die daran unschuldig waren. Auch der jüdische Direktor des Leningrader Theaters und Mitautor des Librettos, Sergej Radlow, war betroffen. Er verlor seinen Posten, der Ballett-Auftrag wurde nach Moskau delegiert, Die neue Theaterleitung ordnete ein Vorspiel an: Sergej Prokofjew setzte sich also im Ballettsaal ans Klavier. Es muss eine Sternstunde der Ballettmusik gewesen sein. Dennoch erklärte das Ensemble sie für „untanzbar“. Außerdem spielte die Liebesgeschichte im feindlichen „Westen“, in Italien, und war daher der „Liebedienerei“ vor dem „Klassenfeind“ verdächtig. Der Zensor, ein gewisser Kershenzew, brauchte es gar nicht mehr zu verbieten. Er beugte sich lediglich einem „demokratischen Votum“. So gab es zunächst keinen „Romeo“, wie es keinen „Boris Godunow“, keinen „Eugen Onegin“, keine „Pique Dame“ mit Prokofjews Musik gab. 1936 wurde zum Jahr der gescheiterten Gelegenheiten.

Zur Uraufführung kam das Ballett erst 1938 im tschechslowakischen Brno – kein bemerkenswertes Ereignis. Erst als man zwei Jahre später eine angemessene Partie für das neue Ballett-Genie Galina Ulanowa suchte, erinnerte man sich des verworfenen Werkes. Das Leningrader Kirow-Theater, heute wieder Marien-Theater, brachte es am 11. Januar 1940 heraus, Moskau erst nach dem Kriege, am 22. Dezember 1946, beide Male mit der faszinierenden neuen Primaballerina als Julia. Fortan ging das Ballett um die Welt, zuerst mit der Ulanowa, später mit Margot Forsythe und dem nach London emigrierten Leningrader Rudolf Nurejew. Beide Versionen wurden verfilmt, die russische 1955 von Lew Arnstam, die britische 1966 von Paul Czinner. Die Kompagnie der Berliner Komischen Oper schuf eine dritte, radikal moderne Inszenierung, ohne Renaissance-Ambiente und Anspielungen auf die Shakespeare-Zeit. Auf der völlig leeren Bühne boten Primaballerina Hannelore Bey und ihr Partner Roland Gawlik einen entfesselten, schwerelos dahinschwebenden Liebestraum. Das realistische Handlungsballett löste sich auf in eine artistische Zauberei.

Prokofjew kleidete Shakespeares Stück in eine klassizistische Musik, die ebenso charmant wie bestürzend dramatisch war. Drei Themen durchziehen leitmotivisch die Partitur und charakterisieren die Figur der Julia – eine kapriziöse Passage der Streicher, eine elegische As-Dur-Weise der Klarinette („senza espressivo“, ohne Ausdruck) und eine schwärmerische Flötenmelodie. Als Julia vor dem Spiegel steht, schlägt der Charakter der Musik um. In zehn Takten innigen Andantes nimmt sie die Erscheinung Romeos voraus. Wie ein Fremder taucht er auf. Während Shakespeare uns über die Gegenpartei ausführlich informiert, erfahren wir über Romeo und die Montagues fast nichts. Vor allem nichts über die Gründe der Urfehde. Es geht weder um Ehren und Ämter noch um Häuser, Burgen oder Titel. Es geht um nichts. Der Dichter schweigt. Oder verschweigt er etwas, was sein Publikum damals ohnehin erriet? „Romeo und Julia“ (frühneuenglisch „The Most Excellent and Lamentable Tragedy of Romeo and Juliet“) sei das berühmteste Liebespaar der Welt, heißt es. Sonst nichts? Julia ist eine reiche Patriziertochter, und Romeo? Er gehört zum Clan der Montagues, vermutlich nicht zu den Stammbürgern der Stadt, sondern zu den Fremden aus Bergen und Wäldern. Sein Name ließe sich auch ableiten von „Rom“ oder „Roma“, wie die „Zigeuner“ sich selbst bezeichnen, es ist das Wort für „Fremder“, auch „Gast“. Ist also Shakespeares Romeo ein Rom? Es gibt dafür keinen Beweis. Immerhin, in die Dramaturgie des Stückes passt es wie in die Shakespeare-Zeit. Sinti und Roma kamen im 14. Jahrhundert nach Europa und wurden Europäer. Shakespeare war Zeuge dieser dramatischen Wanderung der unwillkommenen Fremdlinge. Romeo und Julia – eine „Zigeunerliebe“?

100 Jahre nach Shakespeare erzählte man in Cremona die Geschichte der Francesca, einer Tochter des Geigenbauers Antonio Stradivari. Sie verliebte sich in einen Roma-Geiger und brannte mit ihm durch. Nie wieder hörte man etwas von ihr. Ihr Liebhaber hinterließ dem Geigenbauer, erzählt man, das Geheimnis der Roma-Geige. Shakespeare kannte diese Geschichte nicht, weil sie sich erst nach seinem Tod ereignete oder erfunden wurde. Aber der Erzähler aus Cremona kannte sie und formte nach ihr seine eigene, die Franz Liszt weitere hundert Jahre später in das Epos seiner 19 „Ungarischen Rhapsodien“ verwandelte. Er hielt sie für sein wichtigstes Werk. „Europa verdankt seine Kultur zwei orientalischen Völkern – den Juden seine Literatur und den Zigeunern seine Musik“, schrieb er in seinem Buch „Die Musik der Zigeuner in Ungarn“. In den Ungarischen Rhapsodien erzählte er ebenfalls die Geschichte von Romeo und Julia. „Liebe, Gesang, Tanz und Trunk! Vier Elemente der Wollust und des Taumels, vier Abgründe des Verderbens“, heißt es darin über die Musik der Roma.

Vom „Abgrund des Verderbens“ spricht auch Shakespeares Tragödie. Die Balkonszene ist die berühmteste des Balletts, aber die brisanteste war die Episode von Mercutio, dem tragischen Narren. Er stirbt, von dem gewalttätigen Tybalt erschlagen, mit dem Fluch auf den Lippen „Hol der Henker eure beiden Häuser!“ Der Filmregisseur Lew Arnstam setzte einen aktuellen Akzent hinzu, indem er seinem Mercutio die Züge des 1940 ermordeten Wsewolod Meyerhold verlieh. Die Szene wurde durch Prokofjew zu einem Requiem für die Opfer des „Großen Terrors“.

Es war paradoxerweise der Krieg, der das Ballett 1946 rehabilitierte. Aber schon zwei Jahre später verschwand Prokofjew wieder von den Spielplänen. Seine Werke wie die von Schostakowitsch, Chatschaturjan, Kabalewski und anderen fielen der schändlichen „Formalismus-Kampagne“ zum Opfer und waren faktisch verboten. Der jüdische Schauspieler Solomon Michoels wird durch einen inszenierten Umfall ermordet, Eisenstein erleidet eine tödliche Herzattacke, Prokofjews geschiedene spanische Frau wird als „ausländische Agentin“ zu 20 Jahren Gulag verurteilt und kommt erst 1956 wieder frei. Prokofjews Heimat aber wird heute zertrümmert und zerstört. „For never was a story of more woe / Than that of Julia and Romeo.”