28. Jahrgang | Nummer 6 | 24. März 2025

Merz beendet die „Zeiten des Paradieses“

von Jürgen Leibiger

Was meinte Friedrich Merz mit den „Zeiten des Paradieses?“, deren Ende er letzte Woche in einem Fernsehinterview ankündigte? Ob er die Börsenkurse meinte, die sich in der Zeit der Ampel-Regierung bis heute verdoppelt haben? Oder die Dividendenausschüttungen der DAX-Konzerne, die mit rund 53 Milliarden Euro einen neuen Rekord verzeichnen? Oder meint er die Mieten, die in den letzten zehn Jahren um fast zwanzig Prozent angehoben wurden? Oder die Verbraucherpreise, die dank der Energieverteuerung und monopolistischer Praktiken noch schneller als die Mieten gestiegen sind? Meint er das Fünftel der Bevölkerung, das nach jüngsten Zahlen des Statistischen Bundesamtes von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht ist? Meint er den Zustand der Infrastruktur, bei dem der Investitionsrückstand der Kommunen auf inzwischen 186 Milliarden Euro angewachsen ist? Was meint er angesichts der allerorten – und zu allererst von seiner Partei – konstatierten Krise Deutschlands mit diesem „Paradies“?

Man muss überhaupt nicht rätseln. In seinem Fokus stehen Sozialleistungen und die sozial-kulturelle Infrastruktur. Selbst in der großen Zeitung, hinter der angeblich immer ein kluger Kopf steckt, darf gefragt werden, „rettet Karlsruhe die Sozialsysteme vor Merz und der SPD?“ Die Zeitung ist eher nicht für Kritik an CDU und Merz bekannt, aber wer weiß, vielleicht ist man noch etwas verwirrt angesichts von Merz‘ Kehrtwende in Sachen Staatsverschuldung.

Apropos „Kehrtwende“. Merz mag sich angesichts der drängenden wirtschaftlichen und politischen Probleme gezwungen sehen, seine seit vielen Jahren bekannte Haltung hinsichtlich eines Defizit Spendings zu revidieren, für seine Haltung hinsichtlich der Sozialsysteme gilt das keineswegs. Er mag sich wegen der Forderung Christian Linders „mehr Milei und Musk wagen“, also libertäre Politik mittels Kettensäge zu betreiben, empört gezeigt haben – und hatte deshalb selbst harsche Kritik von Teilen seiner Partei einstecken müssen –, aber so weit auseinander liegen die beiden gar nicht. Nachdem er 2007 wegen der Querelen mit Angela Merkel erklärt hatte, nicht mehr für den Bundestag zu kandidieren, hatte er sein Credo in Buchform veröffentlicht. Titel: „Mehr Kapitalismus wagen. Wege zu einer gerechten Gesellschaft“.

Wie sehen Merz‘ Wege zu einer gerechten Gesellschaft aus? Und was soll „Gerechtigkeit“ überhaupt sein? Zuerst einmal klärte er seine Leser darüber auf, dass sie unter Gerechtigkeit zumeist etwas Falsches verstehen. Wenn „73 Prozent der Bundesbürger“ der Meinung sind, in Deutschland gehe es nicht gerecht zu, so Merz, entstehe dieses „Gefühl“ zwar auch „durch die wenigen Fälle, in denen die Einkommensschere […] tatsächlich unerträglich weit auseinanderklafft“, vor allem aber aus „der politisch gewollten Unschärfe des Gerechtigkeitsbegriffs“. Und was ist nach Merz ein „politisch geschärfter“ Gerechtigkeitsbegriff? Nun, „Gerechtigkeit, richtig verstanden, orientiert sich primär an der Schaffung von Arbeitsplätzen sowie an effizienten Anreizen für die Menschen, bestehende Arbeitsangebote wahrzunehmen.“ Gerechtigkeit hat also nichts oder wenig mit Verteilung zu tun. Und überhaupt: die Forderung nach „immer mehr ‚sozialer‘ Gerechtigkeit“ sei sowieso „unbezahlbar“. Wie lasse sich Gerechtigkeit à la Merz erreichen? Na, wie schon: Steuern und Sozialabgaben sowie Sozialeinkommen senken; der „Sozialstaat ist weit über das verträgliche Maß hinaus“ ausgebaut und die Staatsmacht sei „viel zu groß geworden.“ Die Gewerkschaften betrachtete er in seiner damaligen Kolumne für die Welt am Sonntag als „wirtschaftsfeindliche Störenfriede“; ihre „Wortführer“ seien „Totengräber des Wohlstands“.

Dem damaligen Credo ist Merz bei aller tonalen Mäßigung – schließlich ist man nicht mehr nur Privatmann, sondern Kanzler in spe – bis heute treu geblieben. In seinem Buch forderte er: „Verringerung der Steuerlast“, „Absenkung Einkommensteuertarifs“, soziale „Absicherung“ nicht durch Abgaben, sondern privat mittels Aktien, „maximale invasive Schnitte in das bisherige System von Genehmigungen und Planverfahren“ und eine andere Klimaschutzpolitik, denn sie sei eine Politik in der Art von „Ruinen schaffen ohne Waffen“. Vor zwanzig Jahren biederte er sich diversen Stammtischen mit der Schnapsidee an, die Steuererklärung müsse auf einen Bierdeckel passen. Später – als er für den Parteivorsitz der CDU kandidierte – war er nicht mehr ganz so forsch, aber wenigstens die Erklärung der Steuern für Unternehmen müsse drauf passen. Okey, nicht auf eine, sondern auf beide Seiten. Wenn Merz eine Korrektur, ja sogar Kehrtwende der Politik fordert, dann fragt man sich, in welcher Welt er eigentlich lebt. In den vergangenen Jahrzehnten wurden die Unternehmenssteuern halbiert, der Spitzensteuersatz auf die Einkommen wurde kräftig heruntergesetzt, die Erhebung einer Vermögensteuer wurde ausgesetzt, die Leistungen für Arbeitslose wurden drastisch reduziert. Die Abgabenquote, das heißt die Summe aus Steuern und Sozialabgaben in Prozent zum Bruttoinlandsprodukt, liegt heute auf dem gleichen Niveau wie vor fünfundzwanzig Jahren, bei knapp 41 Prozent. Während die Besteuerung der Kapitalseite also heruntergefahren wurde, sorgte die Seite von Arbeit und Konsum für den Ausgleich. Anders ist die weit aufklaffende Schere bei Einkommen und Vermögen auch kaum erklärbar.

Noch als vor fünfzehn Jahren die Finanzkrise voll im Gange war, sang Merz – damals BlackRock-Manager – das Loblied der Finanzinvestoren. „Gut, dass wir nun auch in Deutschland ‚Heuschrecken‘ haben“, denn „Hedgefonds korrigieren durch ihre Aktivitäten falsche Preisbildungen am Markt und tragen so zur Risikobegrenzung an den Finanzmärkten bei.“ Zwar ließe sich sagen, damals haben sich viele geirrt, warum also nicht auch der „Wirtschaftsexperte“ Merz. Aber nein, er setzt noch eins drauf: „Trotz der […] historischen Erfahrungen und trotz – oder gerade wegen – der Banken- und Kapitalmarktkrise sollte die Bevölkerung […] für den Kapitalmarkt zurückgewonnen werden.“ Wegen der Kapitalmarktkrise? Verstehe, wer will.

Interessant ist auch, wie er darauf kam, „mehr Kapitalismus“ zu fordern. Immerhin ist ja bei den ORDO-Liberalen, den Vordenkern von Ludwig Erhard, auf den sich auch Merz beruft, der Kapitalismus-Begriff mit dem Verdikt eines marxistischen Unwortes belegt. Explizit erklärte er das nicht; aber vielleicht war er dadurch inspiriert, dass im anglo-amerikanischen Sprachraum die Bezeichnung capitalism für die herrschende Wirtschaftsordnung eine Selbstverständlichkeit ist. Für ihn ist das hiesige Wirtschaftssystem eine „soziale Marktwirtschaft“, wobei er das Attribut „sozial“ eigentlich ablehnt, aber als Zugeständnis an den Zeitgeist zähneknirschend akzeptiert. Marktwirtschaft sei per se „sozial“, heute sei „der Kapitalismus gezähmt und in geordnete Bahnen gelenkt.“ Und dann kam es ganz Dicke: „Der Eigennutz und der gesamtgesellschaftliche Nutzen stehen sich nicht mehr gegenüber. Das menschliche Gewinnstreben wird stattdessen in den Dienst des gemeinsamen Nutzens gestellt.“ Womöglich dachte er dabei an den Cum-Ex-Skandal, bei dem einige Finanzkonzerne die Steuerzahler um Milliarden von Euro betrogen haben, er aber satte Honorare als Wirtschafts- und Finanzberater bezog. Ist das nicht auch ein „gemeinsamer Nutzen“? Vor genau dreihundert Jahren (1723) schrieb Bernard Mandeville in seiner „Bienenfabel“, dass „private Laster als gesellschaftliche Vorteile“ wirken würden; in den USA wird wieder von „trickle down economics“ gesprochen und Merz zeigt sich zuversichtlich, dass es gelingt, „mehr Kapitalismus [zu] wagen“ und „uns auf ein neues Zeitalter ein[zu]stellen, dass sehr viel stärker vom Kapitalismus angelsächsischer Prägung bestimmt wird“.

Ist Merz sich treu geblieben? Treu blieb er sich in der sozialen und in der Klassenfrage. In der Abgrenzung zur AfD blieb er sich nicht treu und auch nicht in der Schuldenfrage. Aber was ist schon Treue, wenn man Kanzler werden will! Der Verdacht liegt nahe, dass er es in Kauf nimmt, einige Positionen aufzugeben, um hinter diesem Vorhang sein Herzensanliegen zu verfolgen: Sozialstaat schleifen und mehr Kapitalismus wagen.