28. Jahrgang | Nummer 6 | 24. März 2025

Der allgegenwärtige „Faschismus“

von Michael Geiger

Der Faschismus war für mich, aufgewachsen in friedlichen und prosperierenden Verhältnissen der Nachkriegs-Generation, eher ein geschichtliches Phänomen. Die Konzentrationslager der deutschen Nazis waren historische Mahnmale und der Appell „Nie wieder“ schien eher einer politischen Bildung verpflichtet zu sein, aber entrückt aus der Lebenswirklichkeit der Zeitgeschichte. Natürlich war man als Deutscher sensibilisiert für den Begriff „Faschismus“. Die Diskussion, wie der italienische Ursprung des Begriffs „fascio “ und das Rutenbündel der römischen Imperatoren als Symbol der Macht zusammenhingen mit dem Begriff „National-Sozialismus“, war eher eine Diskussion unter Historikern oder Akademikern.

Lange Zeit wurde unter „Linken“ die Frage nach dem Faschismus auf die Interessen der Groß- und Finanzbourgeoisie an Expansion und Unterdrückung reduziert. Erst der sowjetische Dokumentarfilm von Michail Romm „Der gewöhnliche Faschismus“ aus dem Jahr 1965 stimmte mich nachdenklich. Indem Romm erschütternde Kollagen von Bildern der deutschen Wochenschau mit Bildern des Alltags im Krieg und im Hinterland zusammenschneidet, entsteht ein Panorama des Grausamen im Alltäglichen. Es reifte in mir eine Ahnung, dass es mehr geben muss als die Definition Georgi Dimitroffs, Sprachrohr der dritten Kommunistischen Internationale, wonach der Faschismus „die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“ ist. Auch Hannah Arendts erschütternde Berichte über den „Eichmann-Prozess“, welchen sie in das treffende Bild von der „Banalität des Bösen“ goss, vermag allein nicht die Komplexität des Faschismus-Begriffes zu erfassen. Nun hat uns die Geschichte eingeholt. Faschistische Bewegungen, faschistische Parteien, faschistische Herrschaftsstrukturen und der Kampfbegriff sind politischer Alltag. Mit moralischer Entrüstung allein oder auch bigotter Ausgrenzung werden wir das Problem nicht lösen. Je mehr wir glauben, mit dem Begriff Momente der Wirklichkeit abbilden zu können, und je mehr er droht, in die Beliebigkeit der Alltagssprache zu verfallen, desto wichtiger ist es, sich mit ihm auseinanderzusetzen.

Der Begriff „Faschismus“ bildete sich vor über einhundert Jahren heraus und geht zurück auf die Protesthaltung sizilianischer Bauern und Landarbeiter gegen die Latifundienbesitzer. Versucht man allgemeine, gemeinsame Merkmale des schillernden Begriffs zu bestimmen, dann lässt sich feststellen, dass es immer eine radikale Bewegung „von unten“, gegen das jeweilig herrschende Establishment war. Verbunden mit dem Reflex gegen die Entrechtung, Erniedrigung und Demütigung der Verlierer gesellschaftlicher Umbrüche, erwuchs eine mystisch begründete Vision für eine „völkische“ und „auserwählte“ „Volks-Gemeinschaft“. Die Vision wurde/wird befeuert durch den Aufbau imaginärer Feindbilder, seien es andere Ethnien, Religionsgemeinschaften, politische Systeme, sexuelle Orientierungen. Die Hauptsache besteht darin, durch die Erniedrigung anderer sich selbst zu erhöhen.

Ausgewiesene Faschismus Experten wie Robert O. Paxton beschreiben den Faschismus als „Form des politischen Verhaltens“. Dies sei gekennzeichnet „durch eine obsessive Beschäftigung mit dem Niedergang, der Demütigung oder der Opferrolle einer Gemeinschaft sowie durch einen kompensatorischen Kult um Einheit, Stärke und Reinheit. Vorherrschend sind Ausgrenzungen unterstützt durch Lehren rassischer Überlegenheit. Das geht nicht selten einher mit ethnischer Verfolgung, imperialistischer Expansion und Völkermord. Der Faschismus ist eine rechtsextreme, autoritäre und ultranationalistische politische Ideologie und Bewegung, die durch einen diktatorischen Führer, eine zentralisierte Autokratie, Militarismus, die gewaltsame Unterdrückung der Opposition, den Glauben an eine natürliche soziale Hierarchie und die Unterordnung individueller Interessen gekennzeichnet ist. Mit dieser Ausrichtung war/ist der Faschismus Gegner jeglicher Formen bürgerlicher Demokratie, des Liberalismus, Kommunismus, Anarchismus und des demokratischen Sozialismus. So weit, so (un)gut.

Wie ist aber die Permanenz faschistischer Denk und Verhaltensweisen möglich, zumal faschistische Bestrebungen in der Regel auf dem Boden bürgerlicher Demokratie entstehen, die vorgeben einen demokratischen Interessenausgleich zu ermöglichen.

1. Sozialer Abstieg, oder zumindest die Angst davor, bildet den Nährboden für massenhafte Proteste gegen die herrschenden Machtstrukturen. Dabei ist es egal, ob es Weltwirtschaftskrisen, Strukturwandel, der Druck des „freien Marktes“ des „Human Kapitals oder die Globalisierung des Freihandels sind. Immer suchen sich die „Verlierer“ Schuldige für ihren Abstieg und sinnen auf Vergeltung

2. Kognitive und mentale Quellen faschistoider Bewegungen verstärken deren Wirkung. Die Kraft und Faszination für das Entstehen und latente Überleben faschistischer Denk-und Verhaltensweisen bestehen darin, dass sie auf tief verwurzelte menschliche Bedürfnisse zielen. Die Art und Weise, wie sie auf „Fehlstellen“ des bürgerlichen Systems eingehen, bestärkt ihre Faszination. Nach dreihundert Jahren können die bürgerlichen Gesellschaften viele dieser Bedürfnisse immer weniger befriedigen. Ein Auszug zeigt, wie elementar diese Bedürfnisse sind:

– Sehnsucht nach Gemeinschaft, einschließlich Kameradschaft und Solidarverhalten.

– Sehnsucht nach Gleichheit, einschließlich der Chancen und Aufstiegsmöglichkeit.

– Sehnsucht nach Einfachheit, einschließlich des einfachen Sprachgebrauchs.

– Sehnsucht nach Mystik, einschließlich vorreligiösen Bewusstseins.

– Sehnsucht nach Gefolgschaft, einschließlich der Disziplin und Pflichterfüllung

– Sehnsucht nach Auserwähltem durch Selbst-Erhöhung und Erniedrigung anderer.

– Sehnsucht nach Sinnstiftung, einschließlich des „Heldentums“

In der bürgerlichen Welt und der „Moderne“, in der es nur um das Individuum geht und der das Prinzip „Jeder gegen Jeden“ zugrunde liegt, lassen sich nur bruchstückhaft diese Bedürfnisse befriedigen. Die Unfähigkeit der „Mitte“, Antworten zu finden, treibt sie in der Angst vor weiterem Abstieg hin zu den „Extremisten“ der Ränder.

3. Ein weiterer Effekt für den Erfolg faschistischer Denk und Verhaltensweisen besteht in ihren enormen Anpassungsfähigkeiten. Wie ein Chamäleon ändert die Bewegung ihre Stoßrichtung. Die anfängliche Protest-Bewegung „von unten“ wird okkupiert „von oben“ und erfährt eine Schubumkehr. Das Finanz-und Monopolkapital erkennt bis heute, in der Protestbewegung ein probates Mittel, von den entscheidenden sozialen Widersprüchen abzulenken, solange die Eigentumsverhältnisse nicht angetastet werden. Dann kann das „völkische“ Überlegenheitsprinzip so kanalisiert werden, dass es den Expansionsgelüsten des Kapitals dient. Wenn das Großkapital beginnt, die faschistischen Bewegungen zu finanzieren, entstehen zunächst starke oppositionelle Parteien und später totalitäre Staatsformen. Dann wird aus anfänglichem Protest gegen „die da oben“ eine Unterdrückung im Inneren und die Vernichtung der „Schuldigen“.

4. Es ist die permanente Angst und Sorge des Kapitals vor der Macht der Lohnabhängigen. Immer dann, wenn das Kapital glaubt, Kontrolle zu verlieren, wenn die sozialen Widersprüche unüberbrückbar scheinen, greift es zum letzten Mittel der autoritären Staatsgewalt. Wenn das Kapital anfängt, die latent faschistischen Strömungen zu finanzieren, dann wird aus einem braunen Mob eine militaristische Kriegsmaschine.

 

Quintessenz

1. Nur eine mehrdimensionale Sichtweise erlaubt uns, den Faschismus als Denk-, Verhaltens- und politische Organisationsweise zu erkennen. Eine Reduktion des Begriffs auf nur eines seiner Attribute verklärt mehr, als es erhellt. „Ein Lager ist eben nicht ein Lager!“ Erst wenn alle Faktoren eine Wirkung entfalten und sich wechselseitig verstärken, kann sinnvollerweise von „Faschismus“ gesprochen werden.

Mit dem Verweis auf ein autokratisches und diktatorisches Führerprinzip ist es nicht getan. Es gehören ebenso der Bezug auf gemeinsame Werte (wie etwa Disziplin, Gefolgschaft, Gemeinschaft), auf ideologische Einbettung von rassistischen und mystischen Ansichten, die Ausgrenzung anderer Ethnien gepaart mit Schuldzuweisungen von eigenen Missständen, die Bezugnahme auf die soziale Schicht der Lohnabhängigen und Unterdrückten ebenso wie die letztliche Akzeptanz und Hinnahme der Eigentumsverhältnisse des Kapitals dazu. Dieses „Gebräu“ bildet schließlich den Nährboden für eine ungehemmte Militarisierung der Gesellschaft. Erst die Summe der Teile bestimmt das Gesamtbild des Faschismus.

2. Die „Hufeisen-Theorie“, wonach sich linke und rechte extremistische Kräfte ähnlich sind und gar ergänzen, ist eine klassische „Halbwahrheit“, die auch als solche bekämpft werden sollte. Es sind mindestens drei Faktoren, die den oberflächlichen Schein der Gemeinsamkeit hervorzaubern und bestärken. Das sind zum ersten ihre Bezugnahme auf Protest-Bewegungen von unten mit ihrer tiefen Ablehnung des Establishments. Das sind zweitens die Radikalität ihrer Forderungen, die zumeist auch auf außerparlamentarischen Aktionen aufbauen. Und drittens sind es die Anknüpfungspunkte an tief im Menschen verankerte Grundbedürfnisse, wie Gemeinschaftsgeist, Fairness, Kameradschaft, Disziplin, Chancengleichheit und Aufstiegschancen. Auch wenn sich die Enden des Hufeisens fast berühren oder nahekommen, bleiben sie doch diametral entfernt voneinander. Wir wissen inzwischen, dass der Mensch etwa 95 Prozent seiner Gene mit den Schweinen teilt. Der kleine Unterschied, kann also Welten trennen.

3. Was ist es, dass die Enden trennt? Es sind mindestens zwei Dinge, die die „roten Linien“ der Unversöhnlichkeit ausmachen. Es ist der „exklusive und ausgrenzende Charakter“ der nationalistisch-faschistischen Bewegungen, die andere Ethnien, Religionen, soziale Herkünfte, geschlechtliche Orientierungen, Hautfarben et cetera ausschließen. Das „Fremde“ wird als Gefahr wahrgenommen und nicht als Bereicherung. Ein weiterer Trennungsstrich wird durch die Verfügungsgewalt der Produktionsmittel gezogen. Die Kluft zwischen arm und reich ist eine permanente Quelle faschistoider Denk-und Verhaltensweisen. Auch hier wird ausgegrenzt. Antifaschistischer Kampf bleibt Klassenkampf. Wer nicht nur Symptome bekämpfen will, der muss an die Wurzeln heran, und die sind mit Eigentums-Interessen behaftet.