Beethoven als Göttervater auf einem Marmorthron – so steht er, von Max Klinger geformt, im Foyer des Leipziger Gewandhauses. Nie sieht man ihn auf einem Verladeplatz an der Donau, auf einem Wiener Markt oder einem Dampfschiff. Als er 1770 in Bonn geboren wurde, herrschte in Europa die Rokoko-Kultur. Als er 1827 starb, hatte die Industrie-Kultur gesiegt. Ein Epochenwandel, wie die Menschen ihn seit dem Dreißigjährigen Krieg nicht mehr erlebt hatten, und diese neue Welt war voll von neuen Geräuschen und Tönen. Neben prunkvollen Palästen wuchsen graue Fabriken; aus dem Handwerk wurde Maschinenwerk, aus den noch aus der Römerzeit stammenden Wegen gepflasterte Fernstraßen. Die Begradigung des Rheins war das größte europäische Bauvorhaben seit den ägyptischen Pyramiden und verkürzte die Handelswege um mehrere hundert Kilometer. Die Welt bekam ein neues, befremdliches Gesicht. Dampf und Qualm verfinsterten den Himmel und verpesteten die Luft. Neben den Knecht und die Magd trat der Arbeiter, eine verrußte, schwarze Gestalt mit klobigen Händen und finsterem Blick. Sausende Räderwerke und fauchende Schornsteine übertönten den Gesang der Vögel. Neben der Natur wuchs die vom Menschen erschaffene technische Welt.
Beginnt mit dem Maschinenwesen auch eine neue Epoche in der Musik? Hatte sie überhaupt eine Bedeutung auf dem Felde der Ästhetik? Eine Dampfhammer-Sinfonie oder eine eiserne Brückenfuge gibt es nicht, insofern müsste man die Frage verneinen. Die technische Revolution schuf einen neuen akustischen Raum. Das war noch keine Musik, aber auch nicht überhörbar. Neben dem Glockengeläut der Viehherden, dem Rauschen des Wassers und der Winde erschallte nun auch der Lärm der Maschinen. Die industrielle Revolution – im Unterschied zur heutigen digitalen – war akustisch strukturiert. Gleichmäßig klopfende, klappernde oder tickende Rhythmen, heftige Schläge oder Explosionen und andere polyrhythmische und heterophone Prozesse gaben ihr die Kontur. Sie begleiteten die an Zauberei grenzende Verwandlungskunst der neuen Industrie.
Wie Ingenieure und Techniker aus Erz und Kohle Maschinen, aus Wolle Gewebe machten, so formten Musiker aus dem rohen Maschinenlärm die Wunderwerke der Opern und Sinfonien. Die Geschwindigkeit ist das eine Merkmal der neuen Musik, der Rhythmus das andere. Zur barocken Terrassen-Dynamik fügten sie neue Elemente, Crescendo und Decrescendo, Accelerando und Ritardando, den überraschenden, gegen das Metrum gerichteten synkopischen Akzent und anderes. Der Musiker wird zum Virtuosen, der Dirigent betritt den Plan als Maschinenmeister des Klangs. In Partituren tauchen mikroskopisch kurze Notenwerte auf, Notenköpfe mit vier oder fünf Balken, Zweiunddreißigstel oder Vierundsechzigstel, die Musik rast dahin, „Presto assai“ wird eine geläufige Vortragsanweisung.
Zum Tempo kommt der Rhythmus, das metrische Gestampf. Die Hammerschläge der Sforzati werden ein Charakteristikum des neuen Stils. Die gemächlichen Stützakkorde der Generalbasszeit weichen den „Alberti-Bässen“, zerlegten Dreiklängen, die die Melodien über neuartige Harmonien tragen, aus denen die Funken dramatischer Dissonanzen springen.
Es war eine komplette Revolution, die die industrielle zwar nicht abbildete, aber an ihr partizipierte. Beethoven war nicht der erste, aber der souveränste Meister des neuen Stils. Seine Musik könnte mit ingenieurtechnischem Vokabular beschrieben werden. Was allerdings nicht heißt, dass sie die neuen Maschinen nachahmte. Es geht um Inspiration, nicht um Imitation.
Beethovens Klaviersonaten sind geradezu berauscht von dem neuen maschinellen Rhythmus. Nehmen wir den ersten Satz der Klaviersonate d-Moll, op. 31 Nr. 2. Anton Schindler, Beethovens Sekretär, erzählte um 1840, nach Beethovens Tod, der habe bei der Komposition Shakespeares Märchenspiel „Der Sturm“ im Sinn gehabt. Er kleidet die Sonate in ein literarisches Naturbild. Mit der neuen Maschinenwelt verbindet Schindler sie nicht. Hörend können wir den Shakespeare-Bezug nur mit Mühe realisieren. Keine Dialogszene wird nachgebildet, kein weiser Prospero tritt auf, keine verliebte Miranda, kein wüster Caliban, nur den „Sturm“ vernehmen wir in dieser rasenden Musik. Das ungestüme Tempo erinnert jedoch eher an einem mechanischen Impuls als an eine entfesselte Naturgewalt
Auch das Wien der Beethovenzeit ist in unseren Vorstellungen eine barocke Idylle, die Kunstwelt des „Rosenkavaliers“. Das war jedoch nicht die Stadt, die Beethoven kannte. Die feudale Residenzstadt an der Donau hatte sich Ende des 18. Jahrhunderts vor seinen Augen in eine der ersten Industrie- und Handelsstädte Europas verwandelt. Das Potsdam Friedrichs II. war dagegen Provinz. Zwischen 1799 und 1803 entstand der Wien-Neustädter Kanal. Hatten auf den alten, unbefestigten Straßen vier bis sechs Zugpferde einen mit höchstens 1,5 Tonnen Nutzlast beladenen Wagen gezogen, so konnte man auf den neuen Kanälen einen mit 30 Tonnen Last beladenen Kahn mit einem einzigen Zugpferd befördern.
Wien wurde das neue europäische Zentrum der Textilindustrie, nachdem die französische Revolution die Seidenfabrikation von Lyon lahmgelegt hatte. 1813 gab es in Wien 600 Seidenfabrikanten mit 8000 mechanischen Webstühlen und 14- bis 20.000 Arbeitern, die Mehrzahl Frauen. Großunternehmer wie Andreas Jonas beschäftigten 2000 Weber an 660 Stühlen. Napoleons Kontinentalsperre von 1806 – 1813, die den Handel mit England unterband, verursachte einen Gründungsboom der Baumwollindustrie auf dem Kontinent. Im Umkreis von Wien entstanden zahlreiche neue Baumwoll-Manufakturen. Die Dampfmaschinen, die mechanischen Spinnmaschinen, die „spinning Jennies“, und die mechanischen Webstühle verhundertfachten die Produktion, aber sie vernichteten auch das tradierte Handwerk und die zwar schlecht, aber wenigstens überhaupt bezahlte Heimarbeit und führten zur Verelendung eines großen Teils der Bevölkerung. Zwischen 1801 und 1810 ersetzten die aus England eingeführten mechanischen Spinnmaschinen, um ein Beispiel zu nennen, rund 100.000 Heimarbeitsplätze allein in der Wiener Region. Aus einstigen Heimarbeitern wurden Fabrikarbeiter, die Klasse des Proletariats entstand.
Das war Beethovens Welt, das hat er erfahren und mit eigenen Augen gesehen. Diese erste „industrielle Revolution“ war zugleich die Initialzündung des modernen „Krieges der Armen gegen die Reichen“, wie ihn zuerst Friedrich Engels 1842 in seinem Buch „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ nannte. Davor hatte Goethe diesen Krieg bereits poetisch geschildert in seiner Tragödie „Egmont“. In den Künsten griff eine neue Ästhetik Raum. Die harmonisierende, religiös dominierte Barock-Ästhetik verschwand, und eine andere, antagonistische Ästhetik trat auf, die Ästhetik des Hässlichen. Das war Beethovens Wien.
Die Proletarisierung der Gesellschaft wird ein Thema. Wahrheit und Schönheit zerfallen in antagonistische Bestandteile. Das Schöne flieht von den Höfen in die (romantische) Natur. Das Erhabene ist nicht die majestätisch erhöhte Pracht, sondern ein feuerglühender und rauchgeschwärzter Unhold. Der Fürstenwelt tritt die Maschine als ein eiserner Komtur gegenüber. Als Erdgeist oder Mephisto erhält sie ihre theatralische Gestalt. Dämonische Ingenieure wie Dapertutto oder der unheimliche Rat Crespel erschaffen bei E.T.A. Hoffmann eine seelenlose Automatenwelt. In Schillers „Ballade von der Glocke“ und Goethes „Zauberlehrling“ verselbständigt sich der Produktionsprozess zu einer vernichtenden Kraft und verdrängt die barocken Götter. Die englische Dichterin Anna Seward schrieb:
„Das düstre Wolverhampton hier entzündet
Nun seine ruß’gen Feuer; Sheffield auch,
von Rauch umhüllt, umringt von hohen Bergen,
Die seinen Kräuselhauch verdichten
Zu schmutzigem Nieselregen…“
Das ist 1785 gedichtet, da war Beethoven 15 Jahre alt. Diese „Ästhetik des Hässlichen“ wird seine Musik bestimmen. Der neue akustische Raum, den die industrielle Revolution geschaffen hat, findet hier seine Entsprechung. Die neuen Sonaten rasen – mit Ausnahme natürlich der Adagio-Sätze – in vorher nie gekanntem Tempo dahin. Das thematische Material wird in aphoristische Motive zertrümmert. Die Maximen des klassischen Theaters – die Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung, die ihre musikalische Entsprechung in der Einheit der Tonart, des Metrums und der Thematik fanden, wird zerschlagen. Wie in ihrer Sturm- und Drang-Zeit Schiller und Goethe die klassizistischen Formen sprengten, so zertrümmerte Beethoven sie in seiner Musik. Mit dem Menuett aus Mozarts Jupiter-Sinfonie hätte Ludwig XVI. zur Not noch einen Hofball eröffnen können. Mit den Scherzi aus der „Eroica“ oder den Sonaten nicht mehr. Ihr Rhythmus war der einer ratternden Maschine.
Im Zentrum von Beethovens poetischem Kosmos steht der antike Halbgott Prometheus, nach Karl Marx der „vornehmste Heilige im Kalender der Revolution“. So tritt er auf in Goethes Prometheus-Gedicht: oder in dem Poem „Prometheus Unbound“ (Der entfesselte Prometheus) des englischen Romantikers Percy Bysshe Shelley. Bei Beethoven wird aus dem Götter-Vater der antike Gott des Feuers, Erschaffer und Lehrmeister der Handwerke, der Wissenschaften und Künste. Er schrieb im Auftrage der Wiener Oper das Ballett „Die Geschöpfe des Prometheus“, das am 28. März 1801 uraufgeführt wurde. Im antiken Gewande kam hier die technische Revolution auf die Bühne, denn die Geschöpfe des Prometheus – Handwerker, Arbeiter, Forscher und Künstler – waren die Helden des Balletts. Sie waren Abgesandte und Boten dieser neuen Welt, die sich gerade bildete. Ein paar Jahre später betraten sie das Proszenium in dem Gefangenenchor seiner Oper „Fidelio“.
Schlagwörter: Beethoven, Gerhard Müller, Geschichte, Industrie-Kultur, industrielle Revolution, Musik