27. Jahrgang | Nummer 26 | 16. Dezember 2024

Ein General gegen den Krieg

von Petra Erler

Erich Vad, Ex-General und langjähriger Merkel-Berater hat ein neues Buch geschrieben. „Ernstfall für Deutschland“. Es ist, so die Unterzeile, ein „Handbuch gegen den Krieg“. Es ist ein schmaler Band. Aber sie haben es in sich, und ich empfehle die Lektüre sehr gern. Vad lädt zur Zustimmung, zum Nachdenken, aber auch zum Widerspruch ein.

Das Buch lässt sich in drei Teile gliedern. Im ersten Teil beschreibt Vad ein Kriegsszenario. Der Ukrainekrieg ist 2025 über die Grenzen „geschwappt“, und nun ist Deutschland als Teil der Nato mitten im Krieg gegen Russland. Es ist ein konventioneller Krieg, den Vad simuliert. Was man dabei vor allem lernt, ist, dass auch ein rein konventioneller Krieg unser Land aufs Schwerste verheeren würde. Dabei erspart Vad den Lesern sogar noch bestimmte Albtraumszenarien. Was wäre, wenn deutsche Chemiewerke hochgingen und sich giftige Wolken über Städte und Dörfer legten oder abgeschaltete Kernkraftwerke zerstört würden? Die ganze industrielle Infrastruktur in der Bundesrepublik würde zur Waffe gegen Soldaten und Zivilisten gleichermaßen. Die „Kellermenschen“, wie Stig Dagerman nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die deutschen Einwohner in Großstädten beschrieb, die in den Fundamenten ihrer zerstörten Häuser hausten, würden sich davor auch nicht mehr retten können. Die entscheidende Erkenntnis lautet (und es ist schade, dass sie Vad nicht ganz deutlich auf den Punkt brachte): Wer glaubt, den Ukraine-Krieg nach Russland tragen zu müssen, trägt ihn nach Deutschland.

Wer glaubt, dass es konventionell bleibt, wenn Atommächte direkt aufeinandertreffen, irrt sich. Kürzlich erklärte die Spezialistin Rebekah Koffler, die einen militärischen geheimdienstlichen Hintergrund hat, dass alle Simulationen, die die US-Geheimdienste zum Fall einer direkten militärischen Konfrontation zwischen den USA/NATO und Russland durchführten, unweigerlich im nuklearen Schlagabtausch endeten.

Fünf Milliarden Menschen würden sterben, innerhalb von 72 Minuten, recherchierte Anne Jacobsen.

Diejenigen, die sich zunächst in Bunker retteten, und auch Vad findet das eine gute Vorsorge-Maßnahme, sterben nur langsamer, qualvoller. Wenn wir schon Sorge vor der unterirdischen Endlagerung von radioaktivem Abfall haben, dieser Abfall beherrschte in der nuklearen Katastrophe überirdisch große Teile der Welt. Aber er wäre noch nicht mal das schlimmste Problem. Das Schlimmste wäre die Verdunklung des Sonnenlichts, äquivalent zu einer klaren Mondnacht in unseren Breiten. Auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte. Da wächst nichts mehr, was man essen könnte. Diejenigen, die womöglich mit Stöcken einen nächsten Krieg ausfechten, was auch Vad erwähnt, werden keine Menschen mehr sein, nicht in dem Sinn, indem wir uns einst verstanden.

Der zweite Teil des Buches ist ein „typischer“ Vad. Er denkt darüber nach, was getan werden muss, um Deutschland einen Krieg zu ersparen und entwickelt eine „To-do-Liste“ für unser Land. Diesen Teil mag ich am wenigsten, nicht, weil er keine wichtigen Gedanken enthielte, sondern weil er in einem gewissen Widerspruch zum stärksten Teil des Buches steht, dem dritten und letzten Teil.

In diesem Teil erkennt man die Weltsicht von Vad am besten. „Du kannst das, Deutschland“ überschrieb Vad seine Überlegungen. Vad plädiert für eine deutsche Emanzipation vom hegemonialen US-Anspruch. Der tue unserem Land aktuell nicht mehr gut, findet er. Im Kalten Krieg sei das anders gewesen. Er will mehr strategische Autonomie für Deutschland, will unser Land als ein Kraftzentrum der Welt entwickelt sehen, dass mit anderen auf Augenhöhe seine Beziehungen gestaltet. Dabei will er sich nicht von den USA lossagen. Ihm geht es allein um die Aufgabe des aktuellen Vasallentums und um eine Partnerschaft, die diesen Namen verdient.

In der heraufziehenden multipolaren Weltordnung sieht er zwei Optionen für die Staatenbeziehungen. Entweder wird es jede Menge Stellvertreterkriege geben oder es gelingt ein „Miteinanderumgehen“, das die Berücksichtigung oder zumindest ein Verständnis für die Sicherheitsinteressen anderer impliziert.

Für Vad liegt die Zukunft in einer echten Sicherheits- und Verteidigungsunion der EU, wenn möglich unter deutscher Führung. Die geplante Raketenstationierung der USA in Deutschland 2026 lehnt er ab.

Vad will, so wie schon im ersten Buch („Abschreckend oder erschreckend? Europa ohne Sicherheit“), dass sich die deutsche Politik ganz harte Fragen stellt: Statt nur einen nationalen „Überlebensinstinkt“ soll Deutschland eine Strategie entwickeln, die unserem Land im EU-Rahmen Weltgeltung verschafft, aber gleichzeitig das Friedensgebot des Grundgesetzes respektiert.

Es wäre ein großes Missverständnis, dass Vad, der auch in seinem zweiten Buch einer verhandelten Lösung des Ukraine-Krieges das Wort redet, zur pazifistischen Taube mutierte.

Damit hat er nichts am Hut. Eine militärische Stärke Deutschlands bzw. ganz grundsätzlich ist für ihn ein sine qua non auf dem Weg in eine ungewisse konfliktreiche Zukunft. Eine Zukunftsvision, in der das nicht mehr zum konstituierenden Element von Staatenbeziehungen wird, hat Vad nicht. Das ist erklärbar und aufgrund seiner militärisch geprägten Biographie auch verständlich. Für Bundeswehrkameraden und alle mit dem „Rotlicht“ von Kriegspropaganda Bestrahlten dürfte Vads Buch schon verstörend genug sein.

Dennoch hätte ich mir gewünscht, er wäre wenigstens ein oder zwei Schritte weitergegangen im neuen Buch. Zumal er ein Clausewitz-Experte ist. Wenn Kriege politischen Zielen dienen, dann folgt daraus, dass die Befriedung der Welt nur darin liegen kann, das Politische zu stärken und das Militärische zu zertrümmern. Das schließt die Eliminierung jeder Art von Kernwaffen ein. Die Mehrheit der Staaten dieser Welt hat diese Waffen nicht, einschließlich Deutschland. Unser Land ist insofern nicht nur „unter einem Schirm“, sondern auch Geisel der Entscheidung von Kernwaffenmächten. Das sollten wir nicht mehr akzeptieren.

Das führt auch ganz logisch zur Schlussfolgerung, dass das Militärische im Verhältnis zwischen Nato und Russland zurückgedrängt werden muss, sowohl geographisch als auch strategisch, und die postulierte Feindschaft, die wechselseitig besteht, einem positiveren Verhältnis weichen muss.

Anders als Vad habe ich keine Hoffnung mehr, dass sich Deutschland bzw. die EU in der multipolaren Elefantenrunde als ein Pol konstituieren könnte. Das hätte nur Europa als Kontinent gemeistert, in einer Gemeinschaft, die von Lissabon bis Wladiwostok gereicht hätte. Durch die Abkopplung von Russland, mit der die EU ihre kontinentale Vision final beerdigte und sich voll den USA unterordnete, band sie faktisch ihr Schicksal an den zweiten Sieger im globalen Wettbewerb, in dem sie selbst zunehmend verliert. Ihr fehlen die Wettbewerbsfähigkeit, die Innovationskraft, starke junge Generationen. Das hat Konsequenzen für alles, für den sozialen Frieden und Zusammenhalt genauso wie für das militärisch Machbare. Umgekehrt entstand die russisch-chinesische Allianz. Das wird im Westen unterschätzt.

Vad konnte noch nicht wissen, was die jüngste Demonstration des russischen Waffentests in Dnipro bedeutet: Die Pläne Deutschlands von einem Raketenabwehrschirm wären, sofern sie noch realisiert werden sollten, nichts als eine weitere Verschwendung von Steuergeldern. Ein Verbot von Kurz- und Mittelstreckenwaffen in Europa, die erneute vollständige Abschaffung einer ganzen Waffenkategorie, ist der einzig verlässliche Weg, um aus dem sicherheitspolitischen Dilemma herauszukommen, in dem Russland den stärkeren Hebel in der Hand hat. Ganz grundsätzlich aber war diese militärische Lage seit 2018 absehbar, denn auch im interkontinentalen Bereich hat die russische Seite die Nase vorn. Wenn man seinem Gegner in Sachen Kriegsführung unterlegen ist, ist Kriegsführung die dümmste Idee.

Den Kriegstreibern sei deshalb, und leider hat Vad das nicht so deutlich gemacht, wie er könnte, ins Stammbuch geschrieben: Befände sich Russland in einem aggressiven Kriegstaumel, bräuchte es keine weiteren fünf Jahre, um konventionell so große Schäden anzurichten, dass sich die Nato davon niemals wieder erholen würde. Zur bitteren Wahrheit gehört ebenfalls, dass in der EU, so wie auch in der Nato ein Wettbewerb darum stattfindet, wer als amerikanischer Vorzugspartner gilt.

Auch Vad scheint sich noch nicht ganz darüber im Klaren, dass der aktuelle Stellvertreterkrieg der Nato gegen Russland verloren ging, und das politische Problem darin besteht, diese Demütigung der Nato in ein Patt zu verwandeln, das beiden Seiten einen gesichtswahrenden Ausweg bietet. Sonst endet es im Nuklearen. Das große Verdienst des zweiten Buches von Erich Vad besteht darin, dass er unbeirrt auf einer sicherheitspolitischen Diskussion in und für Deutschland besteht, die derzeit nicht geführt wird.

Erich Vad: Ernstfall für Deutschland. Ein Handbuch gegen den Krieg. Westend, Neu-Isenburg 2024, 80 Seiten, 15,00 Euro.