27. Jahrgang | Nummer 24 | 18. November 2024

Tucholsky als Betrachter und Kritiker des jungen Mediums Film

von F.-B. Habel

Zum Film gehört Gesinnung.

Ignaz Wrobel, 1912

 

Bis heute ist das Dilemma der audiovisuellen Medien, dass sie Zwitter zwischen Kunst und Kommerz darstellen. Wenn wir Tucholskys Beschäftigung mit Kino und Film betrachten, sollten wir einen kurzen Blick in die Entstehungszeit werfen. Es kann festgestellt werden, dass der Film und Kurt Tucholsky fast gleichaltrig sind – ebenso wie die kommerzielle Nutzung der neuen Erfindung. Hier vernachlässigen wir die vielen ehrenwerten Vorläufer aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die zum Teil auf dem Prinzip der Reihenfotografie beruhten.

Die Forscher im Sold des amerikanischen Geschäftsmannes Thomas Alva Edison (dem die meisten Erfindungen aus seinen Unternehmungen zugeschrieben werden, da er die jeweiligen Patente einreichte) hatten 1891 eine funktionstüchtige Filmkamera entwickelt, woraufhin 1893 in West Orange/New Jersey ein erstes Filmatelier in Betrieb genommen wurde. Ziel war die Auswertung in sogenannten „Kinetoskopen“ auf Jahrmärkten oder hierfür eingerichteten Ladengeschäften, da noch kein Filmprojektor entwickelt worden war. Das gelang 1895 unabhängig voneinander einem deutschen und einem französischen Brüderpaar. Im Berliner Wintergarten-Varieté führten die Brüder Max und Emil Skladanowsky am 1. November 1895 ihre ersten Filme auf einer Leinwand durch ihren selbst gebauten Projektor „Bioskop“ vor (ein zeitgenössischer Nachbau ist im Filmmuseum Potsdam zu bewundern) und bestritten damit die erste Kino-Vorstellung der Welt. Im gleichen Jahr realisierten in Paris die Brüder Auguste und Louis Lumière kurz nach Weihnachten eine solche Vorstellung. Beide Paare arbeiteten nach verschiedenen Methoden, aber die Apparatur der Skladanowskys, die bis 1897 kontinuierlich für den Film arbeiteten, erwies sich als störanfälliger, und das von den Lumières entwickelte Prinzip setzte sich weltweit durch. Schließlich waren die Lumières Unternehmer, während die Skladanowskys aus dem Schaustellergewerbe (u.a. mit der Laterna Magica) hervorgingen.

Auch, wenn Filme damals ein Nischendasein führten und bestenfalls eine Jahrmarktssensation waren, konnte die Familie Tucholsky damals in Berlin nicht darauf aufmerksam werden, denn sie war 1893 nach Stettin übergesiedelt.

Die Filmindustrie entwickelte sich in den folgenden Jahren besonders in den USA, Frankreich, Dänemark, Italien und Deutschland. Hier entstanden etwa in der Zeit, als Kurt Tucholsky in Berlin Gymnasiast war, erste Formen des Tonfilms, wo unter Zuhilfenahme von Schallplatten Künstler mit Liedern und Arien auftraten. Auch hiervon scheint Kurt Tucholsky keine Notiz genommen zu haben, obwohl Künstler, die er später zu seinen Bühnenfavoriten zählten, wie Fritzi Massary, Otto Reutter und Curt Bois, hier im Film mit ersten Tönen zu hören waren.

Tucholsky und der Film kamen – zumindest öffentlich bemerkbar – erst in den Jahren 1912 und 1913 zusammen. Es war die Phase, in der der Film sich langsam vom Vergnügen mit tränenreichen Schmonzetten und hanebüchenen Grotesken zur Kunst wandelte und anerkannte Autoren und Schauspieler (die früher Vertragsstrafen riskierten, wenn sie in Filmen auftreten wollten) für Filmproduktionen arbeiteten. An dieser Stelle soll vor allem Tucholsky als ein früher Kritiker und feuilletonistischer Betrachter einzelner Filme einen Schwerpunkt bilden.

In Paul Cassierers Kunstzeitschrift PAN veröffentlichte er Ende Mai 1912 wenn auch keine Kritik, aber eine Glosse auf einen neuen Film. Anstelle einer Rezension nahm Tucholsky das Erscheinen des Films „Der Eid des Stephan Huller“ zum Anlass für diesen Text. Autor des kolportagehaften Romans war Felix Hollaender (1867-1931, Onkel des Komponisten Friedrich Hollaender, der später zahlreiche Tucholsky-Texte fürs Kabarett vertonen sollte). Hollaender wurde zum Friedrichshagener Dichterkreis gezählt, war Dramaturg und Regisseur an Max Reinhardts Deutschem Theater in Berlin, das er zu Beginn der zwanziger Jahre auch eine Zeitlang leitete.

Und es war wunderschön: Mord, Gerichtsszenen Polizei, Eifersucht, ein blutiger Kragen, Pulsadern – es war so schön! – Die Damen sagten: sch – ha …! ist das schrecklich! – und hatten, als das Licht wieder anging, so merkwürdig rote Köpfe und feuchte Augen, und der Kinobesitzer äußerte zu einem Stammkunden: „Den Film? – Den seh ich mir jeden Tag viermal an!“– Nu? (1)

Tucholsky meinte schon 1913 eine „Kinomüdigkeit“ zu erkennen und schrieb im Vorwärts: 

Immer wieder: Der ungetreue Ehegatte, und der Ehezwist, der schließlich gut abläuft. Das ach! so moralische Kind. Der Eisenbahnunfall. Die große Liebe mit dem gebrochenen Herzen (grün gefärbt). Die andere große Liebe. Die Wochenübersicht: ein Brand in Pankow. Ein Wettlauf in Ohio. Die Erbprinzessin von Kambodscha in ihrem entzückenden Kleidchen, was sie sich selbst spitzengeklöppelt hat. Zum Einschlafen.

Es wird schon leerer. Daß es eine „Kunst” ist, glaubt schon längst keiner mehr. Und alle wissen schon, was mit dem Kino los ist. Wir alle. Nur die Fabrikanten noch nicht. Die lassen immer noch in ihren Ateliers aufnehmen: Das Gewitter im Anzug. Der Veitstanz und seine Folgen. Emma, der Sanatoriumsflirt … (2)

Zwei anonym im Vorwärts erschienenen Texte konnten von der Tucholsky-Forschung eindeutig dem Autor zugewiesen werden. Seine skeptische Haltung gegenüber dem Film als neuem Kunstgenre kommt hier besonders deutlich zum Ausdruck. Am Ende seines Lebens bekannte er im Herbst 1935 in einem Brief: „… will ich Dir sagen, daß ich keineswegs an die Unfehlbarkeit meiner Prophezeiungen glaube. Ich habe mich verhauen: 1913 habe ich an eine ‚Kinomüdigkeit’ des Publikums geglaubt und die Bedeutung dieser löblichen Institution nicht erkannt.“

Drei Wochen nach dem ersten Vorwärts-Artikel schrieb er ebendort:

Es hilft alles nichts. Wir haben jetzt 1913 – der Niedergang kommt. Wenn nicht heute, dann morgen – aber er kommt. Darüber sind sich die Einsichtigen schon längst klar.[…] Der aufgeklärte Arbeiter liest ein gutes Buch, hört einen guten Vortrag und verzichtet auf „Einzug des Zaren in Berlin” – „Im Wirbel des Schicksals” – „Leo will dünner werden”. Das ist schon so, da ist nichts zu ändern. (3)

Da war aber doch etwas zu ändern. Die Filmproduzenten setzen immer stärker aufs Bildungsbürgertum. Besonders das Jahr 1913 brachte zahlreiche spektakuläre Filme heraus: „Der Student von Prag“ von Hanns Heinz Evers mit Paul Wegener und erstmals mit einer Original-Filmmusik, und „Der Andere“ unter Mitarbeit des Autors Pau Lindau mit dem Schauspielstar Albert Bassermann in der Hauptrolle. Den Film inszenierte Max Mack, der im selben Jahr auch einen Lustspiel-Klassiker nach einem Skript des „Sabinerinnen“-Autors Franz von Schönthan herausbrachte: „Wo ist Coletti?“. Das ergab die erste Filmkritik, die Schaubühnen-Herausgeber Siegfried Jacobsson seinem skeptischen Neuzugang Tucholsky abverlangte, der sich als Peter Panter in der Schaubühne vom 17.4.1913 nachsichtig zeigte:

Langweilig, obgleich einer von den bessern Films. Weil stellenweise der Regisseur nicht untüchtig dominiert, weil das Technische immer Spaß macht: man sieht immer wieder gern so ein riesiges Luftschiff abfahren, ankommen, Automobile, die Verfolgung eines Autobusses, von oben aufgenommen, alle rennen, fallen, flüchten. Das ist schon ganz lustig […] Und sonst muß ich nur noch berichten, daß Hans Junkermann […] und Mätsch Lessing besser waren als mancher viel berühmtere Filmschauspieler.

Wenn Peter Panter in seiner ersten Filmkritik für die Schaubühne trotz seiner grundsätzlichen Abneigung gegen den Film doch viele lobende Worte findet, so liegt das daran, dass hier tatsächlich – von der damaligen Kritik noch nicht ausreichend gewürdigt – das erste Lustspiel mit Anspruch im deutschen Film gelang. „Wo ist Coletti?“ war nicht nur eine amüsante Verfolgungsjagd an vielen Berliner Originalschauplätzen, sondern zugleich eine Persiflage auf das Sensationsgehabe der Boulevardpresse. Hier fand zudem Kino im Kino statt, wobei eine aberwitzige Situation bis ins Absurde gesteigert wird, wenn der Held sich selbst in der Wochenschau sieht und das Kino angstvoll verlässt, weil er befürchtet, sich in eben diesem Kino sitzend auf der Leinwand wiederzufinden. In einer restaurierten Fassung wurde dieser Film übrigens zur Berlinale 2023 und anschließend bei arte TV wiederaufgeführt.

Die Abfolge eines damals typischen Kinoprogramms schilderte Tucholsky im gleichen Jahr 1913 in der Schaubühne:

Worauf das Pathé-Journal anhub: „Hier in Turkestan machte gestern der bolivische Gesandte eine Ausfahrt”; „Maurenbrecher tritt aus der sozialdemokratischen Partei aus“ – und man sah ihn treten; „Wilson interessiert sich für die Pfadfinder“ – und man sah ihn sich interessieren. (4) (Der erwähnte Sozialdemokrat war der Theologe und Publizist Dr. Max Maurenbrecher, ein Großonkel des heute bekannten Liedermachers Manfred Maurenbrecher.)

Dann schildert Tucho die Abenteuer des Franzosen Charles Prince, der als Rigadin eine jahrelange erfolgreiche Filmserie bestritt, die er in deutschen Kinos als Moritz absolvierte und resümiert:

Ich habe das nur erzählt, um zu zeigen, daß es doch auch schließlich möglich ist, einmal einen guten, witzigen Film zu bringen: das Ganze dauerte fünfzehn Minuten, prätendierte nichts und unterhielt auf eine so anständige, saubere und glückliche Art, daß man sich nur wünschen kann, dergleichen oft und immer zu sehen. (5)

In „Rheinsberg“ gehen Claire und Wolfgang zum Kinematographen, wo sie den Film „Moritz lernt kochen“ sehen. Den hatte Tucholsky also vermutlich nicht erfunden. Es muss ihn gegeben haben.

Auch für den sozialdemokratischen Vorwärts schrieb Tucholsky, hier als Ignaz Wrobel, über aktuelle Filme – besonders, wenn sie die Arbeiterschaft angingen, so im Oktober 1913:

Das beste, was ich von Films sah, war „Germinal“ in den Lichtspielen im Mozartsaal. Von dem Roman Zolas war nicht mehr allzu viel übrig geblieben, aber immerhin: der Film war nicht schlecht. Ästhetisch ist er unbedingt zu loben: Pathé hat gezeigt, daß er noch allen Rivalen die Stange hält. Hier sind die Bildausschnitte gut, im Dunkel leuchtet wohl ein Metallteil auf, die Romantik eines gefährlichen Betriebes ist gut herausgeholt. Aber: der soziale Gegensatz ist lange noch nicht scharf genug betont. Wenn man sich schon nicht so eng an den Zolatext hielt – was ja auch nicht nötig ist –‚ dann hätte man keinen Pappsalon des Großindustriellen aufbauen, sondern wirklich zeigen sollen, wie es bei den Arbeitern aussieht […] Hier war schärfste Realistik am Platze! – Aber im Ganzen und Großen ist dieser Film, der im wesentlichen eine Grubenkatastrophe zeigt, interessant und empfehlenswert. (6)

Schon damals erkannte Tucholsky, dass Film mehr sein konnte und musste als auf die Leinwand übertragene Geschichten. Die Kamera, das Bild als Mitgestalter entsprach seinen Intentionen. In der Schaubühne schrieb er im Herbst 1913:

Warum hat keiner den Verstand, Maler in die Spitze zu stellen? Der Film ist erst in zweiter Linie eine Angelegenheit des Dichters – in erster eine des Malers, des Manns mit den Augen. Aber freilich: da müßte man experimentieren, dürfte nicht kitschen – und das ist nun einmal nichts für die Kinofirmen. (7)

Tatsächlich haben bildende Künstler in den Jahren der Weimarer Republik einige Filme gedreht, die der Avantgarde zugerechnet werden können, etwa der Grafiker Hans Richter oder der Maler Paul Leni. Eine eigene, international beachtete Richtung der Filmkunst entstand nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland mit dem Filmexpressionismus. Regisseure setzten stark auf die Arbeit von Szenenbildnern, die Seelenzustände der handelnden Figuren durch ihre Interieurs deutlich machen wollten. Urbild bleibt bis heute der 1919 gedrehte Film „Das Cabinet des Dr. Caligari von Paul Wiene. In der Weltbühne schrieb Peter Panter im März 1920 kurz nach der Uraufführung:

Dieser Film, verfaßt von Carl Mayer und Hans Janowitz, inszeniert von Robert Wiene mit Hilfe der Maler Hermann Warm, Walter Reimann und Walter Röhrig, ist etwas ganz Neues. Der Film spielt – endlich! endlich! – in einer völlig unwirklichen Traumwelt […] Fast jedes Bild ist gelungen: namentlich jene kleine Stadt auf dem Berge (alle Szenerien sind gemalt, nichts spielt vor wirklichen Dingen), ein Platz mit Karussells, merkwürdige Zimmer, entzückend stilisierte Amtsräume, in denen Hoffmannsche Beamte auf spitzen Stühlen sitzen und regieren. Verzwackt die Gebärden, verzwickt Licht und Schattenspiel an den Wänden . . . 

Die Fabel vom Mißbrauch des Somnambulen eben nicht neu – aber höchst einprägsam gemacht. Manche Bilder haften: der Mörder in seiner hohen Zelle, Straßen mit laufenden Leuten, eine dunkle Gasse – man muß an Wunder glauben, um das gestalten zu können. (8)

Über die Arbeit von Paul Leni, der ihm von der Brett’l-Bühne her bekannt war (er hatte für das Eröffnungs-Programm von Paul Lenis Künstler-Kabarett „Die Gondel“ im Frühjahr 1923 einige Chanson-Texte geschrieben), äußerte sich Peter Panter in der Weltbühne im Herbst 1923 anlässlich eines Atelier-Besuchs bei den Dreharbeiten zu „Tragödie der Liebe“ von Joe May, dessen Kulissen Leni entwarf:

Er hat nicht nur mit Kenntnis des Films gebaut – die haben viele. Er hat auch nicht nur mit Geschmack gebaut – den haben manche. Er hat mit Liebe gebaut. Es hat ihm Spaß gemacht, einen verschneiten Hauseingang hinzusetzen, verwinkelte Dachstuben, einen wundervoll runden Gerichtssaal, ein unvergeßlich melancholisches Wartezimmerchen einer kleinen Station – es ist „die“ kleine Station, und jede Novelle von Maupassant könnte hier ihren Anfang nehmen. Das alles ist mit den feinsten Fingerspitzen und mit dem größten Wissen um Einzelheiten gearbeitet – und es ist gearbeitet und nicht hingeschludert. Eine Meisterleistung. (9)

Stets blieb Tucholsky die Liebe zum französischen Film, aber auch amerikanische Filme erkannte er dort an, wo sie nicht allzu kommerziell daherkamen. Sein Held war Charlie Chaplin, in dessen Filmen er sowohl das sozialkritische wie das tragikomische Moment schätzte, wenn sie eine Einheit bildeten. Einige dieser Filme gelangten in den zwanziger Jahren in deutsche Kinos. „The Kid“ (1920) kam unter dem Titel „Der Vagabund und das Kind“ 1923 nach Deutschland. Erzählt wird die Gemeinschaft von Charlie mit einem Straßenjungen. In der Weltbühne 49/1923 schrieb Peter Panter u.a.:

Der Film „The Kid” hat gar keinen richtigen Inhalt. Aber Chaplins Herz hat einen, und zu diesem Herzen gehört der feinste Kopf unter den lebenden Filmdarstellern und der klügste unter den Schauspielern überhaupt. Dieses Herz ist bei den Unterdrückten, und es hat eine gefährliche Waffe: sein Gehirn.

Komisch ist alles: komisch der Gang, komisch die Füße, komisch das Hütchen und komisch der Rhythmus dieser gleitenden, sehr sparsamen Bewegungen. Chaplin zieht den armen ausgesetzten Müllkastenjungen auf, und die hinreißende Herzenskomik dieser Vorgänge liegt vor allem darin, daß dieses kleine Stück Malheur durchaus für voll genommen wird.

Neben den Filmbesprechungen hat sich KT auch Genrebetrachtungen gewidmet, beispielsweise den schon in der Kaiserzeit florierenden „Erotischen Films“, wie sie in Hinterzimmerzirkeln gezeigt wurden, und denen er in einem Aufsatz von 1920 nicht viel abgewinnen konnte:

Spaß machen nur die Environs. Die Kulissen des Filmfabrikanten, mit denen er aufs geflissentlichste bestrebt ist, uns einen ha! Harem vorzutäuschen, die Ungeschicklichkeit der Mitwirkenden, wenn es sich um naturalistische Spiele handelt, die vollkommene Unbeteiligtheit und Bezahltheit der weiblichen Hauptrollen – („Wat? Interesse ooch noch?“) […] Und Spaß macht das Publikum. Diese entzückende Mischung von Verbergenwollen und nicht Können, dieser Flip aus Sinnlichkeit, Scham – wirklich: Scham! – und Sachverständnis, gemischt mit Reminiszenzen –, all das macht es viel lohnender, in die Gesichter der Parkettleute zu sehen statt auf die Leinwand oder auf die Szene. (10)

Nach dem Ersten Weltkrieg gab es die „zensurfreie Zeit“, bei der in sogenannten „Aufklärungsfilmen“ Nuditäten dargeboten wurden und Sexualpraktiken thematisiert wurden. Meist waren diese Streifen spekulativ und verfehlten ihren hehren Anspruch:

Diese gesamten Aufklärungsfilme, von denen einige schon in den Vorstellungen für Kinder auftauchten, sind ein öffentlicher Skandal. Sie haben nichts, nichts, nichts mit Aufklärung oder irgendwelchen ethischen Zwecken zu schaffen: sie dienen lediglich dazu, die Leute zu kitzeln. Den angehängten Moralspruch liest kein Mensch, und wenn das arme Opfer der sozialen Verhältnisse unter Harmoniumbegleitung zu Grabe getragen wird, dann schnupft befriedigt das ganze Parkett. (11)

In diesem Zusammenhang sei auch – ohne hier näher darauf eingehen zu können – darauf hingewiesen, dass sich KT immer wieder ernsthaft mit der Zensur bei Film und Rundfunk auseinandersetzte. Er griff bestimmte Anlässe auf, beispielsweise das zeitweise Verbot des sowjetischen Films „Panzerkreuzer Potemkin“ von Sergej Eisenstein oder den Kampf um die amerikanische Verfilmung des Remarque-Romans „Im Westen nichts Neues“, worauf ich in einer früheren Jahrestagung schon einmal einging. (12)

In einem seiner „Schnipsel“ schrieb Peter Panter 1931 in der Weltbühne:

Jede Filmkritik müßte eigentlich so anfangen: „Der vorliegende Film enthält als maßgebliches Element die Kunstanschauungen eines zweiundsechzigjährigen Stiftfräuleins, zweier kunstfremder Oberregierungsräte und eines schwunglosen Malers. Auf deren Zensur hin ist der Film gemacht worden.“ (13)

Diese Äußerung fiel im selben Jahr, in den KT für den Film arbeitete – erfolglos. Sein Treatment „Seifenblasen“, in dem er im Varieté-Milieu Geschlechtertausch und Travestien thematisierte, wurde nicht produziert. Zu einem neuen Anlauf, beim Film Geld zu verdienen, kam es nicht. Erst in den fünfziger und sechziger Jahren begann der deutsche Film in Ost und West, auf Tucholskys Stoffe zurückzugreifen.

 

  1. tu., Pan, 30.5.1912

  2. Vorwärts, 5.5.1913

  3. Anonym, Vorwärts, 27.5.1913

  4. Schaubühne, 14.8.1913

  5. ebd.

  6. Ignaz Wrobel, Vorwärts, 22.10.1913

  7. Schaubühne, 23.10.1913

  8. Peter Panter, Die Weltbühne, 11.03.1920

  9. Peter Panter, Die Weltbühne, 25.10.1923

  10. Peter Panter, Schall und Rauch, Heft 7, Juni 1920

  11. Ignaz Wrobel, Berliner Volkszeitung, 07.05.1919

  12. Tucholsky und die Medien, Schriftenreihe der Kurt Tucholsky-Gesellschaft, Band 3, Röhrig Universitätsverlag, St. Ingbert 2006

  13. Peter Panter, Die Weltbühne, 3.2.1931

Im Oktober fand in Potsdam die Jahrestagung der Kurt Tucholsky-Gesellschaft unter dem Motto „Tucholsky und die Medien seiner Zeit“ statt, auf der neben Printmedien besonders das Verhältnis des Publizisten zu den damals neuen Medien Schallpatte, Film und Rundfunk im Mittelpunkt standen.

Wir dokumentieren hier den Vortrag des Vorsitzenden der Gesellschaft, dessen Recherchen von der DEFA-Stiftung unterstützt wurden.