27. Jahrgang | Nummer 24 | 18. November 2024

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Tod eines Handlungsreisenden“ – Berliner Ensemble Neues Haus / „7 ½ Brücken“ – Hans-Otto-Theater Potsdam / „Das Schloss“ von Franz Kafka – Lesung von Ulrich Matthes (Hörbuch)

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BE: Selbstzerstörung einer Familie

So zart und sanft. So einfühlsam besorgt um ihre kaputte Familie. Dabei leise ringend mit Verzweiflung, wuchernder Hoffnungslosigkeit – bis Wut und Abwehr gellend ausbrechen bei dieser nur scheinbar Zerbrechlichen. Eine traurig Liebende, ein waidwundes Muttchen und, wenn es sein muss, eine strenge Mutter. Gedemütigtes Eheweib aber auch starke Frau – das ist die Linda Loman der zutiefst berührenden, überwältigend wirkungsmächtigen Schauspielerin Kathleen Morgeneyer. Ambivalenzen, Chaos der Gefühle, seelische Wechselbäder, das spielt sie wie kaum eine andere!

Sie ist das Kraftzentrum in Max Lindemanns Inszenierung von Arthur Millers sentimentalem US-Kleinbürger-Drama „Tod eines Handlungsreisenden“. Und nicht die Titelfigur Willy Loman, Handelsvertreter aus Brooklyn, der, ausgebrannt und aussortiert von der gnadenlosen Härte des Geschäfts, entsetzlich untergeht.

Als „pathetisches Rührstück“ kritisierte der Autor selbst sein gesellschaftskritisches Werk von 1949. Dennoch wurde es mehrfach verfilmt und wird noch immer oft gespielt. Nicht unbedingt wegen des angeprangerten Systems kapitalistischer Ausbeutung, sondern wegen Arthur Millers packender Studie einer deklassierten, zunehmend sich selbst zerstörenden Familie. Da sind das in primitivem Macho-Wahn hilflos erstarrte Familienoberhaupt Willy (Oliver Kraushaar als notorisch dämlicher Brüllaffe), seine beiden Söhne Biff (Max Gindorff als durchtriebener Taugenichts) und Happy (Jannik Mühlenweg als Schürzen jagender Schlawiner) sowie die kluge, mit dem Desaster ringende Mama Linda.

Es ist das Setting für ein aufregendes Psychodrama. Doch Lindemann verläppert sich in Umständlichkeiten, statt konzentriert auf die intensive Zeichnung der Figuren zu setzen. Obendrein drängt er in mehr als zwei länglichen Stunden das Trio der kaputten Kerle emsig in Richtung Knallchargen. Dazu ein Hin und Her zwischen Mikrophonen links und rechts und in der Mitte sowie das überflüssige Hoch und Runter eines unsinnig komplizierten Bühnenbilds von Marlene Lockermann. – Aber ach: Da ist ja noch Linda, die große Kathleen Morgeneyer …

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HOT Potsdam: Die Mondäne auf der Endmoräne

Ein wild aufgebauschter Stoffballen stürzt an die Rampe und sprudelt heraus: „Ich hatte keine andere Wahl – das Urstromtal. Und Potsdam, die Mondäne, lagert auf einer Endmoräne.“ Es ist die personifizierte Havel, die gleich anfangs Erdgeschichtliches umreißt. Es ist der so schöne und von allen so geliebte Urgrund, warum Potsdam auf einer Insel lagert, mithin Brücken braucht. Zählen wir die großen, sind es sieben: Glienicker, Humboldt, Niedlitzer, Lange Brücke, Baumgartenbrücke und zwei für die Eisenbahn. Und so nennt denn Jan Neumann, Autor und Regisseur, sein Potsdam-Porträt „7 ½ Brücken“. – Aber wieso noch eine halbe? – Sie steht als Metapher für die historischen wie gegenwärtigen, für die geistigen, politischen und baulichen Ab- und Umbrüche der Stadt. Für Unvollendetes; für die Träume und Sehnsüchte ihrer Bewohner damals und heute.

Und so wirft denn Neumanns opulente Dreistunden-Show jede Menge Blitzlichter auf sämtliche Epochen – von der frühen Besiedlung bis hin zum 21. Jahrhundert – in einer grellbunten, zuweilen melancholischen oder auch bitterernsten Mischung aus Historiendrama und Dokumentarstück. – Da treten die Langen Kerls auf in der Kasernenstadt, ein Soldat der Bundeswehr, der Stummfilm-Star aus Babelsberg, das Zimmermädchen Stalins in Cecilienhof, der polnische Zwangsarbeiter, die Hausbesetzerszene nach 1990, ein sprechendes Pferdegespann aus Hungerzeiten, der NVA-Grenzsoldat von der Güst (Grenzübergangsstelle) Griebnitzsee, immer wieder die große Havel und dazu die kleine Nuthe, der Maulbeerbaum und der Seidenraupenspinner und natürlich Günther Jauch.

Sketche, Gesang, Kalauer, Kurzszenen und viele, oft allzu lange Monologe im fliegenden Wechsel. Manchmal klingt es nach Revue und Kabarett, mal wie kleines Kammerspiel und immer wieder auch wie Wikipedia.

Ziemlich aufregend jedoch, wie der Krach in einer West-Ost-Familie eskaliert. Es geht ums Preußentum, um gute (oder schlechte) Preußische Tugenden, um Untertanengeist, um den berüchtigten Tag von Potsdam einschließlich den Turmneubau der Garnisonskirche. Dann zerbrechen zwei Angler sich den Kopf über das Namenswirrwarr um die vielen Wilhelms, Friedrichs eins, zwei, drei. Man feiert den Wissenschaftsstandort, das schöne alte wie das restauriert Barocke, betrauert die schwere Kriegszerstörung, schimpft über Abriss und Wiederaufbau in der DDR und rühmt ihn, wie man die Rekonstruktionen der BRD bestaunt und bekrittelt. Das epochale Toleranzedikt des Großen Friedrich wird als Pas de deux getanzt und gelegentlich wird heftig gewettert über mürrische brandenburgische Borniertheit.

Das menschlich Authentische, beigesteuert von Erlebnissen des neunköpfigen Ensembles, das possierlich Märchenhafte, die Geschichten und die Geschichte – das alles ist durcheinandergewürfelt mit Passagen wie aus dem Brockhaus. Neumann stopft diesen Potsdam-Bilderbogen im XXXL-Format enthusiastisch voll bis zum Rand mit der extrem wechselvollen Stadtgeschichte. Und das begeisterte Publikum im ausverkauften Haus ist mit loderndem Herzen dabei. Man fühlt sich bestens belehrt und unterhalten.

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Für Weihnachten: Ein Nachschlag zum Kafka-Jahr

Das Dorf, das Schloss, der Schnee. Im Dorf das ländliche Leben im Winter, dann im Frühling, Sommer, Herbst, das kreatürliche Dasein zwischen Wirtshaus, Stall, Feld im Kreislauf der Natur. Im Schloss aber, wie unnatürlich und jenseits des Elementaren, ein um sich selbst in Akten-Bewegungen kreiselndes, „von Dienst, Vorgesetzter, Arbeit, Lohnbedingungen wimmelndes“ und wucherndes Behördenmonster. In einer einzigen Menschenwelt zweierlei Existenz neben-, aber auch in- und übereinander: Für den im Schloss angestellten, zwischen dort und dem Dorf wandelnden Herrn K. eine Unheimlichkeit; grotesk, komisch, letztlich unbegreiflich. Und: Je fester sich Befremden und Undurchschaubarkeit einnisten in seiner Seele, desto einsamer und verlassener fühlt sich Herr K. Ihn übermannen Grauen, Angst und die Qual des Gefühls, ungeheuerlichen Mächten schutzlos ausgesetzt zu sein.

Von diesem Leid erzählt Franz Kafka in seinem Roman „Das Schloss“. Und Ulrich Matthes, der große deutsche Einsamkeits- und Verlorenheitsschauspieler (und Star des Deutschen Theaters), spielt ihn uns lesend vor. Seine unverwechselbare, nicht einschmeichelnde, sondern eher streng, auch scharf und seltsam kehlig eindringliche Stimme ist allein für sich schon ein Naturereignis. Zugleich aber ist sie eine entlang der Textpartitur kopfgesteuerte Kalkulation. Das selbstverständlich technisch Virtuose schafft es, dass Ulrich Matthes die immer schmerzvoller werdende Seelenwelt des Herrn K. und dessen Unglücklichsein weder sentimental noch pathetisch klingen lässt. Sie klingen schlicht entsetzensvoll.

Ungekürzte Lesung von Ulrich Matthes. Deutsche Grammophon Literatur, Hamburg. Hörbuch 10 CDs, ca. 22 Euro.