27. Jahrgang | Nummer 24 | 18. November 2024

Münsterlandpartie

von Alfons Markuske

Wir sind noch unterwegs nach Coesfeld, nächster Halt ist in Velen. Auch dort ein Wasserschloss mit Ursprüngen im 14. Jahrhundert. Heute ein Seminarhaus, also für die einheimische und die touristische Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich. Auf den Wiesen um den Wassergraben erneut reichlich wildes Geflügel. Ein Nachwuchserpel, offenbar noch nicht vertraut mit dem Fortpflanzungsrhythmus seiner Gattung, belästigt in Balzpose Entendamen. Die ihm allesamt die kalte Schulter zeigen.

Unser Übernachtungsquartier erwartet uns mitten in Coesfeld. Die Skyline der Kleinstadt dominieren zwei wuchtige Backsteinkirchen mit hohen Türmen – die Evangelische Kirche am Markt und Sankt Lamberti, katholisch und ebenfalls am Markt gelegen.

Letzterer statten wir einen Besuch ab, um uns eine höchst ungewöhnliche Darstellung des gemarterten Heilands anzuschauen, ein sogenanntes Gabelkreuz. Mehr als drei Meter hoch, allein der Korpus des Gottessohnes misst über zwei Meter und ist geschnitzt aus einem einzigen Stamm Walnussholz. Erstmals bezeugt ist dieses Kreuz durch einen Ablassbrief vom 1. Juli 1312. Nachdem die ursprünglich aus Grundierung modellierten Adern und Wunden, Farbaufträge sowie das ehemals aus Werg und Leim gestaltete Kopfhaar der Christusfigur nicht mehr vorhanden sind, wirkt der Gekreuzigte nunmehr nachgerade modern.

Durch die Jahrhunderte war dem Kreuz eine wechselvolle Geschichte beschieden. Während einer Besetzung der Stadt durch calvinistische Hessen, die 1634 begann und erst 1652 endete, wurde es auf einem Dachboden versteckt, um es vor dem Zugriff der ketzerischen Soldateska zu schützen. Bis Anfang der 1980er Jahre war das Kreuz Blickfang regelmäßiger Prozessionen. Seither wird aus konservatorischen Gründen eine Replik eingesetzt.

Auf dem Marktplatz vor Sankt Lamberti befindet sich, um einen Brunnen platziert, ein eigenartiges Ensemble allegorischer Figuren, teils aus Bronze, teils aus anderen Materialien. Vom Schöpfer, dem Künstler Jürgen Goertz, „Konferenz der Elemente“ benannt, womit jene der antiken Philosophie gemeint sind: Feuer, Wasser, Erde und Luft.

Die heutige letzte Etappe unserer Tour führt von Coesfeld über 50 Kilometer nach Seppenrade, einem zu Lüdinghausen gehörenden Ort, wo wir im historischen Hotel „Mutter Siepe“ absteigen werden. Doch vor dem Start suchen wir eine Tankstelle auf, um in deren Waschanlage unseren von der gestrigen Unwettertour durch Landregen und über entsprechend matschiges Terrain völlig verdreckten Pedelecs eine Dusche zu verpassen.

Danach geht es den moderat ansteigenden Coesfelder Berg hinauf in Richtung Benediktiner Abtei Gerleve. Auf der Abfahrt vom „Gipfel“ des Berges zur Abtei – die Straße ist asphaltiert, trocken und Autos sind gerade keine unterwegs – zeigt mein Fahrradtacho plötzlich 51,3 Stundenkilometer. Höchste Zeit zu bremsen. Doch da ist der Abzweig zur Abtei bereits verpasst. Also bergan wieder retour.

Die gewaltige Kirche der Abtei mit ihren zwei Türmen gewinnt ihre klotzige Trutzigkeit aus dem neoromanischen Baustil, in dem sie ab 1901 errichtet wurde. Wir betreten das Gotteshaus kurz vor 12:00 Uhr, greifen uns ein Info-Blatt und setzen uns in eine der vorderen Bankreihen vor dem Altar, um dasselbe zu lesen. Plötzlich öffnet sich eine seitliche Tür und ein Dutzend Mönche defiliert herein, besetzt das Chorgestühl rechts und links des Altars und hält die Mittagsandacht. Zwischen Latein und Deutsch oszillierender liturgischer Singsang. Mitten drin richtet einer der Mönche einige Worte an die wenigen anwesenden Gläubigen (und atheistischen Touristen wie uns?) – eine Mahnung zu „Ausdauer“ bei der „Erfüllung von Gottes Willen, um des Verheißenen teilhaftig zu werden“. Ein gottgefälliges Leben als Billett ins (verheißene) Paradies? Da liegt uns das Credo Heinrich Heines allerdings deutlich näher: „Ein neues Lied, ein besseres Lied / O Freunde will ich euch dichten! / Wir wollen hier auf Erden schon / Das Himmelreich errichten. / […] / Den Himmel überlassen wir / Den Engeln und den Spatzen.“

Weiter geht es nach Nottuln. Ort und dortige Abtei wurden 860 gegründet. Bereits 1493 erfolgte die Umwandlung des Klosters in ein freiweltliches adeliges Damenstift, wo die Aspirantinnen ihre ritterliche Abkunft allerdings nicht mehr bis ins sechzehnte Glied (wie in Asbek, siehe Blättchen 22/2024) nachweisen mussten, sondern nur noch bis ins vierte.

Seinen heutigen romantischen (barocken) Stadtkern hat Nottuln den Annalen nach vermutlich einem Ehestreit zu verdanken, der am 3. Mai 1748 ausbrach und einen handfesten Flächenbrand verursachte, der binnen kurzem 240 Gebäude inklusive der Klosteranlage völlig zerstörte. Den anschließenden Wiederaufbau verantwortete Johann Conrad Schlaun, Westfalens bedeutendster Barockbaumeister. Ihn findet man heute lebensgroß und in Bronze am Rande des zentralen Platzes des Örtchens. Hinter dem Stadtschloss, das sich vis-a-vis dem Denkmal befindet – ein mit zahlreichen Nuckeln behängter Bau. Auf einem farbenfrohen Anschlag die Aufforderung an die Jüngsten: „Häng deinen Schnuller in den Baum. / Du bist schon groß, du brauchst ihn kaum.“

Vor dem Schloss ist heute Markttag. Bauer Hillmann aus Schöppingen offeriert „Fleisch & Wurst wie früher vom Bunten Bentheimer Schwein“. Kurz entschlossen erwerben wir ein paar Wiener „auf die Faust“; köstlich.

In Lüdinghausen schließlich stoßen wir auf zwei weitere nahezu in Sichtweite voneinander platzierte mittelalterliche Wasserburgen. Zunächst Burg Lüdinghausen, bestehend aus der Hauptburg, zwei Vorburgen und einem weitläufigen Gräftensystem – Gräfte ist der westfälische Ausdruck für Wassergraben –, das ursprünglich aus bis zu sieben Ringgräben bestand. Deren Wasser speiste sich im Wesentlichen aus dem Flüsschen Stever. Der Bau der Anlage geht bereits auf das zwölfte Jahrhundert zurück. Der ehemalige Bergfried, 1829 durch den damaligen Eigentümer abgebrochen, maß etwa elf Meter im Durchmesser und ist im Pflaster des Burghofes kenntlich gemacht. Seit 1879 im Besitz der Stadt, wurde das Anwesen im Jahr 2000 umfassend restauriert und mit moderner Technik ausgestattet. Die Räume stehen heute als soziokulturelles Zentrum vielen Interessengruppen offen, aber auch Firmen und Vereinen als Tagungs- und Veranstaltungsstätte. Der mit reichem Wappenschmuck versehene Hauptsaal der Burg bietet nicht nur ein passendes Ambiente für Konzerte und ähnliche Veranstaltungen, sondern hier tagt auch der Rat der Stadt. – An der Außenfassade der Hauptburg befinden sich einige Baudetails aus dem 16. Jahrhundert, etwa eine in Stein gehauene Liste mit Lebensmittelpreisen aus den Jahren 1573/74, diverse Wappen und eine Inschrift zum Stadtbrand im Jahre 1569.

Entlang des Fuß- und Radweges zur benachbarten Feste Vischering – zahlreiche schlicht-elegante, etwa einen Meter hohe Sandsteinstelen mit bronzenen Porträtbüsten historischer Persönlichkeiten nicht ausschließlich, aber weit überwiegend männlichen Geschlechtes, die entweder von hier stammten oder zu Lebzeiten mit dem Ort verbunden waren. Meist Kleriker. Allerdings macht der zeitgenössische Vandalismus auch um romantische westfälische Städtchen leider keinen Bogen. In den vergangenen Jahren waren Stelen und Büsten sowohl Farbschmierereien als auch Diebstahl ausgesetzt. Der betreuende Heimatverein hat viel Engagement und finanziellen Einsatz darangesetzt, diese Schäden nicht nur wieder zu beseitigen, sondern durch entsprechende Verankerung der Bronzen gleichzeitig dafür zu sorgen, dass deren rasche „Mitnahme“ nun nicht mehr möglich ist.

Die Burg Vischering erhebt sich mitten aus einem Weiher, dessen spiegelglatte Wasseroberfläche ihre Fassade bis ins letzte Detail abbildet. Die Anlage geht auf das 13. Jahrhundert zurück und ist bereits seit damals Stammsitz der Familie Droste zu Vischering, in deren Eigentum sie sich nach wie vor befindet. Auch ein fast vollständiger Neubau im 16. Jahrhundert hat der Burg nichts von ihrem wehrhaften Outfit genommen. Unter den zahllosen Burgen und Schlössern des Münsterlandes ist sie eine der ältesten und besterhaltenen Anlagen.

Schließlich Ankunft bei „Mutter Siepe“, direkt neben einer Kirche positioniert. Zunächst denken wir uns nichts Böses dabei. Auch als die Kirchturmglocke am nächsten Morgen um 6:00 Uhr die Stunde schlägt, hämmert uns das noch nicht irreversibel aus dem Schlaf. Doch kaum schweigt diese Glocke, hebt die einer weiteren Kirche an und gongt, nach welcher Logik auch immer, mindestens zehnmal. Und dann das krönende Ende vom Lied. Kaum ist der zweite Lärmer verstummt, ertönt eine dritte Glocke und die bimmelt nun minutenlang Sturm, als ob Feuer ausgebrochen wäre oder die Hunnen nahten. OK, wir haben’s verstanden: noch längeres Verweilen auf der Bettstatt wäre unziemlicher Hedonismus. Wir beginnen mit der Morgentoilette und den Vorbereitungen zur Rückfahrt nach Münster, dem Startpunkt unserer Tour, die für heute ansteht …

Schluss.

Die Teile I bis IV dieser Reisenotizen sind in den Blättchen-Ausgaben 20, 21, 22 und 23/2024 erschienen.