27. Jahrgang | Nummer 23 | 4. November 2024

Herder und Kauffmann – Kunst und Klima

von Detlef Jena

 Seit dem 3. Oktober 2024 zeigt das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg die Ausstellung „Hello Nature. Wie wollen wir zusammen leben?“ In einem gewaltigen Bogen wird das Verhältnis Mensch – Natur von der Steinzeit bis in die Gegenwart in einer so globalen Dimension vorgeführt, dass man beim Titel auf die englischsprachige Einengung „Hello Nature“ als devote Verbeugung vor der Marktwirtschaft hätte verzichten können. Ein „Germanisches Nationalmuseum“ darf getrost darauf dringen, dass die Deutschen und die Menschen aus dem deutschsprachigen Raum zu diesem anspruchsvollen Thema einmal laut und deutlich „Hallo Natur“ rufen. Sie waren schließlich maßgeblich am heutigen krisenhaften Zustand der Welt beteiligt. Sie genießen zudem den unschätzbaren Vorteil, aus ihrer Mitte Gelehrte und Künstler hervorgebracht zu haben, die sich schon vor Jahrhunderten bemerkenswerte Gedanken über das Verhältnis der Kunst zum Klima Gedanken gemacht haben. Wir wollen schließlich keine hypermoderne Digitalschau, die sich lediglich rechnet, sondern einen aktiv fragenden Fingerzeig für das tätige Problembewusstsein heranwachsender Menschen.

Greifen wir einmal Johann Gottfried Herder und Angelika Kauffmann in ihrem Dialog über Kunst und Klima heraus. Der 1744 in Mohrungen geborene Weimarer Generalsuperintendent Herder hat so unendlich viele geistreiche Gedanken über die Deutschen in ihren Beziehungen zueinander und zu ihrer Umwelt hervorgebracht. Rein theoretisch streitet ja auch heute niemand darüber, dass die vier großen Weimarer Genies Goethe, Schiller, Wieland und Herder einen entscheidenden Beitrag zur deutschen und zur Weltkultur geleistet haben. Auch Herders Leben verlief widerspruchsvoll und reich an Konflikten, so wie das Leben aller Deutschen in Stadt und Land. Sein humanitäres Ideal eines „vergöttlichten“ Menschen von hoher Bildung und Lebensqualität bildete nicht nur den Grundstock aller seiner Schriften, sondern konnte auch als Richtschnur für die Nationsbildung der Deutschen in ihrer Lebenswelt gelten. Einer Nation im Herzen Europas und umgeben von vielen Regionen und Völkern. Es zählt zu den bleibenden Leistungen Herders, dass er in seiner Philosophie zur Geschichte der Bildung der Menschheit die Erkenntnis formulierte, dass Nationen, Epochen und Persönlichkeiten aus ihrer Zeit und ihrer geografischen wie natürlichen Zugehörigkeit heraus einen eigenen Wert besitzen, beurteilt werden müssen und niemals im Lichte eines wohlfeilen politischen Endergebnisses betrachtet werden dürfen. Herder berief sich gerne auf den Grundsatz der zeitlosen Toleranz in der Aufklärung und wandte ihn auf die Betrachtung aller Epochen, Lebensweisen, Kulturen und Völker an. Es war ein interessanter Gedanke, dass im mediterranen antiken Griechenland ein demokratisches Drama gekürt wurde, wie es im kühlen und waldreichen Norden niemals hätte entstehen können. Herder inspirierte eine ganze Weltsicht. Die großen deutschen Sammler von Volksliedern und Märchen, die am Beginn des 19. Jahrhundert Bleibendes für die Nationsbildung geleistet haben, und ihre ganz spezifische Sicht auf die Relation Mensch und Natur zelebrierten, Achim von Arnim, Clemens Brentano oder die Brüder Grimm, sie alle lernten bei Herder, begrenzten sich nicht nur auf deutsche Quellen, sondern suchten die Vorbilder für ihre Stoffe in ganz Europa. Begriffe wie Volkslied, Weltmarkt oder auch Elbflorenz gehen auf ihren Lehrer Herder zurück.

„Die Deutschen“ – wer sie sind und woher sie kommen, wollte vor Jahren der weiland Geschichtspapst des ZDF Guido Knopp an zehn Abenden erklären. Er schickte ein Rudel von Königen, Feldherrn und Politikern in die Schlacht, gegen die sich weder ein Luther noch ein Robert Blum, ein Alfred Brehm oder Alexander von Humboldt behaupten konnten. Hauptsache, der Fetisch des Einheitsstaats bildet das Band für die Deutschen.

Heinrich Heine schrieb, für Herder seien die Völker wie eine von Blumen umkränzte Harfe gewesen, wie die Saiten an einer Harfe – und die Harfe spielt Gott.  Der Wendepolitiker Wolfgang Thierse mahnte dagegen 2005 im Deutschlandfunk: „Die deutsche Kulturnation – das war einmal ein schönes großes Wort, das die Herzen höherschlagen ließ. Und da ich die Einwände schon ahne, möchte ich hinzufügen: Es war auch ein unschuldiges Wort. Was man später die ‚deutsche Kulturnation‘ genannt hat, das ist mit Friedrich Schiller verbunden, wenn auch ohne sein aktives Zutun, und viel mehr noch mit seinem Zeitgenossen und Weimarer Mitbürger Johann Gottfried Herder.“

Herder war kein Mensch ohne Fehl und Tadel. Die Unfähigkeit, das eigene Leben zu organisieren, vor allem jedoch grundlegende Meinungsverschiedenheiten über den Wandlungsprozess der deutschen Nation nach der französischen Revolution führten zum Zerwürfnis mit Goethe. Herder zeigte sich nicht bereit, den Schritt zur Klassik mitzugehen, und blieb seinem Gesellschaftsmodell treu. Deutsch sein, heißt auch Herderianer sein! Und wem das zu eng oder gar teutonisch erscheint, der werfe doch bitte einen Blick auf die vertrauten Bindungen Herders zu der bedeutenden Malerin Angelika Kauffmann (1741-1807), geboren in Chur, Freistaat der Drei Bünde. Weimars Pastor Herder, der sie nicht ohne Grund liebe- und ehrfurchtsvoll die kultivierteste Frau Europas nannte, war ihr ein ernsthafter Gesprächspartner für gesellschaftliche Probleme, die dem Geist der Zeit verpflichtet waren.

In den „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1784/91) legte Herder beispielsweise seine Ansichten über den Zusammenhang zwischen dem säkularen Klimawandel und der Kunst dar. Er fand, dass das Klima wie die Kultur und die Kunst ein Inbegriff von Kräften und Einflüssen sei, zu dem alles Lebendige in einem wechselseitigen Zusammenhange beiträgt. Herder erinnerte daran, dass der Mensch, seit der das Feuer vom Himmel gestohlen habe, einen enormen Klimawandel hervorgerufen hat. Europa war vor Zeiten nichts als ein feuchter Wald und ist nun dank der menschlichen Kunst und Kultur eine zivilisierte Kulturlandschaft geworden.

Selbst das alte Ägypten wäre ohne gesellschaftliche Organisation und Kunst nur ein Schlammbad des Nils geblieben. Die ägyptische Hochkultur wurde dem Schlamm des Nildeltas abgerungen und einem künstlichen Klima unterworfen, das die Menschen als eine Schar kühner, obwohl kleiner Riesen auszeichnete, die allmählich von den Bergen herabstiegen und mit ihren schwachen Fäusten die Natur zu verändern suchten. Herder erblickte in diesem unausrottbaren Drang der Zivilisation zugleich eine atemberaubende Gefahr für die Zukunft des Menschen und seiner Kultur. Die kleinen Riesen mit den schwachen Fäusten, so Herder, wandelten mit dem Klima und der Natur ihre eigene Kultur und Kunst. Für den Philosophen war das in erster Linie ein Definitionsproblem: Was ist Kultur, was ist Kunst im Verhältnis zur Natur und dem Klima? Er sah die Lösung gar nicht so kompliziert. Klima und Natur kann der Mensch nur bis zu einem gewissen Grade verändern, den Rest muss er ertragen.

Die sensible Malerin Angelika Kauffmann reagierte vorsichtig. Der Genius in der Kunst wird doch nicht durch das Klima erweckt! Es genügt ja auch nicht, dass der Künstler die Werke alter Meister immer wieder nur betrachtet. Er muss sie verstehen lernen. Dazu ist das Glück erforderlich, überhaupt eine Gelegenheit zu erlangen, mit Fleiß das Gelernte in eigene Arbeiten umzusetzen. Die Natur ist da ganz allgemein immer wieder der beste Lehrmeister für den Künstler und die alten Meister können ihm dabei helfen, die Schönheit der Natur zu erkennen. Mehr nicht. Schau an! Herder und Angelika Kauffmann haben sich im gegenseitigen Austausch ihres Lebenswerks mit einfachen Worten verstanden.

Ganz ohne Digitalisierung, Podcasts und vor allem ohne aufgezwungene demoskopische Umfragen nach der Zufriedenheit von Krethi und Plethi mit den Angebotslisten des Jahrmarkts der Politik. Es gab den deftigen Meinungsstreit. Aber noch keinen fesselnden Mainstream, dem in der heutigen Welt jeder unterworfen ist, der sich zu den großen Themen des Lebens artikulieren möchte.

Das ist der Unterschied: Herders Philosophie in Worten und Kauffmanns Philosophie sind unsterblich. In Nürnberg wird man nach einer ambitionierten Ausstellung wie gehabt fragen: Wieviel Besucher waren da und hat sich die Investition gerechnet?