27. Jahrgang | Nummer 23 | 4. November 2024

Das alte Berliner Geheimratsviertel

von Mathias Iven

Städte verändern sich. Neues wird gebaut, Vorhandenes wird umgestaltet und manchmal verschwindet sogar ein ganzes Quartier. So geschehen mit dem im 19. Jahrhundert vor den Toren der Stadt entstandenen, zwischen Tiergartenstraße und Landwehrkanal gelegenen Tiergartenviertel, das einstmals eine der vornehmsten und wohlhabendsten Wohngegenden Berlins war.

Der Bebauungsplan für das sogenannte „Geheimratsviertel“ stammte von Peter Joseph Lenné. Namhafte Architekten wie Ludwig Persius oder Friedrich Hitzig waren für die Ausführung verantwortlich. Zum Mittelpunkt des rasch wachsenden Wohnviertels wurde der Matthäikirchplatz mit der 1846 nach dem Entwurf von Friedrich August Stüler fertiggestellten und eingeweihten St. Matthäus-Kirche. Schon bald zog es all diejenigen dorthin, die es sich leisten konnten: Industrielle, Professoren, Politiker, Kunsthändler, Galeristen, Verleger, Schriftsteller und Künstler. Die Liste der Bewohner liest sich wie das Who’s Who der damaligen Berliner Prominenz.

Adolph Menzel wohnte und arbeitete in der Sigismundstraße, Leopold Ullstein bezog ein Haus in der Tiergartenstraße. Der Archäologe Ernst Curtius und der Ägyptologe Carl Lepsius lebten dort. Fontane und seine Familie fanden eine Wohnung in der Potsdamer Straße, und auch die Schriftstellerkollegen Gabriele Tergit und Carl Zuckmayer zog es in diese Gegend. Im Herbst 1898 gründeten die Cousins Bruno und Paul Cassirer die „Bruno & Paul Cassirer, Kunst- und Verlagsanstalt“, deren Räumlichkeiten von dem belgischen Architekten Henry van de Velde ausgestaltet wurden. Herwarth Walden eröffnete 1912 die Galerie „Der Sturm“, und nach dem Ersten Weltkrieg lud Alfred Flechtheim erstmals in seine Galerie am Lützowufer ein.

Soziale Kontakte wurden vorzugsweise in den Salons gepflegt. Als eine „Form privater Öffentlichkeit“ wurden sie vor allem zur „Bühne für die Emanzipationsbestrebungen von Frauen“. In der Matthäikirchstraße traf man sich bei der Schriftstellerin Fanny Lewald, Elisabeth Lepsius öffnete die Türen zur „Casa Lepsia“ in der Bendlerstraße und Marie von Bunsen lud in die Königin-Augusta-Straße ein. Zu den Gastgeberinnen gehörten zudem die Schriftstellerinnen Bettina von Arnim, Marie von Olfers und Wilhelmine Bardua sowie die Kunstsammlerin Felicie Bernstein. Die Zusammenkünfte bei der Letztgenannten trugen im Übrigen entscheidend zur Gründung der Berliner Secession bei. Beim späteren Reichsaußenminister Walther Rathenau in der Victoriastraße konnte man Max Reinhardt, Frank Wedekind, Hugo von Hofmannsthal oder Gerhart Hauptmann begegnen. Zu den regelmäßigen Gästen zählten aber auch der Publizist Maximilian Harden, der Maler Edvard Munch, der Schauspieler Alexander Moissi und dessen Kolleginnen Gertrud Eysoldt und Tilla Durieux.

Die nach dem Ersten Weltkrieg einsetzende politische und ökonomische Neuordnung Deutschlands, die einherging mit einer sich stetig verschärfenden Inflation, sollte auch am Tiergartenviertel nicht spurlos vorbeigehen. Zahlreiche Anwesen wurden von ihren Besitzern aus finanziellen Gründen abgestoßen, vereinzelt wurden Villen in „normale“ Wohnhäuser umgewandelt oder zu Botschaftsgebäuden. Kaum zwei Jahrzehnte darauf nahmen die neuen, seit 1933 herrschenden Machthaber das Viertel in Besitz. Im Rahmen der Umgestaltung Berlins zur „Welthauptstadt Germania“ erteilte Hitler seinem Architekten Albert Speer bereits 1938 den Auftrag, die jüdischen Hauseigentümer zu enteignen. Der Abriss ihrer Häuser sollte den Weg für die geplante Nord-Süd-Achse des insgesamt 40 Kilometer langen Prachtboulevards freimachen. Trotz der Ende August 1940 einsetzenden britischen Bombenangriffe wurden diese Arbeiten bis 1942 fortgesetzt. Die durch die Bomben herbeigeführten Schäden, so verzeichnet es das Tagebuch des Generalbauinspektors Speer, „erleichterten“ sogar die Arbeit der mit dem Abriss beauftragten Firmen, was Speer – welch ein Hohn! – als eine „wertvolle Vorarbeit zum Zwecke der Neugestaltung“ zu würdigen wusste.

Die Beseitigung der Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges und die damit einhergehende Abrisstätigkeit führten schließlich zum endgültigen Verschwinden des Tiergartenviertels. Einzig das alte Weinhaus Huth hatte die Bombennächte weitgehend unbeschadet überstanden und lädt noch heute in der Alten Potsdamer Straße zu einem Besuch ein. Und dann ist da noch eine alte 150-jährige Platane am heutigen Hans-Scharoun-Platz – was sie wohl alles gesehen hat?

Das aus einer dreiteiligen Veranstaltungsreihe der Stiftung St. Matthäus hervorgegangene Insel-Bändchen bietet anhand von Tagebüchern, Briefen und Erinnerungen viel Wissenswertes, das nicht nur Berliner interessieren dürfte.

Brigitte Landes: Die verschwundene Stadt. Im Tiergartenviertel [Insel-Bücherei Nr. 1539], Berlin 2024, 128 Seiten, 15,00 Euro.