27. Jahrgang | Nummer 21 | 7. Oktober 2024

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Das Schiff der Träume (fährt einfach weiter)“ – Deutsches Theater / „Subotnik“ – Studio Neuköllner Oper / „Stasi, Stress und Stolperfallen“ – Schlosspark Theater

***

DT: Mit Fellini zum CSD

Der Luxusliner „Gloria N“ hat eine kostbare Fracht: Die Asche „der größten Operndiva aller Zeiten“ in der Urne. Und noch dazu – doch sehr lebendig – eine Ladung buntschillernder Stars, Sternchen, Fans und Rampensäue aus dem Fundus der gehobenen Kunstwirtschaft. Sie schippert übers Mittelmeer zur Seebestattung der angebeteten Opernsängerin Edmea Tetua.

Wir schreiben das Jahr 1914; der Erste Weltkrieg ist gerade ausgebrochen, und sofort stört er die grelle Trauergesellschaft: Serbische Bootsflüchtlinge wollen gerettet werden, ein österreich-ungarisches Kriegsschiff dampft bedrohlich herbei.

So das Setting von Federico Fellinis zirzensisch opulentem, dennoch schwer konfliktbeladenem Film „Das Schiff der Träume“ von 1983. Jetzt eröffnete das DT seine Saison damit in einer Bearbeitung von Thomas Perle; nun heißt es „Das Schiff der Träume (fährt einfach weiter)“ – beigemischt sind Wortbeiträge aus dem Ensemble.

Die Überraschung: Fellinis harsche Einstiche der Realität in die elitäre Blase des Kultur- und Gesellschaftsbetriebs kommen höchstens stichwortartig als blasse Nebensache vor. Stattdessen gefällt sich die DT-Dampferfahrt im Ausstellen einer um sich selbst kreiselnden, gierigen, geilen, dabei unbefriedigten Schickimicki-Bagage. Alles alberne Affen, eitle Clowns eines lächerlichen Geniekults, Witzfiguren der Gefühle. Ausgestattet mit so verrückten wie edlen Kostümen (Bravo Vanessa Rust!). Und mit meterhoch getürmten Frisuren (Bravo dem Team Maske!). Unentwegt turteln, hampeln, schwuchteln, giften oder heulen acht Karikaturen wie zur Freak- oder Travestie-Show mit Ausrutschern zum CSD.

Immerhin, zwischendurch wird zur Live-Musik auch hübsch geträllert, zuweilen gekreischt und sogar erhebend fein gesungen (Kompositionen: Peer Baierlein). – Doch was geht uns dieser Reigen dekadent Weltentrückter an? Es sei denn, die blasse Botschaft wäre: Das Narrenschiff schippert weiter und weiter, blindlings. Für 90 Minuten ganz gut gemachte Publikumsbelustigung. Aber was soll das ohne krachenden Konflikt mit einer Gegenkraft, ja Gegenwelt? Ob von anno 1914 oder anno 2024.

Freilich, die großartige Anja Schneider als Moderatorin der Show stellt gleich zu Anfang kurz klar: Man tanze auf dem Vulkan in den Tod. Aha, alles Allotria soll als Warnbild treiben in Richtung Menschheitsuntergang, was – wie schade – eben bloß Behauptung bleibt.

Bemerkung eins: Drei Wochen vor der Premiere stieg die Regisseurin Claudia Bauer krankheitsbedingt aus (einst begeisterte ihr frecher Dadaismus mit Kurt Schwitters „Ursonate“ im DT). Nun übernahm Anna Bergmann mutig aber glücklos das wohl ohnehin problematische Halbfabrikat. Statt Vorhang auf um jeden Preis wäre eine Verschiebung der Produktion das Bessere gewesen. Liefert doch dieser so fragwürdige Stapellauf in die 141. Spielzeit nichts, um dem ohnehin nur dürftig mit Lorbeer dekorierten DT aufzuhelfen.

Bemerkung zwei: DT-Intendantin Iris Laufenberg konfrontierte das Publikum zur Begrüßung mit den anstehenden Beschlüssen des Senats zum Kultur-Sparen: Zehn Prozent für alle! Da im DT angeblich satte 90 Prozent des Etats für den Betrieb draufgingen, bliebe also für die Kunst nix mehr. Soll da womöglich noch ein Luxusdampfer zusammengeschossen werden? Die fatale Fellini-Blödelei lieferte schon mal Munition.

*

Neuköllner Oper: Die korrekte Strenge der Gesetze

„Subotnik“ – das geht auf Lenin zurück. Er initiierte in den Aufbaujahren der Sowjet-Zeit unentgeltliche Arbeitseinsätze an freien Wochenenden, genannt Subotniks (von russisch Subbota = Samstag, weshalb es richtiger Subbotnik heißen müsste – Anmerkung der Redaktion).

In der Kammeroper „Subotnik“ bekommt der Begriff einen entsetzlich zynischen Bedeutungswechsel: Da droht ein Mädchenhändler seinen Opfern mit Subotnik, wenn sie nicht tun, was er will. Und das meint Folter, Vergewaltigung, Kerker. Besagter Kerl ist gefasst worden, kommt vor Gericht, die Beweisführung bleibt schwierig. Schließlich wird ein Opfer aus einem rumänischen Dorf gefunden, nimmt ihren Mut zusammen und packt aus. Der Verbrecher bekommt 14 Jahre und sechs Monate.

Der Musiktheater-Einakter basiert auf einer Erzählung von Ferdinand von Schirach, dem berühmten Strafverteidiger und Schriftsteller, dem mit seinen nüchternen Prozessanalysen erregende Bestseller gelangen. Alles dreht sich darin um das bedingungslose Behaupten der Gesetzestreue, der Rechtsstaatlichkeit, auf die auch der schlimmste Täter ein Recht hat. Aufgabe der Strafverteidigung ist es, dies durchzusetzen – auch jenseits womöglich auflodernder moralischer Bedenken oder Gewissensbisse.

Somit steht die klassische Frage im Raum: Wie nur soll man im Fall Subotnik einen erwiesenen Frauenschänder noch verteidigen? Ein quälendes Mandat, das Seyma, eine junge Deutschtürkin mit erstklassigen Abschlüssen, von ihrem Arbeitgeber, einer gleichfalls erstklassigen Kanzlei, zugewiesen bekam.

Seyma entstammt einer streng religiösen, patriarchalisch dominierten Familie, die sie einst in Koranschulen presste. Die dogmatisch geprägte Herkunft, die Ablehnung einer göttlichen Rechtsprechung brachte Seyma zum Jurastudium. Ihre Motivation: „Das Recht soll mich, soll alle schützen.“ Alle – also auch jeden Täter!

Und so erzählt die Geschichte von Skrupeln, ja Seelenschmerzen der Anwälte und von der aufzubringenden Kraft, sie rigoros beiseite zu stellen, auch entgegen herrschender Publikumskritik. Und obendrein vom besonderen Druck auf die ehrgeizige Seyma, erfolgreich zu sein. Heißt es doch, ihre renommierte Kanzlei habe noch nie einen Prozess verloren.

Also geht sie trotz der erdrückenden Beweise durch die Opfer-Aussage in Revision – und entdeckt nach wochenlangem Aktenstudium tatsächlich einen banalen Verfahrensfehler. Der Prozess wird wieder aufgerollt – doch der Täter jetzt freigesprochen. „Die Beweislage reicht für eine Verurteilung nicht aus.“ Weil: Die Kronzeugin steht nicht mehr zur Verfügung; sie ist tot.

Die Regisseurin und Librettistin Theresa von Halle spaltet die Rolle der Seyma dreifach auf: Für eine Schauspielerin (Franziska Junge), einen atemberaubenden Mezzo (Chara Duchomble tönt schon scharf wie eine Elektra oder Kundry) und eine Pianistin (Henriette Zahn). Durchsetzt ist dieser so bestürzende Report aus dem Gerichtsbetrieb mit Originaleinsprechern von Strafverteidigern aus Hamburg und Berlin über ihre sehr besonderen Herausforderungen sowie mit teils atonaler Musik, teils wuchtig expressiven Klangballungen von Samuel Penderbayne – alles am vehement traktierten Klavier.

„Subotnik“ wurde ausgezeichnet mit dem von der Neuköllner Oper und der Gasag ausgelobten Berliner Opernpreis.

*

Schlosspark: Buddeln im Fluchttunnel unterm Stasinest

Vorab ein guter Rat ans Publikum: Unbedingt für den eigenen Humor ein Fass schwarze Farbe mitbringen. Die nämlich brauchts für das Stasi-Spaßstück um Peggy (Sabine Fürst) und Sandro (Bürger Lars Dietrich). Buddelt doch das bestürzend einfältige Paar ausgerechnet im Keller unter der grenznahen Wohnung des notorisch notgeilen DDR-Geheimdienstlers Major Hofmann (Tonio Arango) an einem Fluchttunnel nach Westberlin. Und beide stolpern, wie könnte es anders sein, prompt unter verständlicherweise viel Stress in die lebensgefährlichen Fänge des Apparats der Staatssicherheit.

Das Motto dieses seltsam nostalgischen Theaters „Stasi, Stress und Stolperfallen“ annonciert eine urkomische Veranstaltung. Zwar geht es in dieser vom französischen Autorengespann Patrick Haudecoeur und Gerald Sibleyras mit reichlich realitätsfernem Hickhack vollgestopften Flucht-, Sex- und Lovestory unentwegt dämlich zu bis zur Schmerzgrenze. Aber zum Lachen ist da nicht viel. Denn wer will schon wirklich kichern, wenn von Knast, gar von Straflagern in Sibirien oder von Folter die Rede ist und aus dem Off die MG-Salven der Grenzwächter vom nahen Todesstreifen uns um die Ohren knallen.

Politische Schreckensgeschichten von damals im Nachhinein als Komödie zu präsentieren, das mag man machen, verlangt aber extreme Könnerschaft. Mit kindisch realitätsfernen „Republikflüchtlingen“ und Deppen der bewaffneten Staatsmacht kommt bloß Blödsinn zustande.

Da mag der von uns ansonsten geschätzte Regisseur Folke Braband noch so fleißig das Instrumentarium der Klamotte plündern, mit dem er das verzweifelt agile Ensemble durch den Schwachsinn jagt (Caroline Beil als Stasi-Offiziersgattin Hofmann sowie steile Margot-Honecker-Parodie, Marko Pustisek als hampelmännischer BND-Undercover und Marc Laade als Einfallspinsel der Agentenarmee von Markus Wolf). Dazu als Stimmungsmacher: eingespielte Hits aus dem Polit-Liedgut der Genossen.

Ich fürchte, selbst allerschwärzester Humor nützt da nix. Und auch nicht Dieter Hallervordens angestrengt witzige Übersetzung ins (DDR-)Deutsche, die mit Klischees wie Soljanka, Spreewaldgurke oder Kalinka-Kalinka nur so um sich wirft. Die womöglich aufklärerisch gemeinte Stasi-Stress-Groteske verendet schmählich in ihren Stolperfallen. Eigentlich schade. Sogar die finale Pointe verpufft: der Mauerfall.