Nun liegt der von Antje Leetz während einer Veranstaltung im Berliner Max-Lingner-Haus angekündigte Band endlich vor, auf den viele Besucher des Hauses lange und voller Spannung gewartet haben. Das Interesse an der Publikation, die gut besuchten Buchvorstellungen in Pankow belegen dies, ist groß. Das in zwei Teile untergliederte Buch der studierten Slawistin und langjährigen Mitarbeiterin des Verlages Volk und Welt enthält auf den ersten 130 Seiten 30 Texte, die Erinnerungen und Gedanken aus den Jahren 1951 bis 2024 reflektieren, sowie anschließend dreizehn zwischen 1996 und 2024 entstandene Erzählungen über Russland, denen unter anderem Radiosendungen der Autorin über russische Schriftsteller und Schriftstellerinnen zugrunde liegen. Die Aufzählung reicht von Anna Achmatowa über Michail Bulgakow, Maxim Gorki und Anton Tschechow bis Marina Zwetajewa.
Der den Erzählungen vorangestellte erste autobiografische Teil des Buches hat den Studienaufenthalt in Moskau von 1969 bis 1970 und die 1985, nach 15 Jahren Arbeit als Lektorin für neuere sowjetische (russische) Literatur im Verlag Volk und Welt angetretene Flucht in die russische Metropole zum Gegenstand. Hier, im Land ihrer Träume, verbrachte Antje Leetz drei glückliche und produktive Jahre. Sie floh vor der Katastroika in der DDR in die Morgenröte der Perestroika und Glasnost, hoffte auf einen Neubeginn und ein Ende der in der Sowjetunion in den 1970er Jahren erlebten Stagnation.
Leider greift Antje Leetz das treffende Bild der „Endstation“, der sie entfliehen wollte, mit Blick auf Moskau nicht auf. Dabei tauschte sie doch eine Endstation (den Bahnhof Friedrichstraße, hier stieg sie zu DDR-Zeiten auf dem Weg zur Arbeit aus) gegen eine andere ein – ihre Moskauer Wohnung lag nahe der Endstation der Sokolnitscheskaja Metrolinie: Jugo-Sapadnaja. Mitarbeiter der DDR-Handelsvertretung und der Botschaft, die hier wohnten, sprachen immer von Deutsch-Südwest.
Als Antje Leetz die DDR verließ, nahm sie die zwei Kinder, Michael und Anna, mit, sie wuchsen im „DDR-Ghetto“ auf, gingen auf die Botschaftsschule. Michael, der sich als Übersetzer und Herausgeber von Romanen und Erzählungen von Andrej Platonow einen Namen gemacht hat, wollte zuerst nicht mitfahren. Antjes Lebensgefährte Ralf Schröder blieb in Berlin zurück, zweimal im Jahr kam er auf Besuch. Leo Kossuth hatte dem von 1957 bis 1964 inhaftierten und mit Berufsverbot belegten Hochschullehrer nach dessen Entlassung aus Bautzener Haft ein neues Betätigungsfeld im Verlag verschafft. Schröder nutzte die Aufenthalte in Moskau, um hier befreundete Schriftsteller und Verleger zu treffen und Editionsprojekte unter Dach und Fach zu bringen.
Leider nimmt die alltägliche Arbeit im Verlag – der eigentlichen Universität der Autorin – wenig Raum ein, dabei hätte Antje Leetz sicher viel Interessantes zu erzählen, nicht nur über die Konflikte mit den Zensoren im Parteiapparat und im Kulturministerium, wie das im Buch erwähnte Beispiel mit Tschingis Aitmatows „Der weiße Dampfer“ zeigt. Dafür geht sie ausführlich auf ihre Moskauer Begegnungen mit Schriftstellern und Künstlern ein. Schließlich will sie den Enkelkindern – auch unter dem Eindruck des aktuellen Krieges Russlands gegen die Ukraine – ihre schmerzliche Liebe zu Russland erklären.
Heute ist Jugo-Sapadnaja keine Endstation mehr, die Stadt, und mit ihr das Metronetz, sind weiter gewachsen, sieben neue Stationen hinzugekommen. Diese Entwicklung blieb auch für die Metrostation Nowoslobodskaja, die im Buch von Antje Leetz ebenfalls eine Rolle spielt, nicht folgenlos. Sie wurde zu einer Umsteigestation umgebaut. Über dieses neue – kapitalistische Moskau – hätte der Rezensent gerne mehr erfahren.
Auch wenn wir uns in den „Perestroikajahren“ nicht in Moskau begegnet sind, sind mir die im Buch beschriebenen Viertel sowie die erwähnten Ausflugsziele in der Provinz wie Jasnaja Poljana, Kasan oder Nishni Nowgorod, um nur einige zu nennen, bekannt und vertraut. Der Campus der Akademie für Gesellschaftswissenschaften, an der ich von 1983 bis 1985 studierte, befand sich bis zu deren Umzug in den Süd-Westen Moskaus, dem Wohnort der Autorin, in der Nähe der Metrostation Nowoslobodskaja mit der von ihr beschriebenen Mosaikikone. Über einer Frau mit einem Kind auf dem Arm schweben Friedenstauben und ein Band mit den Worten: Friede in der ganzen Welt.
Bis zur Gorkistraße und dem Stadtzentrum war es nicht weit, man musste nicht mit der Metro fahren, um Theater, Kinos, Museen und Antiquariate zu erreichen, die mehr zu bieten hatten als der verknöcherte Lehrplan. Hinzu kam die für uns Aspiranten prägende Erfahrung, dass Leonid Breshnews betagte und gesundheitlich angegriffene Nachfolger nach kurzer Amtszeit neben ihm an der Kremlmauer beigesetzt worden sind. Anders als die in das Land ihrer Träume verliebte Autorin, ernüchtert durch den erlebten Umgang des Parteiapparats der KPdSU mit der Umgestaltung, nahmen etliche der angehenden Absolventen aus den „Bruderländern“ Perestroika und Glasnost weniger euphorisch wahr.
Der von der Autorin immer wieder angesprochene Traum vom Frieden erwies sich als ein schöner Wunschtraum, Afghanistan und Tschetschenien seien in diesem Zusammenhang erwähnt. Die dort von der Sowjetunion beziehungsweise der Russischen Föderation geführten Kriege und deren auch in der Hauptstadt zu spürenden Folgen kommen im Buch von Antje Leetz nicht vor. Passen sie nicht ins Bild vom Mütterchen Russland?
Das im Vergleich zur DDR harte und widersprüchliche Leben in der Sowjetunion, der ungemein anstrengende Alltag Anfang der 1970er Jahre erschütterten die junge Studentin, erinnert sich die Autorin. Auch später war das Land für sie voller Rätsel, die Versuche diese zu lösen, bleiben bis auf den heutigen Tag eine Herausforderung für sie. „Wenn man Russland verstehen will, muss man alle Normen, die man bisher kannte, fallen lassen“, heißt es am Anfang ihres Buches. Da sie das kapitalistische – ihr fremde Russland – nicht mag, sucht sie in der russischen Provinz nach dem ihr vertrauten Land. Hat sie es gefunden?
Nicht immer wird – sicher der Liebeserklärung der Autorin an das gelobte Land geschuldet – aus ihren Erzählungen klar, von welchem Russland gerade die Rede ist, von dem in der klassischen russischen Literatur idealisierten, dem aus Sowjetzeiten oder dem der Gegenwart? Oft verschwimmt in den Erzählungen die Grenze zwischen Russlandverstehern, Russlandliebhabern und Russlandanbetern. Ein Grund mehr, nach diesem zum Disput anregenden, aber mitunter auch Russland idealisierenden Buch zu greifen, nachzulesen und bei einer der nächsten Buchvorstellungen nachzufragen.
Antje Leetz: Der schwarze Stein aus Tschechows Garten. Meine schmerzliche Liebe zu Russland. Edition Schwarzdruck, Gransee 2024, 315 Seiten. 25,00 Euro.
Schlagwörter: Antje Leetz, Literatur, Perestroika, Ralf Schröder, Russland, Verlag Volk und Welt, Wladislaw Hedeler