Das Umfrage-Institut Civey wollte bereits am 2. September 2024, einen Tag nach den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen, wissen: „Sehen Sie aufgrund der Zuwächse der AfD und des BSW die Demokratie in Deutschland gefährdet?“ Es antworteten: Ja, auf jeden Fall 31,9 Prozent; eher ja 7,4 Prozent; teils/ teils 11,7 Prozent; eher nein 6,7 Prozent; Nein, auf keinen Fall 41,9 Prozent. Nein sagte folglich etwa die Hälfte der Befragten, Ja fast zwei Fünftel.
Das ist eine jener Umfragen, bei denen die Antwort bereits in der Frage vorgeformt wird. In Einführungsseminaren zur Sozialwissenschaft in den 90er Jahren habe ich die Studenten stets davor gewarnt, den vorgeblich empirisch arbeitenden Disziplinen zu sehr zu vertrauen. Dazu gehörte immer ein alter Witz: Zwei Mönche streiten sich, ob man gleichzeitig beten und rauchen darf. Da sie sich nicht einigen können, verabreden sie, den Heiligen Vater zu fragen. Der eine fragt in Rom an: „Darf ich beim Beten rauchen?“ Die Antwort lautet: „Nein, natürlich nicht. Beim Gebet muss man sich voll auf das Zwiegespräch mit Gott konzentrieren.“ Der andere fragt: „Darf ich beim Rauchen beten?“ Die Antwort: „Selbstverständlich, man darf in jeder Lebenslage beten.“
In diesem Sinne besagt die Civey-Umfrage nichts. Nimmt man an, dass die Verteilung der politischen Präferenzen der Befragten in etwa der der Wählerschaft entspricht, so waren darunter natürlich auch Wähler und Sympathisanten der AfD sowie des BSW. Die werden ihre eigene Wahlentscheidung natürlich nicht als demokratiegefährdend ansehen. Das sähe wechselseitig wahrscheinlich anders aus – wenn man nach AfD und BSW jeweils gesondert gefragt hätte. Das aber sollte ja aus ideologisch vorgefertigten Schablonen heraus nicht sein. Insofern folgt die Frage-Methodik von Civey hier nicht einer sinnvollen sozialwissenschaftlichen Ausgangsannahme, sondern dem Mainstream-Geschwurbel, das diese Landtagswahlen schon vorher und erst recht nachher Tag für Tag begleitet.
Etliche Politiker und Journalisten boten einen Überbietungswettbewerb an Wählerbeschimpfung: Enttäuschte, Frustrierte und Wütende hätten gewählt, es gäbe „aufgeblähte Wählerblasen“. Tatsächlich sind Wahlen das Hochamt der Demokratie. Tatsächlich sind nicht die Regierung und die ihr nahestehenden Medien dazu da, das Volk zu erziehen, damit es „richtig“ wählt, sondern die Wähler bestimmen in freier Entscheidung darüber, ob die bisherige Politik Zuspruch findet oder Veränderungen gewollt sind. Dies 1989 auch in der DDR erwirkt zu haben, gilt bisher als historischer Fortschritt.
Die Wahlbeteiligung ist deutlich gestiegen, in Sachsen um 8,2 Prozentpunkte auf 74,4 Prozent, in Thüringen von 64,9 auf 73,6 Prozent. In Sachsen sind fast 180.000 Menschen mehr wählen gegangen als 2019; in Thüringen wählten 96.400 mehr als vor fünf Jahren. Das ist ein Sieg der Demokratie und keine „Blase“. Die Gewichtungen der einzelnen Parteien folgen den Trends, die es bereits bei der EU-Wahl im Juni gab. Dass die Parteien und ihre Spitzenpolitiker nun Schwierigkeiten haben, handlungsfähige Regierungen zu bilden, ist ihr Problem, nicht das der Wählerinnen und Wähler.
Hier soll noch einmal auf die Ergebnisse verwiesen werden. In Thüringen wurde die AfD stärkste Partei mit 32,8 Prozent Wähleranteil und 32 Sitzen (von 88), die CDU mit 23,6 Prozent und 23 Sitzen, BSW mit 15,8 Prozent und 15 Sitzen, die Rest-Linke mit 13,1 Prozent und 12 Sitzen. Die SPD kam auf 6,1 Prozent und 6 Sitze; Grüne und FDP blieben unter der Fünf-Prozent-Hürde. Zusammen kamen die „Ampel-Parteien“ auf 10,4 Prozent. In Sachsen ist das Bild etwas vielfältiger; es gibt Erst- und Zweitstimmen und ebenfalls eine Fünf-Prozent-Klausel. Hier wurde die CDU mit 31,9 Prozent der Listenstimmen stärkste Partei, gefolgt von der AfD mit 30,6 Prozent; das BSW erhielt 11,8 Prozent. Die SPD kam mit 7,3 Prozent ebenfalls wieder in den Landtag, auch die Grünen mit 5,1 Prozent. Die FDP erhielt nicht einmal ein Prozent und bleibt draußen. Die „Ampel-Parteien“ zusammen kamen auf 13,3 Prozent. Die Linke erreichte zwei Direktmandate in Leipzig und kommt deshalb ebenfalls in den Landtag, obwohl sie nur 4,5 Prozent der Listenstimmen bekam. Auch die Grünen erlangten zwei Direktmandate, eines ebenfalls in Leipzig, das andere in Dresden. Wahlbeobachter verwiesen in diesem Zusammenhang zumeist auf die jungen, akademisch gebildeten Milieus der Universitätsstädte. Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Das BSW hatte insgesamt in Sachsen 277.000 Listenstimmen, aber nur 148.000 Erststimmen. 129.000 BSW-Wähler haben also „taktisch“ gewählt, in Leipzig und Dresden mit der Erststimme Linke und Grüne, andernorts mutmaßlich CDU, die 56.000 mehr Erst- als Zweitstimmen erhielt.
Die Ergebnisse der Wahlen am 1. September haben das Problem der CDU, das bereits zuvor sichtbar war, weiter vergrößert: Sie kann sich nicht gleichermaßen gegen die Linken und gegen die AfD abgrenzen. Eine Regierungsmehrheit gegen eine davon gibt es nur mit der anderen. Parteitagsexegeten verwiesen nun darauf, dass die CDU einen Beschluss gefasst hatte, nicht mit der AfD und nicht mit der Linkspartei zu koalieren. Da im Wortlaut dieses Beschlusses das BSW nicht vorkommt (das gab es damals noch nicht), könne man mit diesem zusammengehen. In diesem Sinne haben Michael Kretschmer in Sachsen und Mario Voigt in Thüringen mit den BSW-Landesverbänden Sondierungen angekündigt. Eine Regierungsbeteiligung der AfD solle unbedingt vermieden werden.
In der CDU im Westen regt sich nun Widerstand gegen eine Koalition mit dem BSW. Die CDU-Politikerin Monica Wüllner aus Stuttgart polterte: „Ich bin nicht vor 34 Jahren in die CDU eingetreten, um Koalitionen mit einer nationalbolschewistischen Partei zu schließen.“ Roderich Kiesewetter, Oberst a.D. der Bundeswehr und CDU-Abgeordneter im Bundestag, einer der schärfsten Kriegstreiber in Deutschland, erklärte, das BSW agiere „als verlängerter Arm des Kremls“. Der EU-Abgeordnete Dennis Radtke meinte: „Die CDU steuert auf einen Abgrund zu, wenn wir uns vor den Karren von Wagenknecht spannen lassen.“ Mittlerweile haben sich 200 CDU-Mitglieder der Verhinderungs-Initiative angeschlossen.
Die politische Unvereinbarkeit ist natürlich beiderseitig. Jan van Aken, der Vorsitzender der Linkspartei werden will, sagte bei Markus Lanz, er trage schon seit 40 Jahren einen Unvereinbarkeitsbeschluss mit der CDU in sich. Insofern wäre die eigentliche Grundlage einer solchen Koalition, die Regierungsbeteiligung der AfD zu verhindern. Gleichwohl muss natürlich am Ende eine Koalitionsvereinbarung geschlossen werden, die ein Regierungsprogramm für fünf Jahre einschließt.
Die Londoner The Times kommentierte das Wahlergebnis so: „Ja, Thüringen war der Ort, wo die Nazis ihren ersten Durchbruch auf regionaler Ebene hatten. Ja, mit ihrer Sperrminorität von einem Drittel der Sitze im Landtag wird die AfD in der Lage sein, ein gewisses Maß an Unheil anzurichten. […] Die Herausforderung für die etablierten Parteien besteht darin, sich nicht mehr auf abgedroschene Nazi-Analogien als Krücke zu stützen, sondern diese politische Warnung mit der gebotenen Ernsthaftigkeit zu behandeln.“
Stefan Aust, früher Spiegel-Chefredakteur, jetzt bei welt.de, brachte das Problem aus Sicht westdeutscher bürgerlicher Kreise auf den Punkt: „Warum soll man die CDU wählen, wenn man dann die Linkspartei in der Regierung hat?“ Genau betrachtet ist die AfD eine rechte Abspaltung von der Christdemokratie, wie die PDS, später Die Linke, eine linke Abspaltung aus Sicht der Sozialdemokratie war. Und so wie damals zunächst Unvereinbarkeitsbeschlüsse gegen die PDS gefasst wurden (der weiter geltende CDU-Beschluss ist der „Letzte Mohikaner“), gibt es die jetzt gegen die AfD.
CDU und AfD erreichten zusammen in Sachsen 62,5 Prozent; in Thüringen 56,4 Prozent. Das ist jedoch kein ostdeutsches Phänomen. Bei den Landtagswahlen am 8. Oktober 2023 in Hessen kamen CDU und AfD zusammen auf 53 Prozent, in Bayern CSU, Freie Wähler und AfD zusammen auf 67,4 Prozent. Die strukturelle links-grüne Mehrheit in Deutschland gehört der Vergangenheit an. Der bekannte Entertainer Harald Schmidt bestritt just am Wahltag, am 1. September, in Dessau einen Kabarettabend. Er sagte: „Die Menschen haben Sehnsucht nach einer großen Koalition. Nach einer Koalition zwischen AfD und CDU.“ Das Protokoll vermerkt: „Schamhaftes Gelächter“.
In anderen westeuropäischen Ländern, in denen rechtsextreme oder rechtspopulistische Parteien auftauchten und an Einfluss gewannen, entschieden sich die überkommenen konservativen Parteien am Ende, mit jenen neuen rechten Parteien zu kooperieren, so in Italien, Finnland, Schweden, Portugal, seit kurzem auch in den Niederlanden. Insofern ist Deutschland im Moment auf einem Sonderweg.
Mit den derzeitigen Bekundungen innerhalb der CDU, eine Koalition mit dem BSW oder der Linkspartei verhindern zu wollen, deutet sich bereits an, dass das bürgerliche Deutschland endlich wieder eigene Politik, ohne Sozialdemokraten und Linke machen will. Da stehen derzeit nur noch die „Brandmauer“-Bekundungen gegenüber der AfD im Wege. Ob die nach 2025 noch gelten, wird man sehen. Holger Börner, einst ein mächtiger Mann in der SPD, schloss noch 1983 eine Zusammenarbeit mit den Grünen grundsätzlich aus: „Die Grünen stehen für mich außerhalb jeder Kalkulation. Ich schließe nicht nur eine Koalition, sondern jede Zusammenarbeit mit ihnen aus.“ Im Oktober 1985 stand er an der Spitze der ersten Koalitionsregierung auf Landesebene, an der die Grünen beteiligt waren, mit Joschka Fischer als Minister.
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