Im deutschsprachigen Pressewesen wird über den Osten diskutiert, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen am 1. September sowie der Tatsache, dass in Brandenburg am 22. September ein vergleichbares Ergebnis erwartet wurde. „Der andere Blick“ der Neuen Zürcher Zeitung meinte Ende August feststellen zu sollen: „Der Westen hat seit 35 Jahren die Deutungshoheit über die Ostdeutschen. Deren Geduld ist nun am Ende.“ Das klingt nach Verständnis. Es sei mit einem „politischen Beben“ zu rechnen, so befinde sich „die rechtspopulistische AfD im Steilflug, ebenso die im Januar gegründete kommunistische Wagenknecht-Partei im linken Spektrum“. Die seit Jahrzehnten in der Bundesrepublik etablierten Parteien würden „in den ostdeutschen Landtagen nun teilweise in die Bedeutungslosigkeit geschickt“. Niemand zwingt das konservative Schweizer Blatt, diesem Unisono des deutschen Medien-Politik-Komplexes nachzulaufen, wonach AfD und BSW in einen Topf gehören würden. Man tut es dennoch.
Rasch wird auf den Punkt gebracht: Die Leute seien undankbar, sie würden meinen, die Ukrainer heute würden eine Solidarität erfahren, die Ostdeutsche in Westdeutschland nie erfahren haben; sie würden denen das Bürgergeld nicht gönnen. Das Schicksal der Ukrainer sei vielen Ostdeutschen „egal“. Der Krieg in der Ukraine treibe die Menschen in Ostdeutschland stärker um, als sich viele Westdeutsche vorstellen könnten, aber vielfach deshalb, weil sie „Putins imperiale Gewaltpolitik akzeptieren oder zumindest tolerieren“. Das habe „dazu geführt, dass in Ostdeutschland ein Pazifismus herrscht, den man durchaus als feige bezeichnen könnte. Die AfD und die Wagenknecht-Partei greifen diese Stimmung nur auf.“ So könne „die Kreml-Propaganda gedeihen“. Kein Gedanke, dass man hier Stalingrad und die Niederlage des faschistischen deutschen Angriffskrieges gegen die Sowjetunion trotz aller derzeitigen Propaganda nicht vergessen hat.
Der Autor dieses Textes heißt Marco Seliger, aktuell ausgewiesen als „Redaktor der NZZ Deutschland“. Bei Wikipedia findet man, dass der Mann als Reservist in Afghanistan, im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina im Einsatz war. Als Journalist war er militärpolitischer Autor und Kriegsberichterstatter bei FAZ und NZZ, dann jahrelang Chefredakteur von Loyal, der Zeitschrift des deutschen Reservistenverbandes, schließlich Pressesprecher von „Heckler & Koch“, der berüchtigten deutschen Rüstungsfirma für Handfeuerwaffen, nun wieder bei der NZZ. Ein berufsmäßiger Kriegspropagandist.
Man könnte den Text als zeitgeistige Hetze ignorieren. Gleichwohl verbirgt sich hier ein tieferes Problem der deutschen Geschichte, das auch nach 35 Jahren neudeutscher Einheit und zweier Generationen, die mit der realexistiert gehabt habenden DDR nichts zu tun hatten, nicht verschwunden ist.
Dazu muss man nochmals die deutsche Geschichte genauer ansehen. Nach dem Untergang des Hitler-Reiches haben die Besatzungsmächte in ihrem jeweiligen Machtbereich jene politischen Kräfte präferiert, die ihnen politisch am nächsten standen. Oftmals wird, um die nachmalige Entwicklung im Osten Deutschlands zu erklären, auf interne Pläne, Vorhaben und Konzeptionen der sowjetischen Führung unter Stalin 1944/1945 verwiesen. Die Entwicklung im Osten Deutschlands nach 1945 war in der Tat von den weltpolitischen Konzepten Stalins nicht zu trennen. Aber auch die Entwicklung im Westen Deutschlands nicht von den Konzepten der USA, Großbritanniens und Frankreichs. Um die Verhältnisse in Deutschland zu gestalten, bedurfte es allerdings deutscher politischer Kräfte, die eigene politische Interessen verfolgten, die mit denen der jeweiligen Besatzungsmacht zusammentrafen. Die Besatzungsmacht suchte sich jene politischen Kräfte, die ihren politischen Zielen entsprachen; die unterschiedlichen politischen Kräfte in Deutschland suchten ihrerseits die Unterstützung jeweils jener Besatzungsmacht, deren Grundinteresse mit dem ihren übereinstimmte. Insofern entstammten führende Politiker in beiden deutschen Staaten nicht notwendig der jeweiligen „Zone“. Hans-Dietrich Genscher, langjähriger Vorsitzender der FDP und Außenminister der BRD, stammte aus Halle; Wolfgang Mischnik, ebenfalls früherer Bundesminister und viele Jahre Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion, war Dresdener. Umgekehrt stammte Erich Honecker aus dem Saarland, Heinz Hoffmann, langjähriger Verteidigungsminister der DDR, aus Mannheim.
Die deutsche Natur der Existenzbedingungen der DDR liegt darin, staatliche Konstituierung einer der Bürgerkriegsparteien der Revolution von 1918/19 zu sein. Was sich vierzig Jahre, von 1949 bis 1989, in Deutschland in Entgegensetzung gegenüberstand, waren die Parteien der linken Reichstagsmehrheit von 1917 (SPD, Zentrum, Linksliberale) einerseits und die revolutionären Sozialisten andererseits, die die in der Revolution angenommene Alternative – Nationalversammlung oder Rätemacht – im Widerspruch zueinander entscheiden wollten (Peter Ruben). Angesichts der konkreten historischen Konstellationen, der Niederlage der Linken 1919, der Unfähigkeit der Deutschen, auch der Arbeiterparteien, 1933 Hitler zu verhindern bzw. während des Krieges zu stürzen, hatte dies eine besondere Bereitschaft der deutschen Kommunisten zur Subordination unter die Führung der KPdSU zur Folge. Die DDR war die mit Hilfe der sowjetischen Kommunisten und ihrer siegreichen Roten Armee Staat gewordene linke Opposition von 1918/19.
Der deutsch-britische Historiker und Publizist Sebastian Haffner schätzte bereits Anfang der 1940er Jahre ein (das bezog sich auf seine Erfahrungen in Deutschland vor seiner Emigration nach Großbritannien 1938), dass ein nicht-demokratisches Staatswesen der Unterstützung von mindestens einem Drittel der Bevölkerung bedürfe. Insofern war die DDR nicht nur Oktroy der Moskauer Führung, sondern hatte ihre eigenen Wurzeln in der deutschen Geschichte. Heinrich Mann, Bertolt Brecht, Anna Seghers und viele andere, denen es frei stand, in welches Deutschland sie nach 1945 zurückkehren wollten, entschieden sich bewusst für die DDR, weil hier nicht die alten Nazis wieder an Schalthebeln der Macht saßen. Für alle, die sich bewusst für die DDR einsetzten, war dies das „bessere Deutschland“. Sie waren nicht die Mehrheit der Bevölkerung, wie sich nicht zuletzt bei den Volkskammer-Wahlen 1990 zeigte. Sie wurden dort überstimmt. Aber sie verschwanden mit der deutschen Vereinigung nicht.
Der renommierte westdeutsche Soziologe Erwin Scheuch nahm Anfang der 1990er Jahre in seinen Betrachtungen zu den Problemen der deutschen Vereinigung die Hypothese von Haffner auf und ging ebenfalls davon aus, dass etwa ein Drittel der DDR-Bevölkerung das politische System unterstützt hatte. Die Zahlen zur politischen Organisation stützen dies. Hier gab es in einem Lande von 16,5 Millionen Einwohnern eine Staatspartei von 2,3 Millionen Einwohnern. Die vier anderen Blockparteien hatten 1989 485 000 Mitglieder. 2,8 Millionen Menschen waren so in den fünf staats-tragenden Parteien organisiert.
Von ihren Verfechtern wurde die DDR immer als eine eigene Antwort auf das Hitler-Reich verstanden. Krieg und Faschismus sollten niemals wieder möglich sein. Sie agierten unter der Voraussetzung der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion, während die USA und die NATO der Feind waren, der die DDR zerstören wollte. Diese Feindbilder haben sich mit der deutschen Einheit in vielem verflüchtigt. Aber je mehr jetzt die Kriegstrommeln gegen Russland gerührt werden, desto mehr greift im Osten um sich, dass dies nicht der Sinn der deutschen Vereinigung gewesen sein kann. Auch wenn man die Kriegspolitik Putins verurteilt, kann die Antwort nicht immer mehr Krieg, sondern nur Frieden sein.
Es geht nicht um „Feigheit“, sondern um das historische Bewusstsein, dass Deutschland stets verloren hat, wenn es gegen Russland in den Krieg zog. Dies hat der Osten dem Westen voraus.
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