Schreiben. – Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, sich der Lebensgeschichte eines Schriftstellers zu nähern. Für seine durchaus kenntnisreiche Kafka-Biographie hat Rüdiger Safranski lediglich eine einzige, für ihn „eigentlich naheliegende“ Spur verfolgt: „Das Schreiben selbst und sein Kampf darum.“
Im August 1913 hatte Kafka sein Wesen und Verhalten gegenüber seiner Verlobten Felice Bauer mit den Worten gerechtfertigt: „Ich habe kein litterarisches Interesse sondern bestehe aus Litteratur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein.“ Bereits drei Wochen zuvor trug er in seinem Tagebuch all jene Punkte zusammen, die für beziehungsweise gegen eine Heirat mit ihr sprachen. Unter anderem notierte er dort: „Alles was sich nicht auf Litteratur bezieht, hasse ich, es langweilt mich Gespräche zu führen […] es langweilt mich Besuche zu machen, Leiden und Freuden meiner Verwandten langweilen mich in die Seele hinein. Gespräche nehmen allem was ich denke die Wichtigkeit, den Ernst, die Wahrheit.“ Wenn er nicht schreibt, fühlt sich Kafka wie ein Nichts. Schreiben ist für ihn ein „Kampf um die Selbsterhaltung“. Das Leben eines Schriftstellers versteht er als „eine Konstruktion der Genußsucht“.
Zur Heirat mit Felice kommt es nicht. In seinem 1919 verfassten und nie abgeschickten „Brief an den Vater“ entwickelt Kafka die Theorie, dass der Vater das Terrain von Ehe und Familie besetzt gehalten hätte. Und weil dem so war, habe der Sohn in die Welt des Schreibens ausweichen müssen. Safranski versteht dies nicht nur als Reaktion auf die väterlichen Machtansprüche. Schreiben ist für Kafka nicht nur „Asyl“, sondern zugleich „gelobtes Land“.
Am Ende seines Lebens wird Kafka mehr und mehr von Selbstzweifeln und Schuldgefühlen geplagt. War die Entscheidung für die Literatur richtig? „Ich könnte leben und lebe nicht“, schreibt er im Juli 1922, „ich bin Lehm geblieben, den Funken habe ich nicht zum Feuer gemacht“. In einem Interview mit dem rbb meinte Safranski dazu: „Wir können uns bei Kafkas Schuldgefühlen gewissermaßen bedanken, sie haben uns den Kafka hervorgebracht, den wir jetzt lesen können.“ Und auf den kommt Safranski seit mehr als sechs Jahrzehnten immer wieder zurück. Dem Philosophie Magazin hat er gestanden: „Weil meine Geschichte mit Kafka schon so lange dauert, bedeutet Kafka zu lesen bei mir immer auch, in mir selbst zu lesen.“ Übrigens: Safranskis Lieblingsfigur ist Karl Roßmann, Hauptakteur in Kafkas Roman „Der Verschollene“.
Rüdiger Safranski: Kafka – Um sein Leben schreiben, Hanser Verlag, München 2024, 256 Seiten, 26,00 Euro.
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Unternehmer. – Vor mehr als zwanzig Jahren erschien in der Reihe der Marbacher Magazine ein Heft mit dem Titel „Kafkas Fabriken“; Herausgeber waren Klaus Wagenbach und Hans-Gerd Koch. Es ging darin um den für die Prager Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt tätigen Beamten Franz Kafka, seit 1909 „zuständig für alle versicherungsrechtlichen Fragen, die sich aus der stetig zunehmenden technischen Komplexität der versicherungspflichtigen Betriebe in Industrie und Gewerbe ergaben“.
Fast zeitgleich musste sich Kafka aber einer anderen Aufgabe stellen, der des Fabrikanten. Diese zwar seit Längerem bekannte, für einen Schriftsteller ungewöhnliche Konstellation weckte das Interesse des, wie er von sich selbst sagt, „literaturinteressierten Juristen“ Ulrich Fischer. Nach Sichtung der vorliegenden Forschungsergebnisse und eigenen Untersuchungen musste Fischer jedoch erkennen, dass sich die Frage, wie und warum es dazu kam, dass Kafka um die Jahreswende 1911/12 persönlich haftender Gesellschafter der „Prager Fabrik für Waren aus Asbest Hermann & Co.“ wurde, bis heute nicht eindeutig beantworten lässt. Darüber hinaus hat er in einem im Kafka-Kurier veröffentlichten Aufsatz die bisher nicht beachtete, formaljuristische Frage aufgeworfen, ob für Kafka eine Nebenbeschäftigung als Teilhaber einer Asbestfabrik überhaupt zulässig war.
Wahrscheinlich gab das Wunschdenken von Kafkas Vater den Ausschlag, wollte er seinen Sohn doch eher als Unternehmer denn als Beamten sehen. Und so kam ihm die von seinem Schwiegersohn Karl Hermann aufgebrachte Idee einer Firmengründung – unabhängig von der Branche – gerade recht. Dass Hermann über keinerlei Erfahrungen im industriellen Bereich verfügte und in Gelddingen recht unbefangen war, spielte für den Vater offenbar keine Rolle. Und wie stand Franz Kafka zu all dem? Im Tagebuch hielt er am 14. Dezember 1911 fest: „Mein Vater machte mir Mittag Vorwürfe, weil ich mich nicht um die Fabrik kümmere. Ich erklärte, ich hätte mich beteiligt, weil ich Gewinn erwartete, mitarbeiten könne ich aber nicht, solange ich im Bureau sei. Der Vater zankte weiter, ich stand beim Fenster und schwieg.“ Kafka fühlte sich nie zum Fabrikanten berufen.
Dennoch. Am 20. Februar 1912 erfolgte die Eintragung ins Handelsregister, als Inhaber wurden Karl Hermann und Dr. Franz Kafka genannt, „jeder selbstständig zeichnungsberechtigt“. Unter der Rubrik Zwecksetzung der Firma wurde festgehalten: „Die fabrikmäßige Erzeugung von Asbestwaren und Packungen sowie der Handel mit diesen Erzeugnissen.“ Kurz darauf wurde die Produktion aufgenommen. Jedoch mangelte es an Fachkräften, die sich mit dem neuen, als „Wunderfaser“ gepriesenen und profitversprechenden Werkstoff auskannten.
Greifen wir vor. Der Erste Weltkrieg und die damit einhergehende schlechte Konjunktur brachten nach nicht einmal sechs Jahren das Aus. Anders als erwartet, hatte die Fabrik keine nennenswerten Gewinne abgeworfen. Die Prager Asbestwerke, so Fischer, „endeten in einem Fiasko“. Am 1. August 1918 wurde die Löschung der Firma im Amtsblatt zur Prager Zeitung angezeigt. Damit nicht genug. Nach Kafkas Tod machte das Finanzamt den Erben gegenüber noch eine Steuerschuld von 16.922,15 Kronen geltend, was in etwa der Hälfte seines letzten Jahresgehalts entsprach.
Dank an Ulrich Fischer, dass er diesen Lebensabschnitt umfassend dokumentiert und zahlreiche bisher unbekannte Materialien zutage gefördert hat.
Ulrich Fischer: Asbest – Franz Kafka als Unternehmer, Wallstein Verlag, Göttingen 2022, 200 Seiten, 22,00 Euro, sowie ders.: „Herr Kollege Dr. Kafka, wo ist eigentlich Ihre Nebenbeschäftigungsgenehmigung“, in: Kafka-Kurier Numero 5 (hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle), S. 21–26, Wallstein Verlag, Göttingen 2023, 16,00 Euro.
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Nachlass. – Bleibt die Frage: Was geschah mit Kafkas Hinterlassenschaft? Auch diesem Problem ist Ulrich Fischer auf den Grund gegangen. Haben sich andere Untersuchungen vor allem damit beschäftigt, wie Max Brods Entscheidung in puncto Loyalität zu bewerten sei, so geht Fischer das Ganze aus juristischer Perspektive an. Zunächst erinnert er an einen Satz aus Cervantes‘ „Don Quixote“, der sich auf den Wunsch des Vergil das Schicksal seines Epos „Aeneis“ betreffend bezog: „Denn es ist weder gerecht noch klug, den Willen eines Toten zu vollstrecken, wenn seine Anordnungen die Grenzen des vernünftig Zulässigen überschreiten.“
Kafka hatte Anfang der Zwanzigerjahre auf zwei Zetteln handschriftlich angeordnet, dass sein Freund Brod nach des Autors Tod alle bis dahin nicht publizierten Schriftstücke einschließlich der Tagebücher, Briefe und Notizen „restlos und ungelesen zu verbrennen“ habe. Was dieser nicht tat und wofür er sich im Nachwort zu der von ihm 1925 vorgelegten Ausgabe von Kafkas Roman „Der Process“ rechtfertigte. Hatte er doch, wie er schrieb, auf Kafkas Wunsch geantwortet: „Falls du mir im Ernste so etwas zumuten solltest, so sage ich dir schon jetzt, daß ich deine Bitte nicht erfüllen werde.“
Die literarische Öffentlichkeit war uneins. Ehm Welk erklärte am 27. September 1929 in der Vossischen Zeitung: „Es bleibt unentschuldbar, das Vertrauen eines sterbenden Freundes zu brechen […].“ Hingegen argumentierte Walter Benjamin in der Literarischen Welt: „[…] die echte Treue gegen Kafka war, daß dies geschah“.
Schaut man demgegenüber auf die bei Kafkas Tod in der Tschechoslowakischen Republik geltende Rechtslage, gelangt man mit Fischer zu folgenden Ergebnissen. Brod hätte nicht die Funktion des „Nachlassverwalters“ für sich beanspruchen dürfen. Kafka hatte ihn nie explizit schriftlich dazu eingesetzt, was im Übrigen auch nicht relevant gewesen wäre, da klare Erbschaftsverhältnisse bestanden und das Erbe an Kafkas Eltern und Schwestern fiel, unabhängig davon, ob sie das geltend gemacht hätten. Auch die Auffassung, Brod sei Kafkas „Testamentsvollstrecker“ gewesen, entbehrt jeder rechtlichen Grundlage, dazu hätte ein Testament mit entsprechenden Anordnungen vorliegen müssen. Das dem nicht so war, geht aus dem Protokoll der abschließenden und durch die Unkenntnis der Hinterbliebenen (was den Wert der hinterlassenen Aufzeichnungen betraf) fehlerhaften Inventarisierung des Nachlasses durch den Prager Notar Emerich Fiala vom 30. Oktober 1924 hervor. Einzig was die Veröffentlichungsrechte betraf, war Max Brod insofern im Recht, wurde er doch per Vertrag am 11. Juli 1924 von der Erbengemeinschaft als allein verantwortlicher Herausgeber der Werke Kafkas eingesetzt.
Abgesehen davon, dass es um Kafka geht: Ein Buch, das sich wie ein juristischer Krimi liest.
Ulrich Fischer: „alles … restlos und ungelesen zu verbrennen“. Kafkas letzter Wille – eine juristische Analyse, Wallstein Verlag, Göttingen 2024, 112 Seiten, 20,00 Euro
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Verwandtschaft. – Werfen wir noch einen Blick auf Kafkas familiäres Umfeld, das seitens der Eltern so aussah: „Hermann Kafka hatte drei Brüder und zwei Schwestern, seine Frau Julie fünf Brüder; Franz Kafka hatte 23 Cousins und Cousinen – nur 23, denn vier Onkel und eine Tante hatten keine Kinder.“ Hinzu kamen Kafkas drei Schwestern sowie deren Kinder. Das war noch nicht alles. Ein von Hans-Gerd Koch zusammengestellter Stammbaum verzeichnet 63 Namen. „Es war“, so Koch, „eine große und bunte Verwandtschaft, die Kafka reichlich mit Themen und Motiven für seine literarische Arbeit versorgte […] Die Lebensgeschichten von Kafkas Verwandten weisen wohl nicht zufällig manches auf, was wir aus seinen Romanen und Erzählungen kennen.“
Von fast all diesen Personen haben sich Fotografien erhalten. Der Forschungsarbeit von Hans-Gerd Koch ist es zu danken, dass diese aus dem Besitz von Kafkas Eltern stammenden und von den Nachkommen der Schwestern aufbewahrten rund 100 Aufnahmen im Frühjahr dieses Jahres in der Berliner Staatsbibliothek erstmals einer breiten Öffentlichkeit präsentiert werden konnten. Die Fotos, von denen viele bisher unbekannt waren, entstanden auf Ausflügen und Reisen, in der Sommerfrische und im Sanatorium oder, „fein zurechtgemacht“, im Fotoatelier.
Wer die Berliner Ausstellung nicht sehen konnte, kann dennoch in Kafkas Familienuniversum eintauchen. Der von Koch zusammengestellte und vom Wagenbach Verlag exzellent gestaltete Bild-Text-Band „Kafkas Familie. Ein Fotoalbum“ vereint all das in der Staatsbibliothek Gezeigte. Ein Buch, nicht nur für Kafka-Leser.
Kafkas Familie. Ein Fotoalbum, zusammengestellt und mit einer Einleitung von Hans-Gerd Koch, Wagenbach Verlag, Berlin 2024, 208 Seiten, 38,00 Euro.
Die Ausstellung „Das Fotoalbum der Familie Kafka“ ist noch bis zum 20. September im Prager Goethe-Institut zu sehen.
Schlagwörter: Biografie, Franz Kafka, Mathias Iven