Mit Blick auf den derzeit vor unseren Augen stattfindenden grundlegenden Wandel der Machtverhältnisse im internationalen Staatensystem werden wir dem stetigen Aufstieg Chinas zur führenden Macht und dem gleichzeitigen Niedergang des Westens immer größere Aufmerksamkeit zuwenden müssen.
Chinas machtpolitische Dynamik
Die wachsende Stärke Chinas drückt sich nicht nur in dem entschlossenen wirtschaftlichen Ausgreifen im globalen Maßstab aus. Auch im Bereich von Wissenschaft und Technologie einschließlich der Weltraumfahrt sowie auf dem Felde der militärisch unterlegten Außen- und Sicherheitspolitik begegnen wir einem Engagement, das alle unsere früheren Einschätzungen im Hinblick auf die Handlungsmöglichkeiten und das Verhalten dieses Staates in den Schatten stellt. Wie wir nahezu täglich beobachten können, nutzen die politischen Entscheidungsträger in Peking nicht nur im Rahmen ihres geopolitischen Projekts „Neue Seidenstraße“ jede sich bietende Gelegenheit, ihren Einfluss selbst in weit entfernten Regionen der Welt zu vergrößern. Mit strategisch bedeutsamen wirtschaftspolitischen Maßnahmen in Europa, in zahlreichen Staaten des Nahen Ostens, Zentralasiens, Afrikas, Südamerikas und der asiatisch-pazifischen Region signalisiert China immer deutlicher , wer künftig die führende Weltmacht sein wird.
Dabei geht die politische Führung Chinas ganz andere Wege als ihre westlichen Konkurrenten. Man sichert sich langfristigen Einfluss vor allem mit umfangreichen Geschäftsverbindungen und attraktiven Krediten sowie politischer Unterstützung, um eine dominante Position zu erreichen. Insbesondere in Afrika und vor allem im asiatisch-pazifischen Raum, einer Schlüsselregion der Welt, ist China so stark vernetzt, dass eine Abkopplung einzelner Staaten keine realistische Option ist. Vielmehr können wir an dem starken Engagement Chinas, wie zum Beispiel an den zahlreichen technischen und wirtschaftspolitischen Investitionen in vielen Ländern Afrikas, ablesen, wie zielstrebig und erfolgreich die politische Führung Chinas vorgeht. Die am 5. und 6. September 2024 in Peking abgehaltene Gipfelkonferenz mit mehr als 25 afrikanischen Staats- und Regierungschefs und Delegationen aus 53 Ländern machte dies erneut deutlich.
Auch mit Blick auf die Beziehungen Chinas zu Europa sind in jüngster Zeit fühlbare Abhängigkeiten entstanden. Diese Abhängigkeiten Europas von China sind inzwischen so groß, dass eine Entkopplung kaum möglich sein dürfte. Auch das von manchen Regierungen europäischer Länder – auch Deutschlands – verhängte Verbot einzelner Übernahmen bedeutender Unternehmen durch chinesische Firmen und die häufig von europäischen Politikern angekündigten Bestrebungen, von Lieferungen aus China unabhängig zu werden, dürften dies nicht wesentlich ändern. Und selbst die inzwischen ins Spiel gebrachte Idee , die derzeit großen Abhängigkeiten in vielen Bereichen der Wirtschaft und Technologie zu vermindern, wird für die betroffenen europäischen Länder nicht die erhoffte Wirkung bringen. Den chinesischen Akteuren gelingt es immer wieder, ihr Verhalten den wechselnden Bedingungen in den europäischen Ländern anzupassen.
Abgesehen von der direkten, sehr professionell betriebenen und machtorientierten Teilhabe an der internationalen Politik demonstriert die politische Führung Chinas nicht nur ihre Ansprüche gegenüber anderen Staaten. Sie wagt es inzwischen auch mit sichtbarem Erfolg, ihre Interessen – wie zum Beispiel mit Blick auf den Status von Hongkong – konsequent durchzusetzen. An der unterschiedlichen Reaktion der westlichen Länder kann man ablesen, wie weit der Einfluss Chinas in eine von dem Machtrivalen USA angeführte Staatenwelt reicht, die immer noch den „Regime Change“ auf ihre Fahnen schreibt.
Über die wirtschaftliche und politische Dynamik hinaus, die wir in China beobachten können, wird immer wieder deutlich, dass die chinesischen Entscheidungsträger auch die Deutung der Weltordnung längst nicht mehr den Repräsentanten der westlichen Länder überlassen. Sie bauen dabei auf die aus ihrer Sicht bewährten eigenen Vorstellungen, deren Ursprung in eine ferne Vergangenheit zurückreicht. Vor allem im Hinblick auf die Zielstrebigkeit, Effizienz und Handlungsfähigkeit Chinas ist zu erkennen, dass sich die politische Elite des Landes unter der Führung des Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Xi Jinping auch an den Lehren ihrer bedeutenden Denker Konfuzius (551-479 v. Chr.) und Sun Tzu (534-453 v. Chr.) orientiert und bemerkenswert kühn handelt. Beide große Lehrer prägten ein nachhaltiges Denken, bei dem langfristige Ziele den Rahmen dessen bilden, was die jeweils politisch Handelnden tun oder lassen sollten. Die Ausdehnung seiner Militärmacht in der asiatisch-pazifischen Region und das selbstbewusste Vorgehen Chinas etwa gegenüber den USA belegen, dass hier eine neue Zeit begonnen hat. Die Repräsentanten Chinas können sich zudem weitgehend darauf verlassen, dass die meisten Landsleute das Prinzip Leistung und die Verpflichtung auf das derzeitige Kontinuität verbürgende Herrschaftssystem akzeptieren und daran interessiert sind, dessen Macht noch zu fördern. Gegen Minderheiten, wie die Uiguren, die sich nicht vollständig in das Herrschaftssystem einordnen wollen oder gegen einzelne Maßnahmen der chinesischen Regierung Widerstand leisten, geht die politische Führung konsequent vor. Dabei erscheint es folgerichtig, dass man in Peking die Kritik an dieser Haltung seitens westlicher Politiker ebenso wie den Vorwurf der Verletzung der Menschenrechte entschieden zurückweist.
Sichtbare Schwäche der westlichen Staaten
Vor dem Hintergrund der beeindruckenden Herausforderung durch das professionelle und machtorientierte Handeln Chinas finden wir in den westlichen Staaten wenig, was politisch ins Gewicht fallen könnte , um dieser Herausforderung wirksam zu begegnen. Vielmehr können wir in den westlichen Staaten eine Führungsschicht beobachten , die mit den tatsächlichen Verhältnissen auf Kriegsfuß steht und nicht fähig ist, die in vielen Bereichen sichtbaren Schwächen der Regierungssysteme zu beseitigen. Nicht nur in Deutschland und anderen europäischen Staaten, sondern auch in den USA hat man versäumt, geeignetes Führungspersonal herauszubilden und in ebenso sinnvollen wie transparenten Verfahren für Spitzenpositionen zu rekrutieren. Über die Frage, ob die derzeit praktizierte Rekrutierungsweise der führenden Politiker in den westlichen Staaten noch sinnvoll ist, wird überhaupt nicht nachgedacht. Dabei können wir die Folgen des unzureichenden Wissens und des mangelnden Realitätsbewusstseins der politischen Entscheidungsträger und ihrer Berater täglich beobachten.
Mit Blick auf die politische Handlungsfähigkeit fällt gegenwärtig auf, wie schwierig es für die westlichen Staaten ist, eine längerfristig tragfähige gemeinsame Haltung gegenüber China zu erreichen. Auch die jüngsten Gipfeltreffen westlicher Staatschefs im Rahmen der EU, der G7 und der NATO konnten dies nicht verdecken. Die Eingliederung der zu den letzten beiden G7-Gipfeltreffen eingeladenen Staaten Indien, Indonesien, Südafrika, Senegal, Brasilien und Argentinien in den westlichen Staatenkreis gelang nicht. Die unterschiedlichen Interessen und Sichtweisen machen es zudem außerordentlich schwer, über die tatsächlich vorhandenen politischen und wirtschaftlichen Probleme innerhalb der westlichen Staaten, erst recht aber zwischen den verschiedenen westlichen Staaten sachlich fundiert zu diskutieren und angemessene Entscheidungen zu treffen.
Selbst die führenden westlichen Staaten kennzeichnet eine vielfältige und tiefgreifende Fragmentierung der Gesellschaften, die es kaum noch erlaubt, die in der internationalen Politik notwendige Entwicklung von Machtressourcen und deren kluge Anwendung ins Auge zu fassen. Mit den von westlichen Politikern häufig vorgebrachten Appellen zur „Wahrung der Menschenrechte“ und zur „Einhaltung des Status quo“ etwa mit Blick auf die chinesische Inselrepublik Taiwan oder mit den immer wieder ausgedrückten Wünschen nach einer Verurteilung von Russlands Vorgehen gegen die Ukraine wird man die politische Führung Chinas nicht beeindrucken können.
Perspektiven
China hat auf der Grundlage seiner weit in die Geschichte zurückreichenden kulturellen Tradition der Ordnung, der Harmonie und der Rationalität, wie sie der Gelehrte Konfuzius vor 2500 Jahren begründet hat, sowie mit seinem zielstrebigen weltweit unternommenen machtpolitischen Vorgehen gute Chancen, auch in Zukunft erfolgreich zu sein. Mit Blick auf die wahrscheinliche politische Entwicklung des Raum-Zeit Kräfte-Verhältnisses im internationalen System wird sich der Entschluss Chinas zu dem historischen Paradigmenwechsel und der damit verbundenen immer enger werdenden vielseitigen Partnerschaft mit Russland als vorteilhaft erweisen.
Die gelegentlich für die russische Interessenlage eher vorsichtig erscheinenden chinesischen Aussagen etwa zu Russlands Krieg um die künftige politische Zuordnung der Ukraine sollten nicht überbewertet werden. Sie sind eher taktisch gemünzt und zeigen, wie unabhängig und selbstbewusst man in Peking denkt. Im Ringen um die politische Zuordnung der Ukraine – entweder zur NATO und damit zum Machtkomplex des Rivalen USA oder zum Partner Russland – steht China an Russlands Seite. Es erscheint dabei durchaus praktikabel und richtig, dass die militärische Unterstützung Russlands durch China nicht direkt, sondern über „dritte Länder“ erfolgt. China dürfte dabei auch künftig in der Lage sein, mit Russland und vielen anderen Staaten eine „Counter-Alliance“ zu bilden und wird den USA sowie deren Bündnispartnern die Möglichkeit nehmen, die internationale Ordnung zu dominieren.
Die Partnerschaft im Rahmen der Brics-Staaten und der von China angeführten und an Mitgliedern zunehmenden „Shanghai Cooperation Organisation“ (SCO) wird in diesem Kontext eine wichtige Rolle spielen. Die SCO ist inzwischen so beständig und attraktiv geworden, dass zahlreiche Staaten vor allem im asiatisch-pazifischen Raum, im Nahen Osten, in Afrika, in Zentralasien und selbst in Südamerika sich vom Westen abwenden und der neuen „Allianz“ unter der Führung Chinas zuneigen. Es erweist sich dabei sogar als Vorteil, dass China auf die ausgeprägte Steuerung verzichtet, wie sie die von den USA dominierten Bündnissysteme kennzeichnet. Die Mitglieder dieses von China ins Leben gerufenen Staatenverbundes repräsentieren schon heute mehr als 40 Prozent der Weltbevölkerung . Selbst die Partnerschaft mit verschiedenen untereinander tief verfeindeten Staaten im Nahen Osten, wie Iran einerseits und Saudi-Arabien sowie die Vereinigten Arabischen Emirate andererseits, gelingt der chinesischen Führung, ohne in die dortigen Konflikte hineingezogen zu werden. Es sollte daher nicht überraschen, dass China immer stärker die Rolle eines Vermittlers und Krisen-Managers in der Welt übernimmt.
Vor dem Hintergrund des sich abzeichnenden künftigen internationalen Systems werden wir damit rechnen müssen, dass sich China im Laufe der nächsten 10-15 Jahre zur dominanten Macht entwickeln wird. Eine hinreichend tiefgehende gemeinsame Strategie der westlichen Staaten gegenüber China gibt es nicht und wird auch künftig kaum erreicht werden können. Die im Rahmen der internationalen Politik notwendigen strategischen Denkweisen und die anwendbaren Machtressourcen finden wir eher bei den chinesischen Entscheidungsträgern, die immer wieder zeigen, ,,wie Strategie geht“.
Vor allem im Bereich der Wirtschaft wird China in absehbarer Zukunft die USA aus ihrer Führungsposition verdrängen. Schon jetzt ist zu erkennen, dass die bisherige Dominanz des Dollars im Welthandel schwindet und der chinesische Yuan im Handel zwischen den Ländern vermehrt Verwendung findet. Abgesehen von der starken Position auf dem Gebiet der Wirtschaft wird China dank der zügigen Aufrüstung und Modernisierung seiner Streitkräfte (insbesondere der Marine und der Luftwaffe) bereits gegen Ende dieses Jahrzehnts die führende Militärmacht sein und auch in der – militärisch dominierten – Weltraumfahrt die Spitzenposition übernehmen können. Es ist in diesem Zusammenhang zu erwarten, dass die politische Führung Chinas angesichts der durchaus beeindruckenden Anstrengungen der US-Weltraumorganisation NASA und einzelner Unternehmer in den USA (beispielsweise Elon Musk) im Bereich der Weltraumfahrt ihr Engagement auf diesem Felde deutlich erhöhen wird.
Bei der Entwicklung und Anwendung der Künstlichen Intelligenz (KI) und der Quantentechnik ist China seinen Konkurrenten mehr als ein Jahrzehnt voraus und damit in der Lage, den eigenen Machtzuwachs beträchtlich zu erweitern und die USA hinter sich zu lassen. Bereits jetzt gehört China zu den Hauptproduzenten für Seltene Erden. In der Nutzung der Nuklearenergie ist China sowohl im Bereich der Kernspaltungstechnik als auch in der Fusionstechnik ebenfalls weit fortgeschritten und wird auf diesem Felde weiter voranschreiten. Eine ähnlich herausragende Position nimmt China in der Entwicklung und Anwendung der Wind- und Solarenergie ein.
Die chinesischen Entscheidungsträger werden darüber hinaus immer deutlicher ihre Bereitschaft zeigen, die ihnen zur Verfügung stehenden vielfältigen Machtressourcen konsequent und professionell einzusetzen. Das erfolgreiche weltweite Engagement, die beständige Verstärkung der Beziehungen und Einflusskanäle in vielen Staaten der Welt, vor allem aber auch das selbstbewusste und gut überlegte militärische Vorgehen Chinas in der asiatisch-pazifischen Region weisen darauf hin, wie entschlossen man in Peking die eigenen machtpolitischen Interessen verfolgt.
So wird die Wiedereingliederung der von 23 Millionen Ban-Chinesen bewohnten und nur von 14 Staaten diplomatisch anerkannten Insel-Republik Taiwan in China vollzogen werden, wenn die politische Führung in Peking zu der Auffassung gelangt, dass die dazu notwendigen Maßnahmen Erfolg versprechen. Für die chinesischen Entscheidungsträger ist die Taiwan-Frage – durchaus folgerichtig – eine interne Angelegenheit, in die sich kein anderer Staat einzumischen hat. Dabei kann man sogar auf den Alleinvertretungsanspruch pochen, der China von den Vereinten Nationen im Jahre 1971 zuerkannt worden ist.
Die problematische Taiwan-Politik der mit ihrem Territorium mehrere 1000 nautische Meilen von der Insel-Republik Taiwan und der Küste Chinas entfernten USA trägt angesichts der tatsächlichen Verhältnisse den Keim des Scheiterns in sich. Mit der Formierung regionaler militärischer Zusammenarbeit im asiatisch-pazifischen Raum seitens der USA, Großbritanniens und Australiens (AUKUS) und den demonstrativen Besuchen westlicher Politiker in Taiwan dürfte es kaum möglich sein, den politischen und strategischen Wandel aufzuhalten. Die gelegentlichen Patrouillenfahrten europäischer Kriegsschiffe im südchinesischen Meer nahe Taiwan werden die politische Führung in Peking kaum beeindrucken. Auch die Versuche westlicher Staaten, mit Hilfe verdeckter Operationen spezieller Dienste und der Bildung von „Netzwerke n“ auf einen „Regime Change“ in China hinzuarbeiten, werden dank der Aufmerksamkeit und der professionellen Gegenwehr der Führungselite dieses Staates scheitern.
Vor dem Hintergrund der unbestreitbaren Erfolge chinesischer Machtentfaltung und der guten Perspektiven für die Zukunft dürfte es wenig hilfreich sein, über die Frage der Kontinuität der politischen Führung in China in den kommenden Jahrzehnten falsche Hoffnungen zu verbreiten. Die derzeit die Politik Chinas bestimmende Machtelite ist so fest in dem auf die Einheit des Landes ausgerichteten chinesischen Herrschaftssystem verankert und so professionell, dass wir nicht nur mit einem geeigneten Nachfolger des derzeit amtierenden und Anfang März 2023 von dem 2952 Mitglieder zählenden chinesischen Volkskongress einstimmig für eine dritte Amtszeit und damit für weitere fünf Jahre in seinem Amt bestätigten Staats- und Parteichefs Xi Jinping rechnen müssen, sondern die Machtübergabe auf den qualifiziertesten Kandidaten zuläuft, der die Kontinuität der Machtentfaltung Chinas verbürgt. Die hervorragende Ausbildung, die fachliche Kompetenz und die politische Disziplin der Machtelite werden wesentlich dazu beitragen, die Dominanz Chinas im internationalen Staatensystem für lange Zeit zu sichern.
Schlagwörter: China, Machtpolitik, Staatensystem, Taiwan, USA, Walter Schilling