Wilhelm Ersil – Willi, wie ihn alle nannten – ist tot. Am 1. August ist er kurz nach seinem 96. Geburtstag in Potsdam, wo er viele Jahrzehnte seines Lebens als Hochschullehrer, Wissenschaftler, unermüdlicher Publizist und leidenschaftlicher Disputant gelebt und gearbeitet hat, gestorben.
Am 4. Juli 1928 geboren, gehörte Willi Ersil nach 1945 zur großen Schar junger Menschen, die sich zur Entwicklung einer antifaschistischen Gesellschaft bekannten, die Gründung der DDR auch als persönliche Chance erfuhren und den Aufbau des neuen Staates mit ihrem Engagement, ihrem Wissensdrang, ihrer Lernbereitschaft und ihrem Schöpfertum tatkräftig beförderten. In den 1970er und 1980er Jahren gehörte seine Stimme zu den für die Westeuropapolitik der DDR bedeutsamen. Als 1990 die DDR verschwand, blieb er ungeachtet der „Abwicklung“ aller DDR-Außenpolitik und -Gesellschaftswissenschaft ein so scharfsichtiger wie national und international gefragter Beobachter der europäischen Entwicklung und der Rolle des vereinten Deutschlands darin. Mit seinem Professorenkollegen und Freund Jochen Dankert und dem Historiker Detlef Nakath entwickelte er in der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg eine Konferenzreihe zur Geschichte der deutsch-deutschen Beziehungen, aus der in Zusammenarbeit mit der Zeitschrift WeltTrends der bis heute stattfindende Potsdamer Außenpolitische Dialog wurde. Immer ging es ihm dabei um Entspannung und Frieden, um ein entschlossenes Heraus aus der Kriegslogik, um friedliche Koexistenz, Verhandlung und Diplomatie. Nie im Leben wäre ihm eingefallen, die Sowjetunion oder Russland als nicht zu Europa gehörig zu betrachten oder für eine künftige Entwicklung des Kontinents in Konfrontation mit seinem östlichen Teil zu plädieren.
Als ich unter seine Fittiche geriet, war er – im Studienjahr 1973/74 – ein bereits namhafter Professor am Institut für Internationale Beziehungen (IIB) in Potsdam-Babelsberg; sein Fach war Westeuropa. Es war die Zeit, da die Regierungen in Paris, London, Rom und überhaupt in Westeuropa – Helsinki übrigens, damals neutral zwischen den Blöcken agierend, hatte den Anfang gemacht – zu der Überzeugung kamen, die DDR nun doch diplomatisch anerkennen zu müssen. Damit war der fast 25 Jahre lang praktizierte Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik Deutschland gescheitert, und in der Logik der Gesamtentwicklung kam es im Jahre 1974 zur Eröffnung Ständiger Vertretungen der DDR und der BRD in der je anderen Hauptstadt.
Was für eine Perspektive für die, die sich da in der DDR mit einem Studium der internationalen Beziehungen auf die Arbeit in Botschaften überall in der Welt vorbereiteten! Und was für ein Fest, einen Willi Ersil zu erleben, der mit brillanter Analyse Interessen darzustellen verstand und die Politik als deren Ausdruck. Natürlich – machte er uns klar – war Paris nicht plötzlich in Liebe zur sozialistischen Staatsführung der DDR verfallen, sondern kalkulierte nüchtern, dass das Kräftedreieck Frankreich-Großbritannien-BRD bei Existenz der DDR ein gleichseitiges war, im Falle eines vereinten Deutschlands aber zugunsten Deutschlands und zuungunsten Frankreichs und Großbritanniens ein ungleichseitiges werden musste. Weshalb es ein vitales Interesse an guten Beziehungen mit der DDR entwickelte und dieses strategisch einbettete in den ganzen großen Komplex seiner Sonderinteressen, bestehend unter anderem im seinerzeitigen Austritt aus der Militärorganisation der NATO, in guten Beziehungen zur Sowjetunion und in einem Vorpreschen bei der Normalisierung der Beziehungen des Westens mit der Volksrepublik China. Wer das im Blick hatte, konnte sich nicht wundern, dass Frankreichs Präsident François Mitterrand – wie auch Großbritanniens Premierministerin Margaret Thatcher – 1989/90 die Geschwindigkeit des Anschlusses der DDR mit Sorge betrachtete, und auch erschließt sich im Blick auf das Dreieck die Eile, mit der Bundeskanzler Helmut Kohl eben diesen Anschluss vorantrieb.
Trefflich begreifen ließen sich mit Willi Ersil die langen historischen Bögen, in denen sich fundamentale Staatsinteressen auch dann Geltung verschaffen, wenn sie zuweilen fast unsichtbar geworden sind. Immer wieder hat Ersil in den westdeutsch-französischen respektive deutsch-französischen Beziehungen das Wechselspiel zwischen widerstreitenden und vereinigenden Interessen beider Staaten analysiert. Das von ihm 1985 verantwortete Buch „Westeuropa. Politische und militärische Integration“ und sein Aufsatz „Was bringt PESCO der Union? Die Strukturierte Zusammenarbeit und die Perspektiven der EU“ in der Zeitschrift WeltTrends, Heft 139, Mai 2018 sind Eckpunkte seines jahrzehntelangen Forschens und Ausweis der wohlbegründeten Beständigkeit seines Urteils. Mit der EU-Verteidigungsinitiative PESCO (Permanent Structured Cooperation – Ständige Strukturierte Zusammenarbeit) – so schrieb Ersil 2018 – nehme die jahrzehntealte Idee eines „deutsch-französischen Kerneuropa Gestalt“ an, der „militärisch-industrielle Komplex“ werde gestärkt, und bei all dem spielten „die Berliner Regierungen, die sich seit langem nachdrücklich für die Wahrnehmung von mehr sicherheitspolitischer und militärischer ‚Verantwortung‘ Deutschlands im Weltgeschehen aussprechen“, eine entscheidende Rolle. Mit PESCO erhalte das Bestreben der „maßgeblichen Eliten“ Deutschlands, endgültig „aus dem langen ‚Schatten der Vergangenheit‘“ herauszutreten und die „Blockaden“ zu beseitigen, die „aufgrund der faschistischen Vergangenheit einer interventionistischen Sicherheitspolitik, einer weitreichenden Militärintegration, einer unbeschränkten Rüstungskooperation sowie ungehinderter Rüstungsexportpolitik entgegenstehen“, neuen Auftrieb. Es liest sich, als habe Ersil die „Zeitenwende“-Rede des Bundeskanzlers Olaf Scholz vom 27. Februar 2022 vorausgeahnt.
Den Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022, den Scholz zum Anlass für seine Rede nahm, hat Ersil als große Tragödie wahrgenommen. Diese nicht von ihrem historischen Gewordensein und den sie bestimmenden geopolitischen Interessen abzutrennen, weil nur dann Verhandlungslösungen möglich sind, war ihm gleichermaßen selbstverständlich. Mit Willi Ersil verliert die Gesellschaft in Deutschland einen marxistischen Kritiker ihrer Außenpolitik von hohem Rang.
Schlagwörter: Außenpolitik, EU, Europa, Pesco, Westeuropa, Wilhelm Ersil, Wolfram Adolphi