Herr Meinhardt, im September sind Landtagswahlen in drei ostdeutschen Ländern. Nun veröffentlichen Sie einen Roman, der eine Dystopie über einen Mann ist, der nicht wegen seiner kritischen Meinung, sondern wegen seines kritischen Geistes im Gefängnis sitzt. Wie kamen Sie auf den Plot?
Eigentlich nicht mal wegen seines kritischen Geistes, sondern weil er was mit seinem Gesicht gemacht hat. So geht er spazieren, und so verstört er. Näheres kann ich schlecht sagen, denn ich hoffe doch, der Plot ist auch ein spannender, er soll nicht verraten sein. Bloß so viel: Am Anfang stand eine plötzliche Idee, fast eine Eingebung, die hatte noch gar nichts Politisches, ich dachte nur: dass darauf noch niemand gekommen ist! Das Politische gewann dann während des Schreibens an Gewicht, es erzwang auch die Form des Hafttagebuches, oder die Form zog das Politische nach sich, das ist schwer auseinanderzuhalten.
Was ist für Sie das zentrale Element des Romans? Und was ist der Grund, warum Sie ihn geschrieben haben?
Zuerst einmal ist es eine Entwicklungsgeschichte: Ein Mann, ein Ostdeutscher, ein Rückversicherer, wird zum Aufbegehrenden, warum? Das weiß er am Anfang selbst nicht. Er denkt, es sei ein Spleen, was er getan hat. Im Gefängnis, im Laufe des Tagebuchschreibens, begreift er erst die wahren Ursachen. Aber ich mag das Buch gar nicht weiter interpretieren. Als Autor bin ich da, um es zu schreiben und mich dann zurückzuhalten und alles weitere dem Leser zu überlassen. Ich denke mir nur, eigentlich ist es ein Buch für den Westen geworden. Er wird in dieser Geschichte in die Tiefen des Aufruhrs geführt, der im Osten herrscht, aber ich habe meine Zweifel, ob er sich dahin führen lassen mag.
Weswegen?
Das Manuskript ist in der westdeutsch geprägten Verlagswelt durchweg auf Ablehnung gestoßen. Wobei der Tenor in den Mails an meine Agentin beziehungsweise an mich war: ‚Wunderbar geschrieben, passt nur leider nicht in unser Programm‘. Und das stimmt. Es passt nicht ins Programm. Ein Lektor eines angesehenen und von mir ewig geschätzten Hauses meinte, mich über die Unterschiede zwischen Diktatur und Demokratie aufklären zu müssen, und schrieb am Ende, ein schöner Anhaltspunkt für diese Unterschiede sei der, dass ich für den Text sicher einen Verlag fände. Es müsste nur einer sein, der sich in den politischen Ansichten meiner Hauptfigur wiederfände. Das war angenehm offenherzig. Ein Mordsatz für alles Literarische. Wenn man so will, behielt jener Lektor sogar recht. Ich fand ja einen Verlag, und zwar, indem ich einen gründete.
Müssen wir Ihren Text und das, was Sie gerade berichten, so verstehen, dass die ostdeutsche Renitenz unter Verdacht steht und wegen ihrer kritischen Haltung gebändigt werden muss? Blicken Sie in Ihrem Roman in die Zukunft?
Es ist eine Dystopie, ja, aber in die frisst sich immer wieder schon die Realität. Das Manuskript lag ja eine Weile, und in diesen Monaten dachte ich, das hast du dir doch vor einiger Zeit ausgedacht, das steht doch auf Seite soundso, und jetzt passiert es in Wirklichkeit, geht aber schnell. Was den Versuch des Bändigens betrifft: Diejenigen, die ihn unternehmen, torpedieren ihn lustigerweise immer wieder selber. In Momenten, in denen sie die Nerven verlieren, stoßen sie aus, sie wären uns gern wieder los. Daraus spricht natürlich Hilflosigkeit. Sie wissen nicht recht weiter. Sie wissen es auch darum nicht, weil sie den Osten lange Zeit perfekt im Griff gehabt hatten. Beziehungsweise der Osten selber hatte sich brav in ihre Obhut begeben. Die meisten wollten einfach ankommen in der neuen Gesellschaft, und es brauchte seine Zeit, ehe mal geschaut wurde, ob hier nicht ein Irrtum vorlag. Ob das überhaupt eine Welt ist, in die man mit Haut und Haaren hineinwollen sollte. Und das ist die für den Westen gefährlichste Frage.
Warum?
Mit ihr wird an den Grundfesten der hiesigen Gesellschaft gerüttelt, auf eine Art, wie es nur von außen Gekommene tun können. Menschen zudem, die auch noch voller unterschwelliger Scham darüber sind, dass sie so lange so still so vieles mit sich haben machen lassen. Wer sich einmal flachgelegt hat und dann aufsteht, der reckt umso mehr die Brust, der wird seine Selbständigkeit wohl auch nicht wieder verlieren, was auch heißt, dass er über den unbedingten Wunsch nach Eingemeindung hinaus ist. Der Westen, scheint mir, versteht das nicht. Er antwortet mit dem Törichtsten, womit er antworten könnte, mit unübersehbaren Anwandlungen von Totalitarismus. Wobei, der Westen? Eher die politisch-mediale Schicht. Die Maßgeblichen und Meinungsbildenden beziehungsweise jetzt im Osten eben gar nicht mehr so Maßgeblichen und Meinungsbildenden. Für die ist es im Grunde zu spät.
Der Siegeszug von Parteien wie AfD und BSW? Was ist in den vergangenen Jahren passiert, dass wir uns in einem Land der Spaltung wiederfinden?
Abgesehen davon, dass ich AfD und BSW nicht im mindesten gleichsetzen würde: Was jetzt Spaltung heißt, war im Ursprung eine Ausgrenzung. Sie begann 2015, als die vielen Flüchtlinge buchstäblich eingeladen wurden und sich jeder, der das nicht vollends guthieß, zum Paria gestempelt sah, zum schlechten Menschen, um es mit einem einfachen Wort zu sagen. Und diese Ausgrenzung wiederholte sich in jeder folgenden brenzligen Situation: in der Coronazeit für alle Maßnahmenkritiker, im Ukrainekrieg für alle, die Russlands Angriffsgründe für zumindest mal des Nachdenkens wert hielten.
Wie deuten Sie das?
Dass es sich ganz offensichtlich um ein Muster in der Demokratie handelt. Eine Minderheit, und sei sie noch so groß, findet kein Gehör und wird auf subtile und manchmal auch brachiale Weise mundtot gemacht. Man kann diesbezüglich nur immer wieder auf Tocqueville und seine Schrift „Über die Demokratie in Amerika“ verweisen. Die erschien 1835 und ist bis heute auf fast unheimliche Weise gültig. Insofern geht es überhaupt nicht um diese oder jene Partei. Das sind nur Tageserscheinungen. Die Demokratie grenzt systemisch aus, es ist in ihr angelegt. Und zu ihrer Anlage gehört, dass sie darüber nicht zu diskutieren wünscht. Und da sind wir wieder im Osten. Früher gab es das Wort Klassenfeind für alle, die nicht nur mal die Versorgungslage kritisierten, sondern das Funktionieren des Sozialismus als Gesamtsystem infrage stellten. Tja und, sagt darum jetzt hier mancher, bin ich eben wieder Klassenfeind, hätte ich zwar vor drei Jahrzehnten nicht gedacht, aber macht fast Spaß langsam.
Sie selbst können die Geschichte einer Enttäuschung erzählen. Sie haben lange für die Süddeutsche Zeitung gearbeitet. 2012 haben Sie aus Frust gekündigt, weil Texte, die nicht in die Blattlinie passten, nicht gedruckt wurden. Wie etwa ein Text über zwei Neonazis, die zu Unrecht verurteilt wurden. Wie blicken Sie auf diese Zeit zurück?
Mit Frohsinn. Ich habe ja, bevor ich Reporter wurde, als Sportjournalist gearbeitet, und jetzt sind gerade Olympische Spiele, und ich erinnere mich, wie aufreibend die Berichterstattung bei so einem Ereignis ist, und wie schön. Mit einem Wort, das war mein Leben. Die Kündigung dann fiel mir leicht. Mag wie ein Widerspruch klingen, ist aber keiner. Selbst auf dem relativ unverfänglichen Gebiet des Sports hat man, oder sagen wir es präziser: habe ich in meinem alten Land nicht alle Texte durchbekommen. Zum Arbeiten gehörte das Schließen unguter Kompromisse, die hingen mir ewig nach. Wenn so etwas in der neuen Zeit nochmal nötig sein sollte, sagte ich mir zur Wende, wenn dir nochmal aus politischen Gründen ein Text gravierend verändert werden sollte, gehst du. Und dann ging ich, darum Frohsinn schon zu jenem Zeitpunkt: Weil ich mich dran gehalten hab, dass mir dieses Ungesunde nicht wieder passiert. Zudem, oder nicht nur zudem, hatte ich schon die Literatur. Das freie Schreiben, das einen im ganzen Denken befreit und letztlich auch im Handeln; es war einfach Zeit, den Journalismus zu verlassen.
Sie haben 2013 und 2017 die Wende-Romane „Brüder und Schwestern“ vorgelegt, mit großem Erfolg. Aber zurück zum Journalismus: Warum bekommen Leser zunehmend den Eindruck, dass der Journalismus die Regierungslinie stützt?
Eben darum. Weil er sie zunehmend stützt. Aber die Frage zielt ja auf die Gründe fürs Stützen. Darüber sind schon ganze Bücher geschrieben worden: ähnliche Herkunft von Politikern und Journalisten, mittlerweile gängige Seitenwechsel, die jede Behauptung, im öffentlich-rechtlichen Rundfunk herrsche keine Staatsnähe, schon aus rein logischen Gründen absurd erscheinen lässt. Ich habe nur eine kleine Geschichte beizusteuern, und zwar über ein Satzzeichen, den Doppelpunkt, und seine Verwendung in einer großen Zeitung. Viele Jahre erfüllte er dort seine gewöhnliche Funktion. Er wurde vor die wörtliche Rede gesetzt, vor eine Aufzählung, vor eine besonders starke Aussage, alles, wie es sein soll. Dann begannen zwei oder drei Schreiber, der Himmel weiß warum, ihn vor normale oder gar läppische Aussagen zu tippen, sagen wir etwas überspitzt, das Eis war: lecker. Die Sonne schien: kräftig. Dem schlossen sich andere Schreiber an, und denen wieder andere. Bald fielen die Doppelpunkte wie Salz aus dem Streuer. Es war eine lächerliche, in erstaunlicher Geschwindigkeit sich ausbreitende Marotte, ein Sog, dem sich selbst manche der sensibleren Autoren nicht entziehen konnten oder wollten. Viele streuten, nur wenige blieben noch abseits. Bloß ein Satzzeichen, wie gesagt. Die Marotte ist auch längst wieder vorbei. Aber was ist, wenn man in Gedanken mal diese erschreckende Anschlussbereitschaft und diese Maßlosigkeit vom Stilistischen ins Politische überträgt? Wo es für den Einzelnen viel schwerer ist, auf Distanz zum gerade Angesagten zu bleiben?
Sie haben 2020 Ihre Entfremdung von der SZ in dem Bestseller „Wie ich meine Zeitung verlor“ beschrieben. Wie war die Rezeption des Buches und wie die Reaktion Ihrer ehemaligen Kollegen?
Fast alle großen Blätter beschwiegen es. Der Chefredakteur der SZ, der erst am Ende der Zeit, über die ich schrieb, zur Zeitung kam, behauptete, man hätte alles gedruckt, die Reportagen seien aber zu lang gewesen. Dabei waren sie, bis auf eine, schon gespiegelt, das heißt, druckfertig gemacht. Die passten. Er hat also schlicht die Unwahrheit gesprochen. Aber das sind Details, Kleinteiligkeiten, die heute nicht mehr interessant sind. Sie waren es vor vier Jahren, seitdem ist viel passiert.
Sie sind Ostdeutscher, wohnen in Ost-Berlin, haben Ihr Buch in Mecklenburg geschrieben und etwas erlebt, was viele Ostdeutsche uns in Leserbriefen beschreiben: Sie wurden für Ihre kritische Haltung zum Status quo gesellschaftlich gemaßregelt. Verändert so ein Erlebnis, ja vielleicht sogar ein Trauma, wie Sie es erlebt haben, wie man sich in der Gesellschaft verortet?
Das klingt mir zu dramatisch. Ich bin fernab jeden Traumas. Es gab öffentliche Diffamierungen, sicher, aber weil Sie von Leserbriefen sprechen: Ich bekam damals über Wochen jeden Tag welche, und zwar ausschließlich zustimmende. Die Leute haben mir ihre eigenen Zeitungsentfremdungsgeschichten erzählt, und das waren bei weitem nicht nur Leute aus dem Osten. Man sollte, was die wachen Geister betrifft, keinen Gegensatz aufbauen. Von einem bestimmten Zeitpunkt an stellte sich bei mir Gelassenheit ein. Soll der Chefredakteur ruhig Lügen in die Welt setzen, es gibt genügend Leute, die es durchschauen. Insofern, ja, die Verortung ist nochmal eine andere geworden. Ich bin weg von all den Aufgeregtheiten, ich bin, jedenfalls was diese Sachen betrifft, angstfrei, das hat beim Schreiben des Romans durchaus geholfen. Ich konnte im doppelten Sinne in Ruhe vor mich hin arbeiten.
Wenn man in die Medien blickt, dann werden die Wahlprognosen so gelesen, als würden die Ostdeutschen nun ihr wahres Gesicht zeigen: Sie seien Putin-Freunde und ausländerfeindlich. Was entgegnen Sie so einer Beschreibung?
Nichts. Die Fakten über die lange Vorgeschichte des Krieges werden von weiten Teilen des Westens so ausdauernd ignoriert, dass jeder weitere Verweis auf sie von vornherein sinnlos wäre. Wir haben schlicht Unverständnis, das ist der Stand der Dinge. Im übrigen ist so ein Schweigen wohl auch gesünder als die zigste Entgegnung, die auch nur wieder eine Rechtfertigung wäre. Der Osten ist ja fast gestorben vor lauter Rechtfertigungen, die er im Laufe der Zeit hervorgebracht hat.
Hat das Land eine Chance, wieder zusammenzukommen, oder müssen wir uns auf eine noch tiefere Polarisierung und Spaltung vorbereiten und einfach resilient werden?
Wer weiß schon, was passiert. Ich weiß dank meines Freundeskreises nur, welches Zutrauen im kleinen Rahmen zwischen Ost und West herrschen kann. Wir streiten scharf, aber wir beschuldigen uns nicht. Vor allem können wir auch unbedacht reden, ein falsches Wort zieht keine Vorhaltungen nach sich. Eigentlich ist das der Kern von Freiheit. Ich feiere es, aber ich leite daraus nichts Allgemeingültiges ab.
Berliner Zeitung, 3./4. August 2024, Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Autoren und des Verlages.
Birk Meinhardt wurde 1959 in Berlin-Pankow geboren. Er arbeitete bis 1996 als Sportjournalist und war dann Reporter für die Süddeutsche Zeitung. Er erhielt zweimal den Egon-Erwin-Kisch-Preis. Seit 2012 ist er Schriftsteller. Sein Roman „Brüder und Schwestern“ war 2013 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert, sein 2020 erschienener Erfahrungsbericht „Wie ich meine Zeitung verlor“ wurde zum Bestseller. Nun ist sein neuer Roman „Abkehr: Ein Hafttagebuch“ erschienen und kann direkt beim Verlag bestellt werden.
Schlagwörter: Ausgrenzung, Birk Meinhardt, Demokratie, Ostdeutsche, Tomasz Kurianowicz, Westen