27. Jahrgang | Nummer 17 | 12. August 2024

Friedenswillige Sozialdemokraten

von Erhard Crome

In der deutschen Sozialdemokratie gibt es nach wie vor Friedenswillige. Peter Brandt hat wieder sehr kompetente Herausgeber und Autoren versammelt, um einen gewichtigen friedenspolitischen Band zu präsentieren. Vor zwei Jahren war Anlass der 100. Geburtstag von Egon Bahr (siehe Blättchen, 9/2023). Jetzt geht es um den „doppelten Geschichtsbruch“ in Osteuropa: der erste war der Wandel, der mit der Helsinki-Konferenz 1975 und dem Mauerfall 1989 verbunden war, der zweite der, der mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine stattgefunden hat. Dringlich gefragt wird „nach den Möglichkeiten eines Neuanfangs für ein System gemeinsamer Sicherheit in Europa“.

In ihrer knappen Einleitung betonen die Herausgeber in Bezug auf die Helsinki-Konferenz 1975 und den anschließenden „Helsinki-Prozess“ die Erfahrung, „dass selbst diametral andersartige politische und wirtschaftliche Gegebenheiten kein unüberwindliches Hindernis für eine Friedenssicherung über den Abbau militärischer Spannungen sein müssen“. Dies ermöglichte vertragliche Vereinbarungen, die das Ende des Kalten Krieges, der stets ein „Balancieren am Rande eines Dritten Weltkrieges“ war, herbeiführten. Die systemischen Differenzen zwischen West und Ost waren damals gewiss größer, als heutzutage die herbeigeredeten Unterschiede zwischen „Demokratien und Autokratien“. Dennoch waren Verträge zur Entspannung und Minderung der Kriegsgefahr möglich. Erforderlich ist der Wille zu friedlicher Koexistenz.

Die beiden Supermächte hatten seit der Kuba-Krise 1962 einen direkten militärischen Zusammenstoß zu vermeiden gesucht – übrigens auch schon in Berlin 1961. Das eröffnete europäischen Regierungen Räume für Entspannungsbemühungen, so der von Willy Brandt geführten Bundesregierung ab 1969. Die Anerkennung der mit dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen territorial-politischen Realitäten war Ausdruck einer Stabilisierung des sowjetischen Herrschaftsbereichs im Osten Europas, eröffnete jedoch entspannungsorientierten Politikern im Osten Europas, Kompromisse mit westlichen Ländern zu suchen. Zugleich gaben die mit der Helsinki-Schlussakte getroffenen Vereinbarungen zu Menschenrechten und Grundfreiheiten oppositionellen Kräften in Osteuropa eine Berufungsgrundlage.

Revolutionen – wie das Ende des sowjetischen Staatssozialismus – unterbrechen die geschichtliche Kontinuität. „Die Hoffnungen, die sich mit den Geschichtsbrüchen verbinden, werden indessen nicht selten enttäuscht. Die Revolutionen von 1989-1991 machten hier keine Ausnahme. Die gewonnenen politischen und individuellen Freiheiten wurden anfangs durchweg begrüßt, aber die marktradikale kapitalistische Richtung und die sozialen Härten des Transformationsprozesses standen in einem Spannungsverhältnis mit den Zielen und der Bewegungsdynamik dieser revolutionär-demokratischen Volksbewegungen.“ Insbesondere die liberalen und postkommunistischen Parteien unterwarfen sich „der vermeintlich alternativlosen Logik des Transformationsprozesses“ und beförderten damit den späteren Aufstieg rechtspopulistischer Kräfte.

Der Band ist inhaltlich in drei größere Teile gegliedert, gefolgt von zwei Schlusstexten der Herausgeber. Im ersten Teil geht es um die Entspannungspolitik 1975-1989 und die inneren Umbrüche im Osten; im zweiten kommen überwiegend Autoren zu Wort, die als „Oppositionelle am Umbruch mitgewirkt haben“; im dritten und vierten geht es um den zweiten Geschichtsbruch und seine Folgen.

Im ersten Teil wird in sechs durchaus unterschiedlichen Texten der Versuch unternommen, die Entspannungspolitik sowie ihre Folgen und die inneren Umbrüche im Osten in ihrem wechselseitigen Zusammenhang „als Triebkräfte für die Beendigung des Kalten Krieges“ zu fassen. Gert Weisskirchen stellt noch einmal die historische Leistung der Brandtschen Entspannungspolitik dar. Die Anerkennung der Grenzen in Europa war Bedingung für Frieden in Europa. Die Verträge der BRD mit der Sowjetunion und Polen (1970), der DDR (1972) und der Tschechoslowakei (1973) bildeten zusammen mit dem Vierseitigen Abkommen über Berlin(-West) (1971) ein einheitliches Ganzes, das Helsinki möglich machte. Das Konzept „Wandel durch Annäherung“ war keines, das vordergründig auf Regime-Wechsel im Osten zielte, sondern es ging um die Schaffung von Vertrauen zwischen den Verantwortlichen beider Seiten als Basis für Vereinbarungen im Sinne von Frieden, Sicherheit und Abrüstung.

Die Helsinki-Schlussakte war aus Sicht der kommunistischen Führungen ein großer Erfolg. Zugleich hatten sie, so weiter Weisskirchen, „die Wirkungen der staatsfernen Bestimmungen der Abkommen unterschätzt oder nahmen an, sie unter ihrer strikten Kontrolle halten zu können“. Der tschechische Sozialdemokrat Vladimir Spidla schreibt in seinem Beitrag: „Man kann sagen, dass die kommunistischen Regime mit der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki den Weg für die Opposition freimachten, welche sie nicht mehr so brutal unterdrücken konnten, wie in früheren Zeiten. Der Helsinki-Prozess beendete im Wesentlichen die Entwicklungsphase des kommunistischen Systems als brutale Diktatur, und machte den Weg frei für die allmähliche Umwandlung des autoritären Systems in eine politisch inkohärente Mischung aus alten kommunistischen Konzepten, technokratischen Ideen und verschiedenen Formen der Opposition.“ Dieter Segert betont allerdings, dass der Westen den Wettbewerb vor allem auf dem Gebiet des Konsums der breiten Bevölkerung gewonnen hat. Zugleich waren in den osteuropäischen Ländern bereits in der Umbruchsphase national-populistische Strömungen entstanden. Deren Politiker führten zwar stets „die westlichen Werte im Munde“, beriefen sich jedoch zunehmend auf traditionelle Maßstäbe sowie einseitige Interpretationen der nationalen Geschichte und nationale Interessen. Argumente, die damals benutzt wurden, um der sowjetischen Vorherrschaft zu entweichen, tragen heute zur „Erosion der europäischen Integration“ der EU bei.

Der zweite Teil enthält Berichte zu den Umbrüchen in Polen, Tschechien, Lettland, Litauen und der DDR sowie zum Zerfall Jugoslawiens und der Sowjetunion.

Der dritte Abschnitt thematisiert „Nichteingelöste Hoffnungen nach 1989 und mögliche Wege hin zu einer Ordnung gemeinsamer Sicherheit“. Hier werden insbesondere drei Perspektiven problematisiert: die auf Russland, auf Polen und auf Deutschland. Gernot Erler versucht, den Tiefpunkt der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen zu erklären. Die politische Klasse in Moskau habe seit den 2000er Jahren dieses Verhältnis immer negativer eingeschätzt: das betraf die USA, für die Russland nie gleichwertiger Partner war, sodann die Osterweiterungen von NATO und EU, ferner die völkerrechtswidrigen Kriege im Kosovo und Irak. Das EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine wurde als Versuch gewertet, das Land unter westliche Kontrolle zu bringen, und mit der Annexion der Krim beantwortet. Die Auflösung des Imperiums sei aus russischer Sicht ein schwer erträgliches Trauma.

Polens geopolitische Lage – im Westen die Deutschen, im Osten die Russen – bewirkt, so Holger Politt, dass die NATO-Mitgliedschaft nicht nur im Hinblick auf Russland von Bedeutung ist, sondern zugleich ein Gegengewicht zur EU, in der Deutschland eine wesentliche Rolle spielt. Hans Misselwitz erinnert daran, dass der sowjetischen Führung im Februar 1990 eine Nicht-Ausdehnung der NATO versprochen wurde, und betont, dass dies vor allem ein Bruch des Versprechens vom „Geist der kooperativen Sicherheit“ sei.

In seinem Resumée schließt Weisskirchen: „Beide Teile Europas zwingen ihre historischen Erfahrungen dazu, sich ihrer politischen Verantwortung bewusst zu werden. Wenn wir am Ziel einer humanen Zukunft festhalten wollen, dann sollten der europäische Osten und der europäische Westen sich darauf verständigen, dass unser gemeinsamer Kontinent den Pfad neu betritt, der in den Helsinki-Prozessen Wege in eine bessere Zeit möglich gemacht hat.“

Brandt und Segert fordern, im Ukraine-Krieg müssten zuerst die Waffen schweigen. Dann gelte es, „selbstkritisch den Anteil der jeweiligen Staatenformation an der Zerstörung der Grundlagen einer europäischen Ordnung gemeinsamer Sicherheit öffentlich zu diskutieren“. Dazu gehöre die Bereitschaft, wie zu Zeiten Willy Brandts, „die Welt und ihre Konflikte mit den Augen der Gegenseite anzuschauen. Das dient nicht dazu, deren Sicht einfach zu übernehmen, sondern zu verstehen, wie sie denkt, empfindet und handelt. Nur so ist es möglich, sich aus einer Situation zu verabschieden, in der Feindbilder vorherrschen und der Gegenseite beinahe unbegrenzte expansionistische Absichten unterstellt werden.“ Ein dringend notwendiger, aber leider recht einsamer Ruf.

 

Peter Brandt / Dieter Segert / Gert Weisskirchen (Hrsg.): Doppelter Geschichtsbruch. Der Wandel in Osteuropa nach der Helsinki-Konferenz 1975 und die Zukunft der europäischen Sicherheit, Verlag J.H.W. Nachf., Bonn 2024, 576 Seiten, 38,00 Euro.