27. Jahrgang | Nummer 17 | 12. August 2024

Der lange Weg zum Krieg

von Hannes Herbst

 

Nur bei diesem Krieg wird so getan,

als hätte es keine Vorgeschichte gegeben.

 

Günter Verheugen

 

Natürlich kann man es so machen wie Alexander Dubowy regelmäßig in der ansonsten durchaus schätzenswerten Berliner Zeitung und nicht nur Russlands Präsidenten Putin dämonisieren, sondern zugleich „von der […] Mär angeblicher objektiver russischer Sicherheitsinteressen“ fabulieren, also quasi in Abrede stellen, dass es so etwas wie russische Sicherheitsinteressen überhaupt geben könnte.

Damit passt sich Dubowy ziemlich stromlinienförmig in das offizielle Narrativ (vor wenigen Jahren hieß das noch ganz einfach Erzählung) zum Ukraine-Krieg ein, wie es hierzulande von der Bundesregierung gepflegt wird, von weiteren Politikern der Ampelparteien, aber auch von der Unions-Opposition, von der ganz überwiegenden Mehrheit der Medien und von politischen Stiftungen sowie staatsnahen Vorfeldorganisationen wie etwa der sogenannten Rechercheplattform Correctiv.

Im monotonen Modus einer tibetanischen Gebetsmühle und in gleichschaltungsähnlicher Übereinstimmung vorgetragen lautet der Kern dieser Erzählung: Am 24. Februar 2022 hat der russische Diktator Putin die Ukraine überfallen – völlig anlasslos. Weshalb als Motiv imperialistische Eroberungsabsicht unterstellt werden müsse. Für den Fall eines Erfolges hätte der Usurpator die nächsten Opfer in russischer Nachbarschaft schon fest im Visier.

Daran, dass das Autorenpaar Günter Verheugen und Petra Erler diese Sicht der Dinge nicht teilt, lässt bereits der Titel ihres kürzlich erschienenen Buches keinen Zweifel: „Der lange Weg zum Krieg“. Zu ihren Beweggründen für diese gemeinsame Publikation äußerten sich beide gegenüber der Plattform Telepolis: „Ein wesentliches Motiv war, dass wir wieder in eine Diskussion kommen müssen in diesem Land, wie wir in Europa zusammenleben wollen. Mit Blick auf eine 30-jährige Eiszeit, einen permanenten kalten Krieg, der jederzeit in einen heißen umschlagen kann, oder doch mit einer Politik der Verständigung, die ihre erfolgreichen Wurzeln in der Vergangenheit hat.“ (Petra Erler) „Mein Hauptmotiv war, nicht hinzunehmen, dass in unserem Land eine Mauer des Schweigens errichtet wird. Ich habe es in meinem langen politischen Leben noch nicht erlebt, dass die öffentliche Meinung so einseitig gesteuert wird, wie das im Fall des Ukrainekrieges geschieht. Hier wird eine Erzählung verbreitet, die einfach nicht stimmt.“ (Günter Verheugen)

Zur historischen Wahrheit gehört, so Verheugen/Erler: „Russland startete unbestreitbar am 24. Februar 2024 einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Doch damit endet die historische Wahrheit nicht. Zu den Ereignissen und Entwicklungen, die im Sinne fataler Weichenstellungen und kontraproduktiver Tatsachenschaffungen vorausgegangen waren, zählen nicht nur nach Auffassung von Verheugen/Erler unter anderem folgende:

  • der Angriff der NATO auf Serbien im März 1999, ein „Testfall dafür, dass die russische Stimme gegenüber der NATO nichts zählte“;
  • die erste NATO-Osterweiterung, ebenfalls 1999 und gegen russischen Widerstand;
  • die Aufkündigung des ABM-Vertrages durch die USA, 2002;
  • die zweite NATO-Osterweiterung, 2004;
  • die Entscheidung des Bukarester NATO-Gipfels 2008: „Wir haben heute vereinbart, dass diese Länder [die Ukraine und Georgien – H.H.] der NATO beitreten werden.“

Verheugen/Erler dokumentieren weitere ähnlich gravierende Sachverhalte.

Vor diesem Hintergrund und als Fazit ihrer Analyse halten die beiden Autoren denen, die „mit nachgerade religiöser Hingabe“ trotzdem immer wieder behaupten, der Westen sei in der Vergangenheit gegenüber Moskau naiv und vertrauensselig gewesen respektive hätte eine viel zu freundliche Politik betrieben – manche greifen dabei gar zurück bis zur Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr – entgegen: Nicht die „Idee eines Konzeptes gemeinsamer Sicherheit [war] verfehlt […]. Das ist die falscheste Behauptung von allen. Wir sind nicht da, wo wir jetzt stehen, weil wir gemeinsame Sicherheit mit Russland schaffen wollten, sondern weil ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem, das im Zuge der deutschen Einigung als Option verabredet worden war, nicht verwirklicht wurde. Die Entspannung ist kein gescheitertes politisches Konzept. Gescheitert ist vielmehr eine Politik, die glaubt, auf Entspannung verzichten zu können und es notfalls auch auf einen Krieg ankommen zu lassen.“

Und den unbeirrbaren Bellizisten vom Schlage eines Roderich Kiesewetter (MdB-CDU) und eines Anton Hofreiter (MdB-Die Grünen) im Lande schreiben die Autoren ins Stammbuch: „Wenn das Ziel lautet, dass ein militärischer Sieg über Russland errungen werden soll oder wenigstens eine stete Auszehrung Russlands, bis es komplett am Boden liegt, dann ist damit der einzige Fall zum Ziel erhoben, bei dem die russische Nukleardoktrin den Griff zur ultimativen Waffe erlaubt.“

Den erlaubt die aktuelle russische Nukleardoktrin zwar noch in zwei weiteren Fällen, aber ansonsten ist die Warnung von Verheugen/Erler völlig zutreffend.

 

Günter Verheugen / Petra Erler: Der lange Weg zum Krieg – Russland, die Ukraine und der Westen: Eskalation statt Entspannung, Wilhelm Heyne Verlag, München 2024, 335 Seiten, 24,00 Euro.