Wo ist Benjamin Badhurst geblieben?

von Detlef Jena

Ihre Excellenz, Frau Annalena Baerbock, stammt aus dem royal verinnerlichten Hannover. Wenn sie in die weite Welt eilt und ihre Fernsicht von einer feministischen Friedensordnung unter den stählernen Flügeln der NATO mit missionarischem Eifer deutlich macht, identifiziert sie sich gerne als bürgerliche, grüne Brandenburgerin. Man weiß natürlich nicht, ob es daran liegt, dass ihre Kreuzzüge aus diesem Grund gelegentlich mit reisetechnischen Kapriolen behaftet sind. Brandenburg ist für Diplomaten auf jeden Fall eine gefährliche Region. In Brandenburg hat sich schon vor Zeiten einer der besonders mysteriösen Kriminalfälle in der Geschichte der europäischen Diplomatie ereignet: 1809 verschwand ein britischer Diplomat in der kleinen Stadt Perleberg und ward niemals wiedergesehen!

Seit April 1809 kämpften England und Österreich in der Fünften Koalition gegen Napoleon und die im Rheinbund vereinigten deutschen Staaten. Der Frieden von Schönbrunn beendete diese Kriegsrunde am 14. Oktober zugunsten Napoleons.

Am 25. November 1809 ist der Diplomat Benjamin Bathurst in Perleberg aufgetaucht. Er hatte angeblich im Auftrag seiner Regierung in Wien mit Österreichs Kaiser Franz I. über ein gemeinsames Vorgehen gegen Napoleon verhandelt. Da der junge Mann erst 25 Jahre alt war, sind Zweifel angebracht, ob er tatsächlich der qualifizierte Sachwalter einer derart heiklen Mission sein konnte. Ohnehin arbeitete der Krieg gegen ihn. Am 6. Juli 1809 schlug Napoleon die Österreicher bei Wagram und zwang sie dann im Oktober zum besagten Friedensvertrag. Napoleon mochte die Briten bekanntlich nicht besonders leiden und so musste Badhurst die Kaiserstadt verlassen.

Eilig hatte er es allerdings nicht. Die Abreise erfolgte erst Wochen nach dem Frieden von Schönbrunn. Er fuhr nachweislich in einer eigenen Kutsche nach Berlin, ohne durch irgendwelche technischen Pannen aufgehalten zu werden. Weit interessanter ist jedoch die Tatsache, dass er auf dieser Reise nur Staaten des von Napoleon diktierten Rheinbundes unbehelligt durchquerte, in denen die französische Geheimpolizei allgegenwärtig war. Zeitzeugen bestätigten jedoch offensichtlich wahrheitsgemäß, dass Badhurst  sich permanent bedroht und verfolgt fühlte. Selbstverständlich!

Von Berlin aus fuhr er, versehen mit preußischen Reisepässen, als Kaufmann Koch mit zwei Begleitern in Richtung Hamburg. In den Mittagsstunden des 25. November erreichte er also Perleberg, das Ackerbürgerstädtchen in der Prignitz. Nur der steinerne Roland auf dem Marktplatz erinnerte an die einst glänzenden Geschäfte in der Hansestadt. Nun jedoch ein tristes Bild! Über den realen Ablauf der Ereignisse an diesem trüben Novembertag existieren die unterschiedlichsten und einander oft genug widersprechende Aussagen. Fest steht, dass Badhurst bis zum Abend in der Poststation in hektischer Folge mehrfach neue Pferde ein- und wieder ausspannen ließ. Im Gasthaus „Zum weißen Schwan“ hat er hastig gegessen. Vom Militärkommandanten Friedrich von Klitzing, einem frustrierten jungen Offizier, den man in Perleberg gegen seinen Willen entsorgt hatte, erbat sich Badhurst eine bewaffnete Eskorte. Er fühlte sich verfolgt. Doch von wem? Der Kommandant stellte ihm zwei Kürassiere zur Seite, die Bathurst gegen 19 Uhr wieder wegschickte. Er ließ erneut einspannen, lief erregt umher und prüfte immer wieder seine Pistolen. Gegen 21 Uhr, der Platz vor der Posthalterei wurde nur dürftig erhellt, nahm er die Kutsche noch einmal akribisch in Augenschein, trat hinter den Pferden unvermittelt in die finstere Nacht hinaus und verschwand, ohne dass einer der Umstehenden irgendein Geräusch, eine besondere Bewegung oder eine andere Ungewöhnlichkeit bemerkt hätte. Die Nacht von Perleberg verschluckte den jungen englischen Diplomaten und niemand hat ihn jemals in der Prignitz wiedergesehen. In England ist er nie angekommen.

Eine erste Überprüfung ergab, dass sein Pelz fehlte, den er allerdings nicht getragen hatte, als man ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Nun, der Dieb wurde schnell ermittelt – unwichtig. Die preußisch gründlichen Ermittlungen liefen wie in Friedenszeiten auf vollen Touren, nur noch ein wenig akkurater. Man fürchtete diplomatische Querelen mit England inmitten des Krieges. Doch erst zwei Wochen später fand man in einem nahen Waldstück ein von zwei Einschüssen durchlöchertes Beinkleid, das Bathurst sofort und eindeutig zugeordnet wurde. Ein hübscher Fahndungserfolg – mit einem Makel. Am Tatabend hatte man keine Schüsse gehört. Einschusslöcher in der Hose waren auch keine besonders überzeugenden Indizien für ein Kapitalverbrechen. Vor allem jedoch, die Hose war so demonstrativ auf einem Waldweg abgelegt worden, dass sie offensichtlich gefunden werden sollte. Außerdem hatte man den Weg bereits mehrfach abgesucht und dabei nichts gefunden. In demselben Waldstück fand man erst einhundert Jahre später ein menschliches Skelett, das jedoch mit den damaligen Analysemitteln nicht identifiziert oder gar als sterblicher Überrest des geheimnisvollen Diplomaten erkannt werden konnte.

Soweit – so rätselhaft. Hier liegt ein fantastischer Nährboden für Verschwörungstheorien mancherlei Art vor, die mit lustvoll fließendem Speichel über die Jahrhunderte hinweg Bestand besitzen. Das Verschwinden des vorher quasi namenlosen Badhurst rief in der Tat die wildesten Spekulationen hervor. Es ging um einen Fall, der direkt in den Europa erschütternden Krieg gegen Napoleon hineinragte. Der preußische König Friedrich Wilhelm III. wollte 1810 in der ohnehin demütigenden Lage seines zerstückelten Reichs keine zusätzlichen Konflikte mit Napoleon. Er neigte darum zu der Vermutung, Badhurst hätte in einem Anfall von Verfolgungswahn Selbstmord begangen. Trotzdem ließ der König von seinen militärischen, zivilen und juristischen Beamten gründlich in alle Richtungen ermitteln. Ein handfestes Ergebnis gar mit französischem Hintergrund kam dabei nicht heraus. Merkwürdig. Die allgemeine Volksmeinung in deutschen Landen lief doch darauf hinaus, dass Badhust vom französischen Geheimdienst entführt und ermordet worden ist. Absolut! Napoleon hatte 1804 auch den Herzog von Enghien entführen und erschießen lassen!

Doch welches Motiv sollte Napoleon für den Tod des Briten besessen haben? In diesen Kriegsjahren reisten Diplomaten von ganz anderem politischen Kaliber kreuz und quer durch Feind- und Freundesland. Da war Badhurst ein Leichtgewicht. Seine mutmaßliche Mission in Wien war ohnehin erledigt. Von ihm ging keinerlei Bedrohung für Napoleons Herrschaft aus. Obendrein Perleberg zum Tatort zu wählen, darauf konnten nur besonders schlichte Gemüter kommen.

Trotz aller Nachforschungen durch Behörden und auch durch Familienangehörige über Jahrzehnte hinweg: Bathurst bleibt auf rätselhafte Weise verschwunden. Das verspricht auch Gewinn! 1935 hat die UFA aus dem Sujet den Spielfilm „Der höhere Befehl“ gemacht, in dem sogar die einstige Diva Lil Dagover mitwirkte.

Ein Herr Josef Schmidt aus Sindelfingen hat ganze Kästen mit Dokumenten zusammengetragen. Er wollte ein Buch schreiben, ist darüber aber gestorben. Vor seinem Tode hat er das Material der Stadt Perleberg überlassen und die vermarktet die Dokumente nun zeitgemäß, u.a. 2009 in einer Ausstellung. Es bleibt dem interessierten Leser letztlich nur eine kleine unscheinbare Broschüre, 2004 herausgegeben, „Das Geheimnis von Perleberg“ – und die eigene Phantasie.

Warum soll man sich überhaupt noch angesichts des überwuchernden Kriegsgeschehens damals und heute mit dem diplomatischen Eklat von 1809 beschäftigen? Noch dazu, weil das Fernsehen mit seinem Bildungsauftrag für die gutgläubigen Menschen durch die tagtägliche Präsentation gewaltsam zu Tode gekommener Bürger lebhaft an der eigenen Nichtigkeit arbeitet. Ach doch, es gibt zwei Gründe.

Das kleine Perleberg sieht in dem Casus eine verzweifelte Chance zur Existenzwahrung in der freiheitlichen Marktwirtschaft.

Und vor allem: sind nicht vielleicht bereits 1809 die Russen bei der Entführung lebhaft mit im Spiel gewesen? War der Brite ein Doppelagent? Sehr merkwürdig, dass bislang noch kein politisch lenkender Kopf in Deutschland dafür mittels Gutachten handgreifliche Mutmaßungen an die Öffentlichkeit getragen hat. Da hätte Frau Baerbock doch wirklich eine hübsche Aufgabe – zumal sie dem Volk gerade ganz offenherzig und vertrauensvoll mitgeteilt hat, künftig keine Bundeskanzlerin werden zu wollen. Da könnte sie in Brandenburg wertvolle Arbeit leisten und endlich die Russland-Intrige um den abgängigen Badhurst entschleiern.

Auch im Trivialen besitzt die Kunst eine solide Heimstatt.