Matthias Heine und der Dudenverlag (seit 2022 unter dem Dach des Cornelsen Verlages) haben es schon wieder getan und erneut ein themenbezogenes Wörterbuch veröffentlicht. Nach seinen Büchern „Verbrannte Wörter. Wo wir noch reden wie die Nazis – und wo nicht“ (2019), „Krass. 500 Jahre deutsche Jugendsprache“ (2021) und „Kaputte Wörter? Vom Umgang mit heikler Sprache“ (2022) erschien nun als sein jüngstes Buch „Kluge Wörter. Wie wir den Bildungswortschatz nutzen können und wo seine Tücken liegen“. Über „Kaputte Wörter?“ hatten wir bereits im Blättchen (23/2022) berichtet.
Eine kurze aufzählende Bemerkung zum Korpus des Buches über die „klugen“ Wörter: Unter 161 erläuterten Einträgen versammelt der Autor 151 Stichwörter, dazu fünf geflügelte Worte (ab ovo, avant la lettre, Büchse der Pandora, par ordre du mufti, va banque), vier Suffixe (-ant, -är, -ieren, -lateral) und ein Präfix (dis-). Drei der Stichwörter sind nicht flektierbar (qua, respektive, sic!).
Zwar sind die Lemmata alphabetisch geordnet, aber im eigentlichen, engeren Sinne ist es kein Wörterbuch. Es ist eher eine geordnete lexikografische Sammlung wortbiografischer Miniaturen. Ein Glossar sozusagen, nicht als Anhang zu einem Text, sondern als deren Hauptteil.
Für mich ergibt sich gleich beim Lesen des Buchtitels die Frage: Können Wörter wirklich „klug“ sein? Wenn ja, wie verhält es sich dann mit dem Antonym zu „klug“? Können Wörter auch „dumm“ oder, neutraler formuliert, „unklug“ sein oder gar etwas zwischen diesen Gegensätzen? Und ist beim sinnvollen Gebrauch von Sprache immer Verstand nötig?
In seinem kurzen Vorwort, das Heine mit der Überschrift „Schwere Wörter – mots savants – inkpot words“ versieht, beschreibt der Autor vornehmlich, was er unter Bildungssprache versteht. „Bildungssprache ist nicht ausschließlich durch die Verwendung bestimmter Wörter gekennzeichnet. Sie ist genauso geprägt von komplexer Satzstruktur, Nominalphrasen, Verbalabstrakta, verstärktem Gebrauch des Passivs und korrekter Beherrschung der Konjunktivformen zur bewussten Markierung von Sprachebenen. Das Wesen der Bildungssprache ist Schriftnähe; […]“ Das markanteste Kennzeichen der Bildungssprache sieht Heine in der Verwendung eines bestimmten Vokabulars, des Bildungswortschatzes. Dieser wiederum entstamme etymologisch vornehmlich „dem sogenannten Eurolatein“, einem Repertoire lateinischer Wörter und Wortbildungselemente, die auch altgriechische Ursprünge enthielten. Neben dem Griechischen und Lateinischen war später das Französische eine bedeutende Quelle für den Bildungswortschatz. „Ob dieser Status in der Gegenwart durch das Englische eingenommen wird, scheint mir zweifelhaft“, schreibt Heine, dem ist aus meiner Sicht zuzustimmen.
Diskutiert wird der Unterschied zwischen dem Vokabular des gehobenem Sprachgebrauchs und dem des Bildungswortschatzes. Diese Differenzierung wird in den verschiedenen „großen“ Wörterbüchern wie dem „Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache“, den diversen Duden-Wörterbüchern, dem „Deutschen Wörterbuch“ (Jakob und Wilhelm Grimm) oder dem eingestellten „Wahrig“-Wörterbuch nicht immer gleich gesehen.
Für Heine gehören „gehobene“ Wörter überwiegend zum deutschen Stammwortschatz, während „bildungssprachliche“ Wörter als Fremdwörter „zumeist auf die älteren Bildungssprachen Griechisch, Latein und Französisch zurückgehen.“ Davon lässt er sich bei der Auswahl für sein Buch leiten, zudem bevorzugt er erklärungsbedürftige Wörter gegenüber allgemein bekannten.
So haben es gleich vier Geschwister der griechischen Mythologie ins Buch geschafft: Chimäre, Hydra, Sphinx und Zerberus. Dazu gesellt sich die „eher unbekannte Göttergestalt“ Kairos. Deren „bildungssprachlicher Geheimtipp“ Heines vermutlich bald nicht mehr gilt, seitdem Jenny Erpenbeck mit ihrem ausgezeichneten Roman „Kairos“ reüssiert.
Auch im Blättchen werden die „klugen Wörter“ von den Autoren fleißig genutzt. Allein ein flüchtiger Blick ins vergangene Heft belegt unvollzählig: Couleur, Diskurs, Dissens, Narrativ, oktroyiert, Paradigma, postulieren, sic!, ubiquitär.
Natürlich ist eine Auswahl für ein Buch immer subjektiv und im Einzelnen diskutierbar, das betrifft sowohl die im Buch aufgenommenen Lexeme als auch die Desiderata. Der Verfasser dieser Besprechung kann zum Beispiel auf solche unsäglichen Modewörter wie „Narrativ“ oder (das nicht aufgeführte) „toxisch“ gut verzichten, die für ihn kein Bestandteil des Bildungswortschatzes mehr sind, sondern als angeberische Allerweltswörter Bildung eher vortäuschen als tatsächlich markieren. Seitdem die Narratologie die ursprüngliche Literaturtheorie verlassen hat, erobert das seit wenigen Jahren inflationäre Narrativ die deutsche Blätterwelt und Politikersprache verbunden mit einem schwammigen Begriffsgebrauch. Beim Lesen des Stichworts „aufoktroyieren“ bäumte sich sofort mein inneres Sprachgefühl. Ein „weißer Schimmel“ wie „Rückerstattung“ oder „Fußpedal“, als Kinder hätten wir gesagt „doppelt gemoppelt“, heute sagen wir Pleonasmus. Heine zeigt, dass ausgerechnet Karl Marx im „Kapital“ stark dazu beitrug das Wort durchzusetzen. Trotzdem – an Stelle des heute abundanten „aufokroyieren“ reicht das nicht redundante „oktroyieren“ völlig aus.
Gerhard Strauß und Gisela Zifonun haben im Umkreis des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim über „Die Semantik schwerer Wörter im Deutschen“ geforscht und veröffentlicht. Heine bezieht sich auch auf deren Forschungen. Er favorisiert aber den französischen Begriff „mots savants“ und leitet von der Übersetzung für sich den Buchtitel „Kluge Wörter“ ab. Kluge Wörter sind vermutlich verkaufsfördernder als schwere Wörter, mag man denken. Die deutsche Übersetzung der englischen Bezeichnung „inkpot words“ gefällt dem Rezensenten jedoch am besten, weil sie nicht moralisierend wirkt und auf die überwiegend schriftliche Ebene des Bildungswortschatzes verweist.
Die Miniaturen zu den einzelnen Lemmata lesen sich durchgängig interessant und angenehm. Die Umfänge schwanken zwischen knapp einer und bis zu drei Druckseiten. Regelmäßig wird die Herkunft und Gebrauchsgeschichte der Begriffe beleuchtet und werden Nuancen und Bedeutungserweiterungen oder semantische Einengungen gezeigt. Immer wieder illustrieren Sprachbelege von Martin Luther, Karl Marx oder Thomas Mann wie später Einflüsse von Martin Heidegger und Jürgen Habermas die Erläuterungen Heines. Aktuelle Referenzen im Wortgebrauch werden anhand von Zeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung und Spiegel sowie Bundestagsdebatten gegeben. In Zeiten der digitalen Möglichkeiten findet jeder Nutzer leicht vielfältige zusätzliche Informationen über den historischen und aktuellen Wortgebrauch des gesamten Wortschatzes im Textarchiv des „Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache“, das von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften verantwortet wird und sehr zu empfehlen ist.
Neben all dem Gesagten geht der Verfasser dieser Zeilen symbolisch eine Wette ein, dass jeder Leser Begriffe entdeckt, die er noch nicht kannte, geschweige denn nutzen konnte.
Matthias Heine: Kluge Wörter. Wie wir den Bildungswortschatz nutzen können – und wo seine Tücken liegen. Dudenverlag, Berlin 2024, 285 Seiten, 24,00 Euro.
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